Alle Dinge fallen gleich schnell – muss das so sein?
Tagebücher der Wissenschaft

Auch wenn es vielleicht so klingt: In diesem Artikel geht es mal nicht um die Relativitätstheorie, sondern um sehr grundlegende Physik und Logik.
Disclaimer: Ich bin absolut kein Experte für Wissenschaftsgeschichte und geben die Dinge so wieder, wie ich sie mal gelesen habe; falls hier irgendwas falsch ist, merkt das gern in den Kommentaren an.
Wenn ihr euch mit Physikgeschichte ein wenig auskennt, dann wisst ihr, dass es Galilei war, der als erster klar gesagt hat, dass alle Dinge gleich schnell fallen. Angeblich hat er Kugeln unterschiedlicher Masse vom Schiefen Turm von Pisa heruntergeworfen, um das zu testen (das ist aber sehr umstritten), aber er hat auch folgendes Gedankenexperiment angestellt (zitiert nach dieser Seite):
Nehmen wir an es gibt zwei Körper des gleichen Materials, der größere ist A, der kleinere ist B.
Nehmen wir – falls möglich – wie von unserem Gegner behauptet, an, dass A schneller fällt als B. Wir haben dann also zwei Körper, von denen sich einer schneller bewegt.
Dann würde sich eine Vereinigung beider Teile, unserer Annahme entsprechend, langsamer bewegen als derjenige Teil, der sich allein schneller bewegt als der andere (Anmerkung: Körper B hemmt A). Wenn also A und B vereint werden, würde die Vereinigung sich langsamer als A allein bewegen. . . .
Da aber andererseits die Vereinigung von A und B schwerer ist als A alleine müsste dieser “Kombikörper” nach Aristoteles noch schneller als A fallen. Somit tritt ein Widerspruch auf, der die Theorie des Aristoteles in Frage stellt.
Ich erinnere mich, dass ich das irgendwann im Physikstudium zum ersten mal gehört habe und damals sehr überzeugend fand. Aber irgendwie war mir trotzdem immer unbehaglich bei diesem Gedankenexperiment, irgendetwas stimmt an dem Argument nicht (vielleicht seid ihr schlauer als ich und seht es sofort). Aktuell lese ich gerade D. Dennetts neues Buch “Intuition Pumps” (bisher ist mein Eindruck ziemlich durchwachsen, das Buch hat gute Stellen, aber auch einige extrem schwache und schlampige Argumente), wo er das Argument ebenfalls als Beispiel für ein gutes Gedankenexperiment bringt, und so habe ich nochmal drüber nachgedacht und mir fiel auf, wo das Problem liegt. (Dachte ich. Beim längeren Nachdenken habe ich dann gemerkt, dass es noch komplizierter ist als ich ursprünglich annahm, dazu komme ich am Ende…)
Zunächst mal: Waren den alle Leute vor Galilei zu dumm, um sich dieses Argument zu überlegen? Aristoteles zum Beispiel war ja auch nicht gerade auf den Kopf gefallen (und auch wenn er heute immer gern als Beispiel für eine zu simple, quasi naive Weltanschauung herhalten muss, hat er sich mit den Mitteln, die er hatte, ziemlich schlaue Gedanken gemacht und sinnvolle Erklärungsmodelle gefunden), hat der denn nie darüber nachgedacht? Und wieso haben dann Leute wie Eötvös Ende des 19. Jahrhunderts Experimente gemacht, um das zu überprüfen, wenn es doch logisch zwingend ist?
Tatsächlich kann man kinderleicht zeigen, dass in dem Argument, so wie es oben zitiert ist, eine Menge unausgesprochener Annahmen drinstecken: Nehmt einfach eine Feder und einen Hammer (und zwar nicht auf dem Mond, wo sie tatsächlich gleich schnell fallen [oder auch nicht, siehe unten], sondern auf der guten alten Erde) und lasst sie fallen. Fallen sie gleich schnell? Natürlich nicht.
“Ja, aber das liegt doch am Luftwiderstand” werdet ihr jetzt sagen. Sicher. Aber offensichtlich zeigt dieses sehr simple Argument, dass es eben nicht logisch zwingend ist, dass alle Dinge gleich schnell fallen, denn wenn es das wäre, dann würde der Hammer nicht zuerst aufprallen.
Und was passiert, wenn wir die Feder mit dem Hammer zusammenbinden? Dann fallen beide, obwohl sie schwerer sind als jeder einzelne, vermutlich etwas langsamer als der Hammer allein (weil die Feder für mehr Luftwiderstand sorgt).
Wenn der Luftwiderstand (oder der Auftrieb im Wasser) ins Spiel kommen, dann spielen also auch noch die Form und das Volumen der Masse eine Rolle, und sobald das so ist, müssen auch nicht mehr alle Dinge gleich schnell fallen.
Wenn der Luftwiderstand die Bewegung sogar dominiert (und das ist letztlich in Aristoteles Sicht der Dinge relevant), dann fallen schwere Objekte sogar tatsächlich schneller als leichte, wie man beispielsweise bei Regentropfen beobachten kann . Ich spekuliere mal, dass Aristoteles (der ja beobachtet hat, aber keine Experimente gemacht hat) das durchaus beobachtet haben könnte. Jedenfalls hat er angenommen, dass schwerere Körper schneller fallen als leichtere, wenn sie aus demselben Material sind. Genau diese Annahme war es ja auch, um die es Galilei ging: Eine größere Masse allein kann nicht dafür sorgen, dass ein Objekt schneller fällt.
Betrachten wir, um das Ganze klarer zu machen, folgende Situation: Nehmen wir an, es gäbe keine Schwerkraft, aber alle Materie wäre sehr schwach elektrisch (z.B. negativ) geladen und die Erde entgegengesetzt (also positiv). Dann würden alle Körper entsprechend ihre Ladung von der Erde angezogen werden, wie schnell ein Körper fällt, würde dann von dem Verhältnis seiner Ladung (die die Anziehungskraft regelt) und seiner Masse (die die Trägheit bestimmt) festgelegt werden. Wäre das Verhältnis von Ladung und Masse für alle Körper gleich, dann würden auch alle gleich schnell fallen, aber das muss ja nicht so sein. Wäre das Verhältnis ganz leicht unterschiedlich, dann gäbe es eben leichte Abweichungen in der Fallgeschwindigkeit.
Letztlich ist das auch das, was wir in der Physik als Situation betrachten müssen: Die Trägheit des Körpers ist durch die träge Masse geregelt, die Anziehungskraft durch die schwere Masse. Dass beide gleich sind, ist eine experimentelle Erfahrung (und ein Kernpunkt der Allgemeinen Relativitätstheorie), und das ist letztlich auch die Essenz von Galileis logischem Argument: Es nimmt an, dass die Eigenschaften des Körpers durch einen einzigen Parameter bestimmt werden (die Masse) und dass Effekte wie der Luftwiderstand keine Rolle spielen. Bei Aristoteles’ Physik war die Situation eine andere, weil er das Konzept der Trägheit so nicht kannte – er nahm ja an, dass ein Ruhezustand für alle Körper der “Normalzustand” ist und dass man, um etwas mit konstanter Geschwindigkeit zu bewegen, permanent eine Kraft ausüben muss. (In einer Welt, in der die Reibung stark ist, ist das auch ziemlich plausibel, auch wenn Aristoteles ein paar argumentative Klimmzüge machen musste um zu erklären, warum beispielsweise ein geschossener Pfeil nicht sofort zur Ruhe kommt – er hat das auf Luftwirbel zurückgeführt, die den Pfeil vorwärts treiben.)
Ist das Argument von Galilei unter dieser Annahme (die einzigen bestimmenden Parameter sind träge und schwere Masse und diese beiden sind gleich) zwingend richtig? Das habe ich beim Schreiben dieses Artikels für eine Weile geglaubt, aber es ist nicht wirklich korrekt, sondern funktioniert nur, wenn wir die Situation idealisieren. Betrachten wir die Situation noch einmal ganz genau: Wir halten einen Hammer und ein paar Meter entfernt eine Feder fest und lassen sie dann los, und wir machen das ganze im Vakuum. Fallen beide wirklich gleich schnell?
Hammer und Feder haben selbst eine Masse und ziehen damit auch die Materie der Erde an. Die Teilchen der Erde direkt unter dem Hammer werden also ihrerseits eine Winzigkeit zum Hammer hingezogen, unter der Feder ist der Effekt, weil die Feder deutlich leichter ist, schwächer.
Damit ist jetzt der Abstand zwischen Hammer und Erde im Mittel eine Winzigkeit kleiner geworden, so dass die Anziehungskraft der Erde entsprechend größer wird. Und damit fällt dann der Hammer doch ein wenig schneller als die Feder, einfach, weil die Materie, die ihn anzieht, etwas dichter an ihm dran ist.
Binden wir Feder und Hammer zusammen, addiert sich ihre Masse, die Verformung der Erde wird noch ein wenig größer und sie fallen tatsächlich noch ein wenig schneller. Die Annahme in Galileis Argument (Körper B hemmt Körper A) erscheint zwar logisch und plausibel, ist es aber nicht, der Effekt beider Massen auf die Erde addiert sich und deshalb fallen sie gemeinsam etwas schneller als getrennt.
Ein Effekt wie dieser ist in Galileis Argument nicht enthalten, weil er implizit annimmt, dass man den Fall eines Objekts genauso betrachten kann wie den Fall einzelner Teile des Objekts. Das ist zwar plausibel, aber in gewisser Weise nimmt es die Schlussfolgerung schon vorweg.
Was soll euch diese ziemlich extensive Betrachtung eines simplen (und letztlich wissenschaftlich auch nicht zu bedeutenden) Arguments sagen? Sie ist mal wieder ein Beispiel dafür, dass wir in der Physik scheinbar logischen Argumenten misstrauen sollten, weil es immer sein kann, dass man subtile Effekte übersieht. (Mein Lieblingsbeispiel dafür findet ihr in meinem alten Blog.) Logische Argumente sind nützlich und haben ihren Platz, aber am Ende sollten wir experimentell überprüfen, ob sie wirklich richtig sind oder nicht.
PS: Ich werde ab jetzt auf diesem Blog die Kommentare rigoros moderieren. Falls ihr diesen Artikel zum Anlass nehmen wollt, mir zu sagen, dass die Relativitätstheorie natürlich falsch ist oder sonstigen Blödsinn oder esoterisches Blabla hinterlassen wollt – spart euch die Mühe des Tippens, ich schalte solche Kommentare nicht mehr frei.