Gibt es digitalen Stress? Und wenn ja, wie viele?

Wienke Wannagat, Tamara Scholze & Gerhild Nieding

In diesem Text soll nicht in Frage gestellt werden, dass die Nutzung digitaler Technologien und Medien Stress verursachen kann. Vielmehr geht es darum, in der Fachliteratur existierende Beschreibungen des Phänomens „digitaler Stress“ vor dem Hintergrund aktueller Daten von Studierenden zu diskutieren. Wir möchten dabei sowohl die Ergebnisse einer unserer Studien vorstellen als auch einen kurzen Einblick in die Methode geben, die diesen Ergebnissen zugrunde liegt.

Stress entsteht, wenn die Anforderungen einer Situation die für eine Bewältigung dieser Anforderungen zur Verfügung stehenden Ressourcen übersteigen (Lazarus & Folkman, 1984). Bei digitalem Stress entstehen die Anforderungen durch die Nutzung digitaler Technologien und Medien (z.B. Ragu-Nathan et al., 2008). Unter den Begriff der digitalen Technologien und Medien fallen Endgeräten (z.B. Smartphone oder Laptop), Plattformen (z.B. soziale Netzwerke) und Dienste (z.B. E-Mail, Instant-Messaging oder digitale Sprachassistenz). Entsprechend lassen sich unter der knappen Definition von digitalem Stress eine Vielzahl potentiell auslösender Situationen, sog. Stressoren, subsummieren. Beispielsweise kann die Omnipräsenz digitaler Technologien und Medien als stressig empfunden werden, wenn dadurch das Gefühl entsteht, dauerhaft erreichbar sein zu müssen. Weitere Stressoren können etwa eine hohe Komplexität digitaler Technologien und Medien, die zu Bedienfehlern führt, eine Unzuverlässigkeit von Technologien (z.B. Software-Abstürze), Unterbrechungen von Tätigkeiten durch digitale Benachrichtigungen oder auch die Nicht-Verfügbarkeit von Technologien und Medien (z.B. Handy vergessen) sein. Auch persönliche Angriffe wie zum Beispiel Cybermobbing oder eine schwer nachzuvollziehende Zugänglichkeit privater Information für Fremde im Internet können Stress auslösen. Diese wenigen Beispiele zeigen, wie heterogen mögliche digitale Stressoren sind.

Wir haben uns gefragt, ob sich all die genannten Stressoren tatsächlich unter einem einheitlichen Konzept von digitalem Stress zusammenzufassen lassen. Auf einer rein inhaltlichen Ebene kann man diese Frage recht eindeutig mit „Ja“ beantworten: All diesen Stressoren ist gemein, dass sie im Zusammenhang mit digitalen Technologien und Medien auftreten.

Von der Theorie zum Datensatz

Unsere aktuelle Studie betrachtet das Phänomen „digitaler Stress“ aus einer psychometrischen Perspektive, das heißt sie untersucht, wie sich digitaler Stress messen und strukturieren lässt. Die Studie verfolgt somit den Ansatz, digitalen Stress auf Basis der Einschätzungen des Stresspotentials von einer Vielzahl potentieller Stressoren, auf einer Skala von 0 bis 5, zu messen und Muster innerhalb dieser Einschätzungen zu identifizieren. Ausgangspunkt waren zunächst in der Forschungsliteratur beschriebene digitale Stressoren. Die Stressoren wurden jeweils in mehrere konkrete Situationsbeschreibungen (Items) übersetzt. Beispielsweise wurde der in der Literatur als „Unzuverlässigkeit“ beschriebene Stressor unter anderem mit dem Item „Es stresst mich, wenn ich Fehlermeldungen erhalte, wenn ich etwas mit sozialen Netzwerken mache.“ erfasst. Zusätzlich haben wir darauf geachtet, dass die Items die Lebens- und Alltagsrealität wiedergeben und nicht auf die Perspektive von beispielsweise ausschließlich Arbeitnehmer*innen beschränkt sind. Den so entstandenen Fragebogen haben insgesamt über 400 Studierende ausgefüllt.

Vom Datensatz zurück zur Theorie

Mit etwa der Hälfte des Datensatzes haben wir zunächst berechnet, wie sehr die Einschätzungen zu jedem Item hinsichtlich des Stresspotentials der darin beschriebenen Situation mit der entsprechenden Einschätzung zu jeweils jedem anderen Item übereinstimmt (korreliert). Basierend darauf haben wir mit einer sog. explorativen Faktorenanalyse ein Muster gesucht, also nach Gruppen von Items, die untereinander hoch korrelieren und gleichzeitig gering mit allen anderen Items zusammenhängen. Aus der explorativen Faktorenanalyse gingen sechs Gruppen von Items (sog. Faktoren) hervor. Das gefundene Muster konnten wir mit der zweiten Hälfte des Datensatzes mit einem etwas anderen statistischen Verfahren (konfirmatorische Faktorenanalyse) bestätigen und ausdifferenzieren.

Die in diesen zwei Analyseschritten identifizierten Faktoren lassen sich auf inhaltlicher Ebene beschreiben und deuten somit auf sieben potentiell stressauslösende Szenarien im Zusammenhang mit digitalen Technologien und Medien (bei Studierenden) hin:

  1. Stress dadurch, dass andere bei geselligen Anlässen ständig digitale Technologien und Medien nutzen
  2. Stress durch eine wahrgenommene Fremdbestimmung des eigenen Alltags durch digitale Technologien und Medien und suchtähnliches Nutzungsverhalten
  3. Stress, weil andere Menschen durch digitale Technologien und Medien private Informationen erfahren könnten
  4. Stress durch über digitale Technologien und Medien vermittelte Hänseleien, Beleidigungen oder Bedrohungen
  5. Stress durch eine Bedrohung des Selbstkonzepts, weil andere (scheinbar) mehr über (die Bedienung) digitale(r) Technologien und Medien wissen als man selbst
  6. Stress durch eine unzuverlässige Funktionsweise digitaler Technologien und Medien oder eigene Bedienungsfehler
  7. Stress dadurch, dass nicht alle Personen innerhalb des eigenen Umfelds die gleichen digitalen Kommunikationswege nutzen möchten oder können

Doch lassen sich diese Stressoren tatsächlich unter dem Konzept „digitaler Stress“ zusammenfassen? Dazu müssten die sieben Faktoren so hoch miteinander zusammenhängen, dass sich diese wiederum auf einer zweiten Ebene durch einen einzigen Faktor abbilden ließen.

Die Daten lassen nicht auf ein einheitliches Konzept „digitaler Stress“ schließen: Statt auf einen übergeordneten Faktor weist das Zusammenhangsmuster der Faktoren untereinander auf zwei übergeordnete Faktoren hin. Der erste enthält die Information der ersten drei auf der ersten Ebene identifizierten Faktoren und könnte zusammenfassend beschrieben werden als Stress bedingt durch eine empfundene Fremdbestimmung durch digitale Technologien und Medien. Der zweite übergeordnete Faktor enthält die Information der übrigen vier Faktoren und könnte somit zusammengefasst werden als Stress der bedingt ist durch eine Bedrohung der eigenen Person, des Selbstkonzepts, der Aufgabenerfüllung und der Kommunikationsbedürfnisse. Insgesamt bedeutet dieses Ergebnismuster also, dass Personen, die Stress durch Fremdbestimmung im Zusammenhang mit digitalen Technologien empfinden nicht gleichzeitig auch Stress durch eine Bedrohung persönlicher Bedürfnisse durch digitale Technologien empfinden. Es handelt sich also um zwei eher unabhängige Phänomene.

Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?

Die Ergebnisse haben Implikationen für auf digitalen Stress abzielende Präventions- und Interventionsansätze. Diese müssen nicht zwangsläufig die gesamte Bandbreite an digitalen Stressoren abdecken, sondern sollten, wie im Rahmen der meisten Ansätze ohnehin angestrebt, gezielt und somit effizient an für bestimmte Personen(gruppen) besonders relevanten Stressauslösern ansetzen.

Bitte zitieren als: Wannagat, Wienke; Scholze, Tamara; Nieding, Gerhild (2021). Gibt es digitalen Stress? Und wenn ja, wie viele? 21.12.2021. Beitragsbild von Pixabay: https://pixabay.com/de/illustrations/k%c3%bcnstliche-intelligenz-gehirn-hirn-4550606/ Online verfügbar unter: https://scilogs.spektrum.de/gesund-digital-leben/?p=766/

Zitierte Literatur:

Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. Springer.

Ragu-Nathan, T. S., Tarafdar, M., Ragu-Nathan, B. S., & Tu, Q. (2008). The consequences of technostress for end users in organizations: Conceptual development and empirical validation. Information Systems Research, 19(4), 417–433. https://doi.org/10.1287/isre.1070.0165

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Veröffentlicht von

Tamara Scholze ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Entwicklungspsychologie der Universität Würzburg. Sie forscht und bloggt zum Thema „Digitaler Stress bei Kindern und Jugendlichen“ im Rahmen des bayerischen Verbundprojekts „Gesunder Umgang mit digitalen Technologien und Medien“ (ForDigitHealth).

4 Kommentare

  1. Heutige digitale Medien sind viel unmittelbarer in unseren Alltag eingebunden als die der letzten Generation. Früher fuhr man zuerst den Desktopprozessor hoch, bevor mam loslegen konnte. Heute zieht man das Smartphone aus der Tasche oder man spricht direkt mit Alexa. Selber besitze ich keinen Fernseher mehr, sondern benutze dafür das iPad – und das hab ich immer dabei. Beim Aufwachen, beim Kochen, im Zug, auf dem Fahrrad (dann im Rucksack). Irgendwann kommt das iGlass, welches Informationen direkt ins Gesichtsfeld einblendet. Mir etwa, wenn ich eine Pflanze am Wegrand anschaue, mitteilt, wie sie heisst oder mir den Weg zurück zum parkierten Fahrzeug einblendet.
    Der übernächste und vielleicht letzte Schritt wäre dann die Verschmelzung des eigenen Ich mit dem Medium. Wo die eigenen Gedanken kaum mehr zu unterschieden sind von den Informationen, die mir immer gerade zur rechten Zeit wie aus dem Nichts zugespielt werden. Wo das mit mir verbundene Gerät etwa spürt, dass ich mich gerade an den Besuch beim Freund gestern erinnere und es mir vorschlägt ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Und das so, dass es mir nicht mehr wie ein von aussen kommender Vorschlag erscheint, sondern wie mein eigener Gedanke. Die Elektronik also als Verlängerung des eigenen Selbst.

    Wird man dann immer noch digitalen Stress erleben? Oder wird das dann wenn schon Stress mit sich selbst sein?

    • Lieber Herr Holzherr,
      vielen Dank fürs Teilen Ihrer Überlegungen! Die Forschung sollte und wird natürlich auf die weiteren technischen Entwicklungen, die Sie ansprechen, eingehen und sich auch zunehmend mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit digitaler Stress ein spezifisches, abgrenzbares Phänomen ist.
      Herzliche Grüße!

  2. Eine sehr ausführliche Übersicht . Zusätzlich lästig ist die ständige Zustimmung zu Cookies als Voraussetzung , dass man eine Seite nutzen kann.
    Oder man muss den allgemeinen Geschäftsbedingungen zustimmen, bevor man eine Seite nutzen kann. Bei einer Überprüfung wurde festgestellt, dass die Geschäftsbedingungen 6000 Seiten lang waren.
    Ich würde diese Tatsachen als bewusste Irreführung der User sehen und auch als Entrechtung der User. Also Stress durch Benachteiligung.

  3. Vielen Dank! Ihre Erfahrungen mit Cookies und Geschäftsbedingungen liefern uns wertvolle Einblicke, die als konkrete Situationsbeschreibungen, also Beispiele für mögliche (digitale) Stressoren, in zukünftige Erhebungen mit einfließen können.

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