Intelligenzforschung in St. Petersburg

BLOG: Hochbegabung

Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Nun ist es schon fast wieder zwei Wochen her, seit ich aus Russland zurück bin – die letzten Tage sind mit dem Semesterabschluss, letzten Lehrveranstaltungen und allerlei Organisatorischem wie im Fluge vergangen! Der Besuch in St. Petersburg war beruflicher Natur, hat jedoch auch irgendwie mit diesem Blog zu tun: Denn dort trafen sich die Vertreter und Vertreterinnen der internationalen Intelligenzforschung zur Konferenz der International Society for Intelligence Research.

Eine spannende Tagung in einer wundervollen Stadt mit tollen Kolleginnen und Kollegen aus aller Herren Länder – so könnte man es wohl zusammenfassen. Vom 15. bis zum 17. Juli wurde in St. Petersburg das Thema Intelligenz von so gut wie allen Seiten beleuchtet, sodass man einen sehr guten Einblick in die verschiedenen aktuellen Forschungsrichtungen zum Thema Intelligenz bekam und viel lernen konnte. Eine sehr wichtige Rolle spielten verhaltensgenetische und physiologische Aspekte. Sehr spannend fand ich beispielsweise die Keynote von Yulia Kovas, der Hauptorganisatorin der Konferenz, die zeigte, dass die Heritabilität mathematischer und sprachlicher Fähigkeiten über die gesamte Schulzeit hoch ist, die der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten in den frühen Schuljahren jedoch noch eher moderat ist und erst über die Lebensspanne zunimmt. Sie erklärt das so, dass in relativ homogenen Umgebungen wie der Schule, wo alle weitestgehend das Gleiche lernen müssen, die Umwelt einen geringeren Einfluss hat, während Intelligenz in der Schule nicht gezielt gefördert wird und es folglich mehr Variationsmöglichkeiten in der Umwelt gibt.

Douglas Detterman, Gründervater der ISIR, unternahm in seinem Vortrag einen Rückblick auf die 50 Jahre seiner Karriere und den Fortschritt, den die Intelligenzforschung seitdem gemacht hat, eine Diagnostik des Status quo und einen Blick in die Zukunft. Seinen Ausblick, “intelligence is the most important thing that can be studied”, würde ich unterschreiben, aber mit einem Ergänzungswunsch. Einerseits werden wir Intelligenz als Ressource definitiv brauchen, um unsere immer komplexere Welt zu verstehen, und sollten sie deshalb wo irgend möglich identifizieren und fördern. Andererseits, und das ist meine Ergänzung, ist es nur ein Punkt, kognitives Potenzial zu finden – dass diejenigen auch gewillt sind, dieses Potenzial zum Gemeinwohl einzusetzen, ist ein nicht zu vernachlässigender zweiter. Und hier sehe ich durchaus einiges im Argen in einem System, das eher Einzelkämpfertum als Solidarität unterstützt. Um es mit den zwei Dimensionen des BIAS-Modells von Susan Fiske zu sagen: Wir müssen nicht nur die (in dem Fall intellektuelle) Kompetenz fördern, sondern gleichzeitig auch die Wärme, die uns zum Einsatz nicht nur für die eigenen Ziele, sondern auch für andere motiviert.

(Die Keynote von Lars Penke, woran man ein intelligentes Gehirn erkennt, nehme ich mal nicht vorweg – den habe ich nämlich zu einem Gastbeitrag angefragt. Mal schauen, ob er zusagt ;))

Und auch sonst gab es viele spannende Befunde – Ulrike Bastens Darstellungen der Hirnkonnektivität und wie man diese modelliert (didaktisch übrigens hervorragend – da kam selbst jemand wie ich, der davon wirklich wenig weiß, gut mit!), Jelte Wicherts’ Darstellung der Herausforderungen bei der Stichprobenwahl für IQ-Tests, Helen Elizabeth Davis’ Untersuchung räumlicher Fähigkeiten bei Kindern des Tsimané-Stamms in Bolivien, wo die Kinder relativ frei ihre Umwelt explorieren, Sherif Karamas Ergebnisse, dass intelligente Menschen dickere Hirnrinden haben, diese jedoch mit zunehmendem Alter dünner werden, Sophie von Stumms Versuche, über eine App (moo-Q) Daten zu Intelligenz und Stimmung zu sammeln (mit dem Resultat, dass sich die Stimmung nicht auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirkt – hier muss man die Selektivität der Stichprobe berücksichtigen, aber das Datensammeln über eine App ist schon cool!), Erik Kirkegaards Untersuchung der OKCupid-Datenbank, Jakob Pietschnigs aktuelle Ergebnisse zum Flynn-Effekt (der inzwischen zu stagnieren bzw. sich umzukehren scheint) und vieles, vieles mehr ergaben ein hochinteressantes Spektrum der aktuellen Intelligenzforschung. Auch außerhalb des wissenschaftlichen Programms hatten wir viel Spaß (auch nach anderthalb Stunden Schlaf kann man übrigens morgens die Keynote besuchen – Schlaf ist sowieso kein Ersatz für Kaffee!), und die nächtliche Bootsfahrt durch die geöffneten Newa-Brücken war einfach nur großartig. Bleibt festzuhalten: Das war definitiv nicht meine letzte ISIR, und die Reise hat sich definitiv gelohnt!

P.S.: Jakob Pietschnig hat sich übrigens zu einem Experteninterview zum Flynn-Effekt bereiterklärt, worüber ich mich riesig freue! Das werde ich demnächst durchführen. Wenn Sie gern etwas dazu wissen wollen, können Sie Ihre Fragen auch gern schon mal vorab in den Kommentaren stellen – die nehme ich dann mit auf.

P.P.S.: Irgendwie will die Foto-Funktion grade nicht. Wenn’s wieder läuft, liefere ich noch ein paar Bilder nach!

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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