Wenn wissenschaftliches Potenzial (nicht) erkannt wird

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Heute gibt es wieder ein Fundstück aus der Kategorie “Unterhaltsames”, und zwar einen äußerst originellen Artikel, der es in ein Journal mit Peer Review geschafft hat. Die sprachliche Qualität ließ zwar ein wenig zu wünschen übrig, aber dennoch waren sich die Herausgeber einig, dass dieser kreative Ausdruck wissenschaftlichen Potenzials es verdient, publiziert zu werden.

Bei Wissenschaftlern kommt es auf die Länge an – nämlich die der Publikationsliste. Besonders relevant sind Artikel in Fachzeitschriften, die von Kolleginnen und Kollegen begutachtet werden; das ist der so genannte “Peer Review”-Prozess, bei dem hochqualifizierte Personen kostenlos für Verlage arbeiten, die damit ihrerseits ein Heidengeld scheffeln einiges ihrer Arbeitszeit investieren, um dafür zu sorgen, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen gewissen Qualitätsansprüchen genügen.
Wo die Nachfrage groß ist, gibt es Angebote – und wo Publikationsdruck herrscht, gibt es schwarze Schafe, die Journals mit Peer-Review-Prozess anbieten, in denen Manuskripte gegen eine Bearbeitungsgebühr veröffentlicht werden, um den aufstrebenden Talenten mit Gelddruckmaschine im Keller dabei zu helfen, ihre mehr oder (eher) weniger aufsehenerregenden Befunde in die Welt zu tragen. In der Regel sind solche Zeitschriften alles andere als seriös, und solchen Spam hat vermutlich jeder schon mal bekommen, der in der Wissenschaft arbeitet und dessen Emailadresse auf der Website frei zugänglich ist.
Nun begab es sich, dass zwei Wissenschaftler – David Mazières und Eddie Kohler – von diesen unerwünschten Mails des “International Journal of Advanced Computer Technology” so entnervt waren, dass sie den Herausgebern eine klare Botschaft schickten, und das in zugegebenermaßen origineller Form: Im Layout eines wissenschaftlichen Artikels (einschließlich Grafiken) bestand der Beitrag ausschließlich aus der Wiederholung des Satzes “Get me off your f…ing mailing list” (mit Rücksicht auf sensible Persönlichkeiten, Kinder und niedliche Kätzchen verfremdet, aber Sie wissen schon Bescheid).
Nun die unerwartete Wendung: Der Artikel wurde tatsächlich angenommen, die “Reviewer” waren begeistert, und die Autoren fielen fast vom Stuhl. Nur 150 Dollar Publikationsgebühr standen noch zwischen der Annahme und der Veröffentlichung; aber an diesem Punkt hatte der Spaß dann doch ein Ende (wenngleich der Erstautor durchaus so aussieht, als könnte man mit ihm ganz gut Spaß haben). Anscheinend arbeiten tatsächlich einige hoch kompetente Diagnostiker für dieses Journal, die in der Lage sind, wissenschaftliches Potenzial selbst dann zu erkennen, wenn die Autoren es durch repetitive Sprache und vulgäre Wortwahl wirklich bestmöglich tarnen. (Zumindest mit “Advanced Computer Technology” hatte der Beitrag zu tun, denn es ging ja immerhin um Mailinglisten.) Der Artikel steht online sogar im Volltext zur Verfügung – Ihnen viel Spaß bei der Lektüre 😉

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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