Neuroethik und Neurorecht

Tagebücher der Wissenschaft

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Die ethischen Auswirkungen der Hirnforschung werden seit mehreren Jahren diskutiert. Gibt es aber auch Implikationen für das Rechtssystem jenseits der unsäglichen Debatte um die Willensfreiheit? In unserem neuen Sammelband „Von der Neuroethik zum Neurorecht?“ haben wir einige Beiträge zusammengestellt, die nun eine erste Bilanz ziehen.

Der Philosoph Joshua Greene und sein früherer Chef, der Neurowissenschaftler Jonathan Cohen von der Princeton University, schrieben noch vor wenigen Jahren, die Ergebnisse der Hirnforschung würden unsere Gesellschaft und unser Rechtssystem verändern. Ihrer Meinung nach würde das nicht schlagartig geschehen, wie die Forderungen nach einem neuen Strafrecht hierzulande manchmal andeuteten, sondern schleichend: Weil das Wissen um das Gehirn unsere Intuitionen über den Menschen und über normative Fragen wie diejenige der Schuld ändern würden, müsste es eines Tags Änderungen geben. Denn langfristig würden die Menschen keine Gesellschaft akzeptieren, die ihren Intuitionen widerspreche.

Von der Neuroethik zum Neurorecht? BuchcoverWenn man mal von der für Geschichts- und Sozialwissenschaftler interessanten Frage absieht, inwiefern sich die Intuitionen des Durchschnittsmenschen in Staatsformen und Gesetzen widerspiegeln, kann man das Pferd natürlich auch von hinten, von der neurowissenschaftlichen Seite her aufzäumen: Können die Ergebnisse wirklich das leisten, was sich Greene und Cohen von ihnen versprechen – und was andere Menschen womöglich fürchten? Für Dieter Birnbacher, der in unseren Sammelband die Frage bearbeitet, was neu am Menschenbild der Neurowissenschaften ist, gilt immerhin der Dualismus als überwunden. Das wäre schon mal eine Erkenntnis, wenn die Hirnforschung zeigen könnte, dass es keine immaterielle Seele gibt. Thomas Metzinger sprach hier einst vom „Zusammenbruch unseres metaphysischen Menschenbilds mit seiner Doppelnatur als geistiges und körperliches Wesen.“ Nun ist es aber so, dass totgesagte manchmal länger leben und die Vorstellung einer Seele könnte dazu gehören.

Dabei ist die Frage berechtigt, ob die Hirnforschung überhaupt zu so einem Ergebnis kommen könnte. Es gibt zwar gute philosophische Argumente gegen (und für) einen Substanzdualismus aber können wir wirklich das menschliche Gehirn untersuchen und dabei feststellen, dass es keine Seele gibt? In meinem Artikel über das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Menschen und der sozialen Hirnforschung komme ich zumindest für den Status quo zu einem Negativbefund: Dass wir immer mehr über die physischen Begleiterscheinungen geistiger Vorgänge oder die Wechselwirkung zwischen Gehirn und Geist erfahren, das ist auch mit einer Seelenvorstellung vereinbar, wie sie schon René Descartes vertrat. Nur wer einen Zusammenhang zwischen Gehirn- und Geisteszustand leugnet, der kann angesichts der Forschungsergebnisse in Erklärungsnot geraten. Descartes ging aber nicht nur – zumindest für das diesseitige Leben – von so einem Zusammenhang aus, sondern benannte sogar einen Ort, in dem Gehirn und Geist interagieren würden, nämlich die Zirbeldrüse. Damit hat er sich zwar geirrt, wir lernen aber aus diesem Beispiel, dass die Hirnforschung sehr wohl mit einer – wenn auch nicht mit jeder beliebigen – Seelenvorstellung vereinbar ist.

Wenn wir von dieser philosophischen Spezialfrage absehen, dann glaube ich auch nicht, dass uns Forschungsergebnisse normativ zu irgend etwas zwingen, wie es Greene und Cohen annehmen. Ja, es gibt Beispiele, sogar gute Beispiele dafür, wie wissenschaftlicher und technischer Fortschritt Normen verändern. Man denke daran, dass wir Menschen heute nicht mehr erst mit dem äußeren Verfall ihres Körpers oder, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war, schon mit Stillstand von Herzschlag und Atem für tot erklären. Den Verfahren der Notfallmedizin zum Dank lassen sich viele dieser Menschen noch retten. Umgekehrt müssen wir aber nicht jedes Kriterium, das (manche) Forscher vorschlagen, als verbindlich anerkennen. Beispielsweise ist in einer Fachdiskussion schon der Teilhirntod im Gespräch, demzufolge das vollständige Erliegen bestimmter Funktionen des Großhirns dafür ausreichen würde, einen Menschen als tot anzusehen. Auch wenn sich der Teilhirntod technisch durchaus messen ließe, ist dieses Kriterium nirgends anerkannt.

Tatsächlich glaube ich, dass anstatt einer Umwälzung unserer Gesellschaft ein nüchterneres Verständnis der Hirnforschung und ihrer Ergebnisse viel wahrscheinlicher ist. Eine sorgfältige Sprachanalyse kann zu dem Ergebnis kommen, dass wir kein neues Menschenbild „brauchen“. Die Rückkehr der Skepsis und auch die Diskussion um Voodoo-Neurowissenschaft sind Indikatoren dafür, dass sich eine andere Sichtweise allmählich durchsetzt. In dieser ist nicht der Modus der Sensationen, sondern derjenige der nüchternen Zurückhaltung gegenüber den Forschungsergebnissen der angebrachte. Damit könnte sich die Forderung nach einem neuen Rechtssystem als so fundiert herausstellen wie die Bewunderung des Kaisers neuer Kleider: Justitias neue Kleider.

Die Einbeziehung historischer Perspektiven legt außerdem den Verdacht nahe, dass die Diskussion um Hirnforschung und Menschenbild nicht zum ersten Mal stattfindet. In der Inaugurationsrede des bedeutenden Anatoms Josef Hyrtl, 1864 an der Universität Wien gehalten, findet man nicht nur ein frühes Beispiel dafür, wie eine nüchterne Einschätzung der wissenschaftlichen Ergebnisse die reißerischen Forderungen nach einer „Neurorevolution“ zurückweist. Viel interessanter fand ich seinen Seitenhieb auf die damalige Wissens- und Medienkultur:

[Die Erfolge der materialistischen Weltanschauung] beruhen nicht auf der Klarheit und Unangreifbarkeit ihrer Argumente, sondern auf der Kühnheit ihres Auftretens und dem herrschenden Geiste der Zeit, welcher Lehren dieser Art um so lieber popularisiert, je gefährlicher sie der bestehenden Ordnung der Dinge zu werden versprechen. (Josef Hyrtl, 1864/1897, S. 36f.)

Wo wir schon an der Universität Wien und bei Inaugurationsreden sind, möchte ich mit einem Verweis auf die Antrittsvorlesung der dortigen Professorin für Klinische Psychologie, Ilse Kryspin-Exner, schließen. „Bei aller Begeisterung für die dynamische funktionelle kognitive Neuroanatomie“ wollte sie 1998 nicht „auf eine lebensweltlich-philosophische Betrachtung verzichten“ (S. 10). Interessanterweise kommt sie damit auf meinen Chef Henrik Walter, der die Idee einer „minimalen Neurophilosophie“ vorschlug. Dabei gehe es darum, zu untersuchen, „welche Anteile philosophischer Theorien sich mit unserem Wissen über das Gehirn vereinbaren lassen“ (ebd.). Heute, gut zehn Jahre später, möchte ich den Spieß umdrehen:

Die Zeit ist reif, um zu untersuchen, welche Anteile neurowissenschaftlicher Theorien sich überhaupt mit unserem philosophisch-lebensweltlichen Wissen vereinbaren lassen.

Quellen:
Schleim, S., Spranger, T. M., Walter, H. (Hrsg.) (2009). Von der Neuroethik zum Neurorecht? Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht.
Hyrtl, J. (1864/1897). Die Materialistische Weltanschauung unserer Zeit. Wien: Braumüller.
Kryspin-Exner, I. (1999). Von Leib und Seele zu body & soul?! R(h)apsodien über die Klinische Psychologie. Wien: Universitätsverlag.
Schleim, S. (2008). Justitias neue Kleider. Gehirn&Geist 7-8, S. 40-45.
Walter, H. (1997). Neuroimaging und Philosophy of Mind. In G. Northoff (Hrsg.), Neuropsychiatrie und Neurophilosophie (S. 193-222). Paderborn: Schöningh.

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