Alpha 0.7, der SWR und das Netz
BLOG: AstroGeo
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat im Netz bisher vor allem Inhalte verteilt. Der spielerische Umgang mit dem neuen Medium blieb auf der Strecke. Das Projekt Alpha 0.7 des SWR ist eine erfrischende Ausnahme.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vertrat der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Avantgarde seines Mediums. Mit dem Radiohörspiel entwickelte sich ein Format, das sich zwar ans Theater anlehnte, aber auf eigene Stilmittel setzte. So müssen Geräusche, Klangschablonen und atmosphärische Musik das ersetzen, was der Hörer zu Hause am Radio nicht sehen kann. Die Bilder mussten in seinem Kopf entstehen.
Diese Avantgarde-Funktion ging mit immer stärkerer Diversifizierung im Rundfunk verloren. Private Sender setzen heute öffentlich-rechtliche Medien zunehmend unter Druck: Im Kampf um die Quote sinkt die Qualität zugunsten gefälligerer Angebote.
Weiter verschärft wird diese Entwicklung durch Onlinemedien. In dieser Sphäre hat sich zwar bisher keine Sparte wirklich mit Ruhm bekleckert, weder öffentlich-rechtliche Sender, noch die privaten. Ganz im Gegenteil: Beide meiden das Netz, wie der Teufel das Weihwasser. Mit Mediatheken werden Radio und Fernsehen zwar leichter bedienbar, die Möglichkeiten des Netzes werden aber kaum ausgeschöpft. Der Rückkanal über soziale Netzwerke und Kommentarfunktionen werden kaum beachtet oder gar nicht erst angeboten. Die Inhalte werden nur zeitlich begrenzt im Netz angeboten und entgehen so dem Long Tail, also der breiten Masse der Netzbewohner. Diese Entwicklung ist wohl zum Teil von Politik und Verlagslobby vorgegeben. Aber auch von sich aus gebärden sich die Rundfunkanstalten im Netz ausschließlich als traditionelle Sender. Ein spielerischer Umgang mit den Techniken des neuen Mediums wie einst beim Hörspiel findet kaum statt.
Das erste wirklich avantgardistische Netzprojekt einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, das mir untergekommen ist, startete gestern: Alpha 0.7 vom Südwestrundfunk (SWR).
Dabei handelt es sich um eine Krimireihe, die kommende Woche im SWR3-Fernsehen anläuft. Eine dystopische Welt der Zukunft: “Stuttgart 2017″. Die Verbrechensbekämpfung nutzt vermehrt Gedankenscanner zur Suche nach Verbrechern, während konventionelle Überwachungstechniken der Obrigkeit zur Perfektion weiterentwickelt worden sind.
Soviel zur Geschichte, die sicher ein wichtiges und bisher in Mainstream-Medien unterrepräsentiertes Thema zur Diskussion stellt. Dass gerade Stuttgart für die dystopische Zukunftsvision gewählt wurde, das ja derzeit vermehrt Probleme mit der politisch vorgegebenen Stadtplanung hat, ist vermutlich Zufall.
Alpha 0.7 ist aber mehr als eine Fernsehserie. Das Format verfolgt einen crossmedialen Ansatz. Wissenschaftliche Sendungen im SWR-Hörfunk sollen die extrapolierten Techniken des Jahres 2017 in unserer Gegenwart beleuchten. Daneben hat der SWR die Welt von 2017 auch ins Netz gespiegelt – und damit wirklich Neuland betreten. So schreiben Protagonisten der Serie eigene Blogs oder pflegen persönliche Youtube-Channels, während das fiktive Precrime-Center des BKA ebenso mit einer eigenen Präsenz im Netz vertreten ist wie die fiktiven Gegner der Überwachung in der Welt von 2017.
Mit dem Kunstprojekt Alpha 0.7 ist dem SWR eine nachdenklich stimmende Inszenierung gelungen, die auch unterstreicht, dass öffentlich-rechtliche Häuser die Möglichkeiten des Netzes nutzen können und müssen. Leider hat sich die Anstalt den Netzbewohnern dabei nur thematisch genähert. So wird zwar auf allen Kanälen – TV, Radio und Netz – gesendet, auf Reaktionen der Nutzer scheint man im Haus aber keine Rücksicht nehmen zu wollen.
Nachtrag: Bei der FAZ gibt es ein paar Hintergründe zur Entstehung von Alpha 0.7.