Konfession und Zivilreligion in Berliner Schulen

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Gestern hat eine von der jüdischen Gemeinde zu Berlin organsierte Podiumsdiskussion zum bevorstehenden Volksentscheid in Berlin stattgefunden. Es haben Devrim-Deniz Nacar (Alevitin), Christoph Lehmann (Kath.), Michael Müller (Ev.) und Gesa Ederberg (Ev.->Jüd.) miteinander und mit dem Publikum diskutiert. Unterm Strich waren Nacar und Müller gegen die Gleichstellung des Religionsunterricht mit dem derzeitigen Pflichtfach Ethik, Lehmann und Ederberg hingegen dafür.
 
Interessanterweise ging es bei der manchmal sogar heftigen Diskussion zwar nicht nur, aber vornehmlich darum, ob der Religionsunterricht die Toleranz der Schüler anderen Gruppen gegenüber stärken oder aber schwächen würde. Das bedeutet: Sowohl die Befürwortenden der Gleichstellung als auch deren Gegner haben ihrer Argumentation die von ihnen jeweils erwarteten Wirkungen einer Gleichstellung beider Fächer auf das Toleranzvermögen der Schüler zugrunde gelegt.
 
Der (mit Abstand) zweitwichtigste Punkt war übrigens der Platz von Religion an Schulen im Besonderen und in der Gesellschaft im Allgemeinen. Das war an diesem spezifischen Abend jedoch eher abwegig, weil damit das grundlegende Selbstverständnis der Bundesrepublik, wo Religion sehr wohl in den öffentlichen Raum gehört, notwendigerweise infrage gestellt und etwaige Änderungen in Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes ins Auge gefasst werden.
 
Also bleiben wir auch hier im Blog beim Punkt "Toleranz". Mir stellt sich in diesem Zusammenhang folgende Frage: Sagen wir mal, der Religionsunterricht als Wahlpflichtfach würde sich doch abträglich auf die interkonfessionelle Toleranz auswirken. Na und…?

Damit will ich nicht sagen, dass Toleranz an sich abgelehnt werden sollte. Vielmehr möchte ich die Prämissen dieser Fragestellung verdeutlichen. Das Problem besteht nämlich darin, dass das Stichwort "Toleranz" zu einem ausschlaggebenden Kriterium, zu einer Conditio sine qua non geworden ist, an der anderes gemessen wird, was eigentlich gar nicht da ist, um Toleranz zu stiften, sondern Kulturgut und somit ganz an und für sich bestrebenswert ist. Denn schließlich ist es in Deutschland – abgesehen von der Bremer Klausel bzw. Art. 141 GG – ja so, dass der Religionsunterricht zwar keine Pflichtveranstaltung bildet, aber ansonsten doch genauso zu den Erziehungs- und Bildungszielen gehört wie jedes andere ordentliche Lehrfach.

Ist man der Meinung, dass Toleranz unbedingt ins Curriculum gehört und sich nur im Rahmen des Ethikunterrichts (wie es in Berlin heißt) vermitteln lässt, dann soll man sich dafür einsetzen, dass neben dem grundlegenden Fächerangebot – Deutsch, Mathematik, Religion, Physik etc. – auch das Lehrfach Ethik als Pflichtfach eingeführt wird. Dass in Berlin Religion und Ethik überhaupt gegeneinander abgewogen werden müssen, rührt ja daher, dass das Lehrfach Ethik u. dgl. als Ersatzfach für Konfessionslose entstanden ist (in Bremen gab es 1949 zwar keinen amtskirchlichen Religionsunterricht, dafür aber "Unterricht in biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage"). Wie kommt es also zur surrealen Situation, wo der Ersatz das Eigentliche vollkommen verdrängen kann (wie es etwa in Berlin seit 2006 der Fall ist) und das Eigentliche sich im öffentlichen Diskurs darauf prüfen lassen muss, ob es den Anforderungen des Ersatzes gerecht wird?
 
Wenn Fächer, die an und für sich wertvoll sind, nunmehr auf ihren Beitrag zur Stiftung von Toleranz geprüft werden müssen, um ihre eigentlich schon festgelegte Bedeutung nachweisen und sich somit von Neuem legitimieren zu können, scheint das von allen am öffentlichen Diskurs Beteiligten erwartete Bekenntnis zur Toleranz einen zivilreligiösen Status erreicht zu haben. Vor diesem Hintergrund enthüllt sich die Vehemenz, mit der manche Pro-Ethik-Leute gegen die Gleichstellung von Ersatz und Eigentlichem argumentieren, als Verteidigung des eigenen Religionsunterrichts bzw. dessen seit 2006 in Berlin privilegierten Status als Pflichtfach. Ob bewusst oder nicht, geht es ihnen anscheinend nicht darum, was das sonstige Angebot an Religionsstunden leisten soll (und wie es den Schülern ihre eigenen Kulturgüter näher bringen kann), sondern eher darum, dass auch in Zukunft kein Berliner Schüler um die Indoktrination in ihre humanistische Zivilreligion herumkommt.
 
Überhaupt ist "Toleranz" – genauso wie die heutzutage ebenfalls überall beschworene "Vielfalt" – ein in Wirklichkeit sehr problematischer Begriff, hinter dem alles Mögliche stecken kann. Wie kann also Toleranz schon an sich bestrebenswert und die Stiftung von Toleranz ein entscheidendes Kriterium sein, wo es doch nur darauf ankommen darf, wem oder was man genau die Toleranz erweist und ob der oder das Tolerierte dieser Toleranz würdig ist. Darum wäre ich, wenn ich Staatsbürger wäre und hier Kinder hätte, zwar für die Einführung des Wahlfachs Ethik, wo aber auch über Begriffe wie "Toleranz" kritisch nachgedacht werden sollte. Schließlich gibt es ja selbst unter den Gegnern der Gleichstellung nicht wenige, die trotz ihres eifrigen Bekenntnisses zur Toleranz als höchstem Erziehungsziel manchmal doch selber intolerant sind, etwa gegenüber dem Unterrichtsangebot der anderen Religionen…

PS.

Mir ist aufgefallen, dass Ederberg oft von "uns Juden" gesprochen hat (etwa so: "Uns Juden ist es wichtig, dass…"), übrigens im Gegensatz zu ihren Podiumskollegen. Mich hat es a bissl gestört: nicht, weil ich nie damit einverstanden war, was sie mit "uns Juden" verkünpfte, sondern vielmehr deswegen, weil ich nicht will, dass man zentralratsartig von vornherein für alle anderen und somit auch für mich spricht. Wenn ich meine subjektiven Sichtweisen formuliere, rede ich daher nicht von "uns Juden", sondern davon, wie ich das allgemeine Konstrukt "Israel" verstehe, sodass sich (hoffentlich) keiner bevormundet zu fühlen braucht und es jedem freisteht, inwiefern er sich mit diesem Konstrukt identifieren kann oder andere bevorzugt. Nun, ich weiß natürlich nicht, wie es andere empfunden haben, aber bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich den Eindruck gewonnen, dass es Ederberg nicht um Bevormundung geht, sondern eher um die implizite, wohl eigentliche Aussage, dass sie nunmehr dazugehört. "Es wäre für uns Juden besser, wenn…" soll also vermutlich so viel besagen wie: "Ich bin jetzt Jüdin und meine Meinung als Jüdin ist, dass es besser wäre, wenn…". Schade nur, dass es so stark auffällt, denn damit scheint sie ihr identitätsstiftendes Anliegen nur zu unterminieren.

PPS.

Am Rande der Diskussion hat Nacar die Anwesenden darauf hingewiesen, dass "wir" bzw. sie – gemeint sind damit wohl alle sowohl fremdstämmigen als auch nichtchristlichen Einwohner – inzwischen 47% (sic!) der Schüler in Berlin ausmachen. Ähnliche Angaben habe ich vor kurzem in Brüssel, wo wir vom Bundestag hingeschickt worden sind, auch vom deutschen Botschafter im (gerade noch bestehenden) Königreich Belgien, Reinhard Bettzuege, gehört, der sich über die Zukunftsfähigkeit Brüssels als der "europäischen Hauptstadt" Gedanken macht.

Tatsächlich ist es ein doppeltes Problem: Einerseits die objektiv viel zu niedrigen Geburtsraten Deutschstämmiger, die in Zukunft eine breite intellektuelle Schicht eher unwahrscheinlich erscheinen lassen; andererseits extrem hohe Geburtsraten unter Fremdstämmigen, die in den allermeisten Fällen nicht in die Fußstapfen deutscher Kulturgüter treten, den Anteil der zukunftsträchtigen Einheimischen aber gleich nochmals verringern und deren Not sozusagen exponentiell verschärfen. Da fragt man sich als Historiker, von wem die deutsche Kultur in fünfzig Jahren getragen würde und wie sie unter solchen Umständen noch aussehen könnte. "Dem Deutschen Volke", aber wie lange noch?

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

10 Kommentare

  1. Ist man der Meinung, dass Toleranz unbedingt ins Curriculum gehört und sich nur im Rahmen des Ethikunterrichts (wie es in Berlin heißt) vermitteln lässt, dann soll man sich dafür einsetzen, dass neben dem grundlegenden Fächerangebot – Deutsch, Mathematik, Religion, Physik etc. – auch das Lehrfach Ethik als Pflichtfach eingeführt wird. Dass in Berlin Religion und Ethik überhaupt gegeneinander abgewogen werden müssen, rührt ja daher, dass das Lehrfach Ethik u. dgl. als Ersatzfach für Konfessionslose entstanden ist

    Das ist ein Missverständnis, was Berlin anbelangt. Religion war da schon immer freiwilliges Zusatzangebot, es gab nie ein Ersatzfach für Konfessionslose oder Uninteressierte wie in den meisten anderen Ländern. Ethik ist in Berlin ganz genau so entstanden, wie Du es forderst: als eigenständiges Pflichtfach zur Vermittlung demokratischer Grundwerte, ohne Bezug zum und schon gar nicht als Ersatz für Religionsunterricht.

    Es ist die ProReli-Kampagne, die den Ethikunterricht in Konkurrenz zum Religionsunterricht setzen will, nicht andersherum.

    Ob bewusst oder nicht, geht es ihnen anscheinend nicht darum, was das sonstige Angebot an Religionsstunden leisten soll (und wie es den Schülern ihre eigenen Kulturgüter näher bringen kann), sondern eher darum, dass auch in Zukunft kein Berliner Schüler um die Indoktrination in ihre humanistische Zivilreligion herumkommt.

    Zivilreligion scheint zum Modebegriff zu werden, aber bitte: es gibt einen humanistischen weltanschaulichen Unterricht in Berlin, als freiwilliges Zusatzangebot vom Humanistischen Verband, gut besucht, parallel zu den Religionsunterrichten in Berlin und genau so finanziert. Auch der steht aber (derzeit) weder im Gegensatz zum Ethikunterricht, noch wird er durch den ersetzt. Wieso sollten sich sonst tausende Schüler/Eltern freiwillig auch noch für einen solchen Unterricht entscheiden, wenn er deckungsgleich mit dem Ethikunterricht ist?

    Überhaupt ist “Toleranz” – genauso wie die heutzutage ebenfalls überall beschworene “Vielfalt” – ein in Wirklichkeit sehr problematischer Begriff, hinter dem alles Mögliche stecken kann.

    Aber eben um solche Fragen und Diskussionen geht es im Ethikunterricht, wenn Du Dir nur mal die Lehrpläne ansiehst: was meint Toleranz, welche Probleme und Widersprüchlichkeiten stecken dazu in dem Begriff. Das Konzept ist, dass die Schüler sich damit auseinandersetzen und es diskutieren. In einer Stadt, über die man ansonsten ständig im Zusammenhang mit sozialer Verwahrlosung und Bildung von Parallelgesellschaften, ist sowas doch keine schlechte Idee. Und mir erschließt sich gar nicht, wie das im Gegensatz zum Religionsunterricht stehen soll — oder wieso ich eine Religion tolerieren sollte, die solche grunddemokratschen Diskussion, wie Du sie hier ja auch führst, als Bedrohung darstellen möchte. Für Dich steht die doch auch nicht im Gegensatz zu Deiner Religion.

  2. @ Kamenin

    Pflichtfach ist der Ethikunterricht in Berlin m. W. erst seitdem das Wahlpflichtfach Religion 2006 abgeschafft worden ist. Insofern sehe ich nicht, warum ausgerechnet die derzeitgen, seit knapp drei Jahren vorhandenen Verhältnisse plötzlich geheiligt und für den Status naturalis erachtet werden sollen.

    Wenn der Ethikunterricht bereits jetzt so läuft, wie ich es mir wünschen würde, dann ist es ja wunderbar, aber noch keine Rechtfertigung für die Abschaffung des Wahlpflichtfaches Religion. Ich kann mir vorstellen, dass der Englischunterricht wie auch der Physikunterricht ebenfalls gut laufen, aber deswegen sollen Deutsch und Mathematik noch längst nicht zu Zusatzangeboten werden.

    Ohnehin bin ich mir nicht sicher, ob die Praxis des Ethikunterrichts in Berlin wirklich so aussieht und dem Toleranzbegriff gegenüber so kritisch ist wie du es beschreibst bzw. wie die Lehrpläne es ggf. vorschreiben. Wie gesagt, kommt die Fokussierung des öffentlichen Diskurses auf das Stichwort Toleranz (als Grundwert an und für sich!) nicht von mir, sondern von den (allen!) Prominenten, die vorgestern ihre Positionen dargelegt haben, wie auch vom Publikum, das z. T. aus Ethiklehrern bestanden hat und dessen Fragen, Kritik und Unterstützung ebenfalls um dieses Stichwort gekreist sind.

    Mich interessiert also einfach die Frage, was es bedeutet, dass die Sache gerade an diesem “Kriterium” gemessen wird, und zwar ganz abgesehen davon, ob die toleranzbezogene Argumentation der Sache von Pro-Reli oder derjenigen von Pro-Ethik zugute kommt. Insofern kritisiere ich hier beide Seiten gleichermaßen, wobei ich schon vermuten würde, dass die Pro-Reli-Leute sich bei dieser Kampagne eher auf diesen Diskurs eingelassen haben als dass sie ebenfalls ganz und gar der Meinung wären, dass der Religionsunterricht sich anhand dieses Begriffs neu legitimieren müsste.

  3. @ Yoav

    Nein, das ist eine Fehlinformation, allerdings eine, die durchaus mit den unsachlichen Darstellungen von ProReli verträglich ist. Ich hatte selber durch die Kampagne einen ähnlichen Eindruck bekommen und musste mich als NRWler erst informieren (in NRW gibt es übrigens kein Ersatzfach bis Klasse 10, ab dann Philosophie — ironischerweise war das für mich damals ausschlaggebend, Religion zur 11. abzuwählen).

    2006 wurde der Ethikunterricht als ordentliches Lehrfach eingeführt. Am Status und Modus des weltanschaulichen Unterrichts hat sich 2006 gar nichts geändert und auch seitdem nicht. Der wird wie seit 1949 (darum gilt ja in Berlin überhaupt die Bremer Klausel) als freiwilliges Zusatzfach angeboten. Als Zusatzangebot gab es auch nie einen Wahlpflichtbereich Religion, obwohl man sich natürlich entscheiden musste, welchen weltanschaulichen Unterricht man freiwillig besucht (wenn denn, und genau wie heute). Was die Freiwilligkeit angeht, besteht der Unterschied zu anderen Bundesländern eh nur darin, ob man sich für den Unterricht anmelden oder gegebenenfalls vom Unterricht abmelden muss.

    Mit Toleranz meinen die Podiumsprominenten meinen doch kein aus Lehrplänen abgeleitetes sozialwissenschaftliches Fachwort, sondern gebrauchen das als Synonym für “verträgliches Zusammenleben”. Und das ist im demokratischen Rechtsstaat ein Wert an und für sich! Damit kann aber nicht gemeint sein, dass jede Anschauung von Juden- bis Homosexuellenfeindlichkeit selbst über den Toleranzbegriff legitimiert werden kann. Aber in solche Debatten kommt man doch automatisch, sobald man den Toleranzbegriff mit Inhalt füllen will. Und um solche Diskussionen geht es, den Lehrplänen nach, in Ethik. Für eine angeblich wachsende Zahl von Schülern, die zu Hause oder im sozialen oder monokulturellen Umfeld solche Debatten nicht mehr mitbekommen.

    Es hat auch niemand als Hauptziel des Religionsunterrichts festgeschrieben, dass der solche Debatten führen soll oder nach dem Primat guten Zusammenlebens zu beurteilen ist. Darum ist das ja ganz ausdrücklich weltanschaulicher Unterricht. In die Debatte kommt ProReli und damit der Unterricht nur rein, weil sie sich durch ein Fach in ihrer “Freiheit” beschnitten fühlen, das die Grundlagen solchen Zusammenlebens diskutiert: und plötzlich öffentlichkeitswirksam feststellen wollen, dass der Religionsunterricht, der dafür gar nicht geschaffen ist, das viel besser kann als ein gemeinsamer Ethikunterricht. So viel besser offensichtlich, dass den Schülern ein Schaden in ihrer demokratischen Sozialisierung entsteht, wenn sie neben dem Religionsunterricht noch einen Ethikunterricht besuchen, ansonsten wäre es ja immer noch kein Argument für die Abschaffung des Ethikunterrichts für religiös (oder humanistisch) unterrichtete Schüler.

    Ziel des Ethikunterrichts ist, “die Bereitschaft und Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer kulturellen, ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Herkunft zu fördern, sich gemeinsam mit grundlegenden kulturellen und ethischen Problemen des individuellen Lebens, des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie mit unterschiedlichen Wert- und Sinnangeboten konstruktiv auseinander zu setzen” (Schulgesetz). Meiner Meinung nach ist das ein Grundanliegen eines jeden freiheitlichen Staates und unter der Bedingung, dass jeder, der will, einen Religionsunterricht besuchen kann, beschneidet das die religiöse Freiheit kein bisschen.

  4. @ Kamenin

    Naja, die Bremer Klausel sagt nicht, dass es kein ordentliches Lehrfach Religion (mit oder ohne eine wahlpflichtmäßige Alternative) geben soll, sondern nur, dass es das nicht unbedingt geben muss.

    Aber bevor wir das Thema verlassen, das ich im obigen Beitrag anspreche, möchte ich sagen, dass wir uns, wie mir scheint, doch einig sind, dass das Fach Religion sich gar nicht mithilfe eines tatsächlichen oder vermeintlichen Beitrages zur Stiftung interkonfessioneller Toleranz zu legitimieren braucht.

    Und nun:

    Wenn ich dich recht verstehe, heißt es also, dass es in Berlin während der ganzen Zeit von spätestens dem 1. Januar 1949 über die völlige Anwendung des Grundgesetzes auf Westberlin 1990 und die gleichzeitige Ausdehnung auf Ostberlin bis 2006 bzw. heute die aus dem Kernfach Religion und einem Alternativfach bestehende Rubrik nicht als ordentliches Lehrfachpaar gegeben hat. Das bedeutet auch: kein gleichwertiges Lehrangebot wie in Bremen, sondern gar kein ordentliches Lehrangebot. Die Rubrik “ordentliches Lehrfach Religion + Alternative” existierte in dieser Form einfach nicht (sondern nur als freiwilliges Zusatzangebot). Im Gegensatz zu allen anderen Ländern konnten sich die Berliner Schüler folglich nicht nur zwischen Religion (ob in amtskirchlicher Trägerschaft oder – wie in Bremen – in gleichwertiger Form) einerseits und dem Alternativfach (ob dieses alternative Angebot nun konkret mit Philosophie, Ethik oder humanistischer Lebenskunde verwirklicht wird, ist zweitrangig) andererseits entscheiden, sondern auch darüber, ob sie überhaupt die Rubrik in Anspruch nehmen.

    Seit 2006 ist es in Berlin aber so, dass die Alternative, in diesem Fall in Form des Faches Ethik, doch ordentliches Lehrfach geworden ist. Somit ist auch die von anderen Ländern (und zwar allen anderen alten Bundesländern) bekannte Rubrik entstanden, allerdings ohne das Kernfach Religion (bzw. “biblische Geschichte” etc.), an welches in anderen Ländern das Alternativfach angekoppelt ist.

    Es geht also um die Frage, ob man das Fach Ethik – seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr im juristischen Sinne – von seiner Beschaffenheit her als Alternativfach zum Kernfach Religion oder aber als Kernfach an sich zu bewerten ist.

    Meiner Meinung nach handelt es sich beim Fach Ethik um eine Alternative zum Fack Religion, denn wenn Religion auch in Berlin ordentliches Lehrfach sein müsste (was es aufgrund von Art. 141 GG nicht sein muss, aber morgen nichtsdestoweniger ja noch werden kann), wäre es höchstwahrscheinlich mit Ethik gepaart und nicht mit der humanistischen Lebenskunde. Das heißt, dass der eigentliche, natürliche Zusammenhang des Faches Ethik eben diese Rubrik ist, die auch bzw. vor allem aus dem Fach Religion besteht. Das ist ja der Grund, weshalb der morgige Volksentscheid über die Ergänzung der Rubrik durch den Kernfach Religion überhaupt stattfinden kann und man die Initiative zur Gleichstellung von Ethik und Religion nicht von vornherein als unsachgemäß ablehnen durfte.

    Dass man das Fach Ethik, obwohl von seiner Beschaffenheit her ebenfalls weltanschaulichen Charakters, trotzdem als eine Rubrik für sich interpretieren kann, gebe ich vollkommen zu, aber diese Herauslösung des Faches Ethik aus seinem eigentlichen Zusammenhang beruht in Berlin ja auf Art. 141 bzw. der Bremer Klausel, die aber m. E. wiederum als Ausnahme zur Regel bzw. zu Art. 7 Abs. 3 Satz 1 angesehen werden soll. Hinzu kommt, dass die Ursache für diese Ausnahme ein gleichwertiges Angebot war, nämlich der Bremer “Unterricht in biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage”.

    In Berlin (wie übrigens auch in Brandenburg, obwohl da die Bezugnahme auf den 1. Januar 1949 problematisch ist) scheint man die normalen Verhältnisse somit auf den Kopf gestellt zu haben. Darf es so sein? Laut des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, ja. Soll es so sein? Meines Erachtens nicht.

  5. @ Yoav

    Wenn sich Religionsunterricht nicht daran messen und darüber legitimieren lassen will, ob er interkonfessionelle Toleranz oder das verträgliche Zusammenleben fördert (und muss er m.M.n nicht, solange er nicht das Gegenteil tut), dann gibt es auch keinen Wahlanspruch zu einem allgemeinem Fach, das eben das zum Thema hat. Das sind dann zwei Paar Schuhe.

    Ja, in Berlin bestand die jetzige Regelung über alle Änderungen im Stadtstatus und Gebiet hinweg, an den meisten Punkten wurden meines Wissens aber auch Gerichte bemüht, um die Rechtmäßigkeit der Regelung für Gesamt-Berlin usw festzustellen.
    Ethik war nie Alternative in Berlin, wurde jetzt nicht als Alternative, sondern als eigenständiges, den gesamten Lehrplan ergänzendes Fach eingeführt. Mir erschließt sich nicht, warum man das nicht tun dürfte, nur weil in manchen Bundesländern Ethik als Ersatzfach für Nichtreligiöse eingeführt hat. In NRW ist das z.B. ab Kl. 11 Philosophie. Deshalb wird man doch hoffentlich Philosophie in Hessen als ordentliches Schulfach einführen dürfen.

    Natürlich würde Ethik, so das Gesetz angenommen würde, weitergeführt. Berlin dürfte gar nicht Lebenskunde als Alternative anbieten, weil ein verpflichtendes Ersatzfach für weltanschaulichen Unterricht nicht selbst weltanschaulich sein darf. Lebenskunde würde durch ProReli ebenfalls in den Status eines ordentlichen Lehrfachs gehoben, fände dann nur dann eben auch in Konkurrenz zu Ethik statt.

    Ich sehe nicht, wieso Berlin, was Religionsunterricht angeht, schlechter dastehen soll als Bremen. Der Bremer Unterricht, soweit ich das sehe, ist überhaupt nicht konfessionell (allerdings mit allgemein christlicher Ausrichtung) und wird nicht kirchlich verantwortet, ist aber ebenso abwählbar, an den meisten Schulen ohne Alternative.
    In Bremen gibt es also zwar “ordentlichen”, aber eben keinen Religionsunterricht im Sinne des GG, in Berlin gibt es nur “freiwilligen”, dafür aber wirklichen Religionsunterricht: dank der liberalen und dezentralen Praxis inzwischen eben auch für Muslime, Juden, Aleviten, Buddhisten und seit 2008 die Christengemeinschaft. Soviel Pluralität im Angebot findet man ansonsten in keinem anderen Land. Es sind doch gerade die in Deutschland kleineren Religionen, die von den geringeren Hürden im Berliner Modell profitieren. Was da auf dem Kopf stehen oder, wie von ProReli dargestellt, religions- oder freiheitsfeindlich sein soll, verstehe ich nicht.

    Wird sich heute aber auf die eine oder andere Art regeln.

    Beste Grüße,
    k.

  6. Kulturträger?

    Warum scheint es mir, dass der Deutschstämmige als Voraussetzung einer deutschen Kultur bei dir gilt. Ist es nur einem ethnisch Deutschen möglich an deutscher Kultur zu partizipieren? und inwiefern kann ein so amorphos sich stets veränderndes Gebilde auf die essentielle Kategorie Deutsch runtergebrochen werden?

    zum zweiten. Wozu Religions und Ethikunterricht? aus einem ganz anderen Kontext, wo es aber auch gewissermaßen um die Vermittlung von Identität und WErten ging, dieses Zitat: “Identität im allgemeinen und regionale Identität im besonderen sollten nicht Ziel sondern nur Thema und Gegenstand von Unterricht sein.” Ganz ähnlich würde ich das bei Religion betrachten, ein Argument für eine vergleichende Religionswissenschaft an den Schulen. Die bundesrepublikanische Staatsbürgerkunde und ihr christliches Pendant müssten beide ihren Wert als Unterrichtsfach erst einmal nachweisen. Das Kulturgut, dass du in doch konservativer Manier, als an sich bewahrenswert betrachtest, hat mit einer derzeitigen deutschen Kultur [wobei sich meine Finger bei diesen Worten wehren] nur randständig was zu tun. Die traditionslinien die dort konstruiert werden, sind eher wie Heidelberg – Museumoberfläche einer vergangenen Realität. Was darunter geschieht hat ganz andere Strukturen und Wurzeln als jene Texte/Narrative die in Ethik oder Reli unterrichtet werden. Was du als Historiker wissen solltest

  7. @ Max

    ad 1.:

    Ist es Voraussetzung, Jude zu sein und bewusst als solcher erzogen worden zu sein, um vom Inhalt her jüdische Literatur zu schreiben, wie sie etwa Agnon geschrieben hat? Theoretisch nicht, denn man kann sich in den Diskurs hineinarbeiten, die Denksprache aneignen und sie dann anwenden. Tatsächlich aber passiert so etwas nicht (und wenn, dann aber ganz selten).

    Kultur ist flexibel, Kultur ist dialektisch, aber Kultur ist im Endeffekt auch ein Akkumulat. Natürlich können Fremdstämmige etwas von der Verantwortung übernehmen und sie in Zukunft mittragen. Die heutigen Fremdstämmigen machen es aber nicht. Vielleicht bedarf es noch ein paar Jahrhunderte, aber dann wird es keine eindeutige Leitkultur mehr geben, in die sie sich integrieren könnten.

    Theoretisch hast du also Recht, nur die Wirklichkeit stört. Leider.

    ad 2.:

    Weil Kultur ein Akkumulat ist, kommt man um die Grundlagen nicht herum. Aber die Grundlagen dürfen nicht als reines Wissen vermittelt werden, wie es etwa mit vergleichender Religionswissenschaft der Fall ist. Sie müssen, wie es sich bei der eigenen Kultur gebührt, als Identifikationsfaktoren er- bzw. gelebt werden und somit dem heranwachsenden Menschen fürs Leben mitgeben, was auf talmudisches Aramäisch “Gersa deJankuta” heißt: Das “Angeborene” (im geistigen, nicht physischen Sinne), das man während der Kindheit aneignet und auf das man später immer wieder zurückgreifen kann. Ich z. B. weiß als Außenseiter, der das mal gelernt hat, worum es beim Abendmahl geht und was die drei lutherischen “solas” bedeuten, aber dadurch hab ich mir noch längst keine evangelischen Bilderwelt angeeignet. Darum bin ich auch nicht in der Lage, diesen Kulturkreis fortzuentwickeln.

    Das, was man an Angeborenem dann fürs Leben hat, stattet ihn mit einem geistigen Koordinatensystem aus, aber darüber geht es, Gott sei Dank, nicht unbedingt hinaus (das wäre ja langweilig). Das geistig Angeborene gestaltet den Menschen, legt seine Zukunft aber nicht fest. Im Gegenteil, denn es verleiht ihm die Fähigkeit, vom Stützpunkt des Ererbten zu neuen Ufern aufzubrechen: Der größte Denker des Sozialismus stammte aus einer bürgerlichen Familie, der feinste Gegner der blinden Gläubigkeit war bekanntlich Pfarrersohn.

    Die Oberfläche trügt. Man darf die Tiefenströme nicht unterschätzen.

    Und von mir gibt’s noch einen Punkt 3: Dein Heidelbergbild hat mir gut gefallen! Ja, Heidelberg rühmt sich der Geistesgrößen, die da mal studiert oder gearbeitet haben, doch die meisten blieben, wie mir scheint, nur ein paar Monate! Anscheinend konnten bereits sie es nicht länger aushalten…

  8. Toleranz@Yoav

    Ich habe es schon einmal ausgeführt und tu es an dieser Stelle noch einmal.

    Würden die postmodernen Prediger der Toleranz tolerieren, dass ein Saudi in Deutschland vier Frauen ehelicht ? Die Frage ist eine rhetorische. Die Antwort ist ein klares Nein.

    Die Frage ist doch, worauf sich das Toleranzgebot bezieht. Ganz offensichtlich hat der Begriff erst dann Gehalt, wenn er mit Inhalt gefüllt wird.
    Toleranz an sich ist kein Wert, sondern eine Haltung der Duldsamkeit, die angemessen oder auch unangemessen sein kann.

    Also nochmal : Was soll denn toleriert werden ? Meine Antwort bleibt dieselbe. Toleriert werden soll alles, was als gesellschaftspolitisch irrelevant wahrgenommen wird. Das betrifft in einer weitgehend säkularisierten Welt insbesondere die Religionen. Diese Toleranz ist im Grunde lediglich Indifferenz. Kurzum : Ich dulde alles, was mir ohnehin gleichgültig ist.

  9. @ Yoav (“Dem Deutschen Volke”, aber wie

    “‘Dem Deutschen Volke’, aber wie lange noch?”…

    Das Deutschtum müsste vielleicht in Zukunft unter Schutz gestellt werden… Ich würde (nicht jetzt, aber vielleicht in 10 Jahren, oder 20) eine Änderung im Grundgesetz vorschlagen.
    Man könnte ja einfach die Wörter untereinander tauschen, z. B. “Deutsch” und “Mensch” (man hätte auf diese Weise eine schnelle und gar nicht aufwendige Lösung – eine “deutsche”?!).

    Dann würde es nicht mehr so klingen wie jetzt:
    “(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. (…)
    (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.”

    sondern:

    “(1) Die Würde des Deutschtums ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.”

    und:

    “(2) Die Menschheit bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen deutschen Rechten als Grundlage jeder deutsch(lich)en Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der [evtl. deutschen]Welt.”

    Dann könnte auch weiterhin “Dem Deutschen Volke”, als Überschrift, einen Sinn machen 🙂

    Und vielleicht wäre auch eine Änderung in der Architektur des Hauses nötig, um die Änderung im Grundgesetz zu symbolisieren.. Vielleicht eine Alternativkuppel aus “neuen”, “modernen” Baumaterialien. Etwa Erdöl und Sand 🙂 Ach, das Glas aus der jetzigen Kuppel ist ja bereits aus Sand gemacht…

    Wie war das? “(…) und geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht auch etwas, davon man sagen möchte: Siehe, das ist neu? Es ist zuvor auch geschehen in den langen Zeiten, die vor uns gewesen sind.”…

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