Erwartungswidrige Schulleistungen

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Es ist keine Neuigkeit, dass Intelligenz und Schulleistung nicht immer in einer eindeutigen Beziehung zueinander stehen. Es gibt Schüler, die bei hoher Intelligenz nur unzureichende Schulleistungen erbringen; andere weisen bei niedriger Intelligenz sehr gute Schulleistungen auf. Beide Male handelt es sich um erwartungswidrige Schulleistungen, legt man den Intelligenzwert als Prädiktor an.

In diesem Beitrag stelle ich Aussagen eines Buch vor, welches nun knapp 40 Jahre auf dem Buckel hat. Diethelm Wahl hat sich in den 60er- und 70er-Jahren mit „erwartungswidrigen Schulleistungen als pädagogisch-psychologisches Konstrukt“ beschäftigt. Ihn interessierte, was heute immer noch viele interessiert: Was ist Underachievement? Was ist Overachievement? Und wie kommt es zustande?

Die Grundlage der Überlegungen Wahls besteht darin, dass mit Hilfe einer Regressionsgleichung (x = IQ, y = SN), in der die Schulleistung durch den Intelligenzwert vorhergesagt wird, sich genaue Einschätzungen vornehmen lassen. Deutlich zeigt sich – und das schon in den 60er- und 70er-Jahren, dass die Korrelation zwischen Intelligenzwert und Schulleistung nicht gleich 1 ist, sondern vielfach darunter liegt. Wahl war dmals schon klar, dass folglich Abweichungen kleinerer Art nicht unbedingt als Over- bzw. Underachievement betrachtet werden dürfen. Somit schlug er vor, mittels der Korrelationen Abweichungen zu berechnen, die einen Abweichungsbetrag definieren, der das Achievement – die angemessene Leistung – umspannt. Innerhalb dieses Intervalls seien Abweichungen „normal“. Zudem betonen seine Ausführungen die Universalität, Generalität und Stabilität des Konstrukts „erwartungswidrige Schulleistung“, ohne die eine genaue Überprüfung nicht exakt durchführbar ist (und postuliert somit, dass erstens Intelligenz und zweitens Schulnoten stabil sein müssen).

Welche Variablen für erwartungswidrige Schulleistungen verantwortlich gemacht werden können, versucht Wahl bei seinen Analysen ausführlich darzustellen. Allerdings unterstreicht er, dass häufig bei gleichen Fragestellungen unterschiedliche Effekte aufgetreten sind. Interessant scheinen die Variablen „Leistungsmotivation“ und „Verhalten unter Leistungsdruck“ zu sein, deren Ausprägung offensichtlich Unterschiede hinsichtlich der Variablen zwischen Under- und Overachievern haben müssten. Diese vermeintlich widersprüchlichen Ergebnisse versucht er aufzulösen, indem er methodologische Fehler bei einigen Studien annimmt, denn im Gesamten ist Wahl der Ansicht, Overachiever seien leistungsmotivierter und intrinsischer motiviert, Underachiever hingegen unmotivierter und extrinsisch motivierter. Underachiever sollten auch sofortiges Feedback benötigen, Overachiever verzögertes. Klarere Aussagen fanden sich schon damals bezüglich des Konstrukts „Prüfungsangst“. Underachiever seien ängstlicher als Achiever und Overachiever, trauten sich weniger zu und zeigten daher nicht die entsprechende Leistung. Wahl führt weiter aus, dass auch hinsichtlich des Selbstbildes anzunehmen sei, dass Underachiever aufgrund ihres Erfolgs-Misserfolgs-Verhältnisses eine niedrigere Selbsteinschätzung und weniger Selbstvertrauen besitzen müssten. Diese an sich anzunehmende Logik findet sich allerdings in der damaligen Forschung nicht unbedingt bestätigt, da widersprüchliche Ergebnisse vorlägen, nur in einer Hinsicht Effekte deutlich würden: Beschränkt man die Merkmale auf schulische Selbsteinschätzung und schulisches Selbstvertrauen würden die Unterschiede deutlicher.

Wahl folgert, dass weitere Forschung erforderlich sei, um Faktoren herauszuarbeiten, die zum einen den Umsetzungsprozess von Begabung in Leistung hemmten bzw. förderten. Offenkundig sei die Masse durch ihre Intelligenz befähigt, angemessen zu leisten, doch sei erstaunlich, dass kaum Systematik erkennbar sei, wenn es um erwartungswidrig negative oder auch positive Leistung gehe. Und da sind wir heute nicht viel weiter: Wir können beschreiben, dass der sozioökonomische Status Einfluss nimmt; wir können Geschlecht als Einflussgröße erkennen – doch den wirklichen Zugang haben wir noch nicht gefunden.

Literatur: Wahl, Diethelm (1975). Erwartungswidrige Schulleistungen. Beltz Verlag.

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Veröffentlicht von

Götz Müller ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter des Instituts für Kognitive Verhaltenstherapie (IKVT). Er arbeitet beratend und diagnostisch mit Familien hoch begabter Kinder und Jugendlicher. In der psychotherapeutischen Arbeit beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit dem Underachievement bei Hochbegabten, hier insbesondere bei Jugendlichen.

8 Kommentare

  1. Die Möglichkeit, dass “erwartungswidrige” Schulleistungen ein Indiz für die mangelnde Validität von IQ-Tests für die Erkennung von Intelligenz sein könnten, zieht der Autor nicht in Betracht? Weshalb?

  2. @ D. Müller

    So eine Frage habe ich schon mal in einem selbstentworfenen IQ-Test beantworten müssen. Richtig ist Antwort B: “Damit sägte er an dem Ast, auf dem er (als Teil einer Nischen-Population) herumsitzt, womit evolutionäre Nachteile verbunden wären, die das Individuum nur ungern in Kauf nimmt.”

  3. “Intelligenzwert”

    > Deutlich zeigt sich – und das schon in den 60er- und 70er-Jahren, dass die Korrelation zwischen Intelligenzwert und Schulleistung nicht gleich 1 ist, sondern vielfach darunter liegt.

    Anderes würde ja auch beweisen, dass die Schule oder weitergehend die Bildungssysteme DIE Messgeräte für die Verständigkeit sind.

    So ist es ja zum Glück nicht und berufliches, gar wirtschaftliches Handeln kann auch einen gewissen Wert haben – auch wenn das dem einen oder anderen Bildungsspezialisten nicht direkt einleuchtet.

    MFG
    Dr. W

  4. @ D. Müller

    In Betracht ziehen kann man durchaus, dass der Intelligenztest nicht misst, was Grundlage für die Leistung in der Schule ist. Dann müsste das Konstrukt “erwartungswidrige Testleistung” heißen. Problem ist schlichtweg, dass kaum ein anderes Merkmal so gut bzw. schlecht vorhersagen kann. Oder fällt Ihnen ein besseres ein?

  5. Natürlich ist Schulleistung ungleich IQ

    Ich könnte mir vorstellen, dass es bei idealen Lehrern und einem angepassten Niveau tatsächlich eine Korrelation gäbe. Aber in der Realität sind doch viele Schüler überfordert, andere dagegen unterfordert, und die Noten werden in vielen Fächern nicht wirklich objektiv vergeben.

    Ich habe aus Langeweile in Mathe- und Physikstunden meistens unter der Bank Romane gelesen, in Latein heimlich mit den Mitschülerinnen Doppelkopf gespielt. In meinem Lieblingsfach Englisch habe ich schlechtere Noten erzielt, als der Lehrer das Niveau immer ewiter gesenkt hat, um ein paar Mitschüler durchzuziehen. SN = IQ könnte vielleicht sogar stimmen – aber nur in einer idealen Modell-Umgebung. Im derzeitigen Massenbetrieb sicher nicht.

  6. @D. Müller

    “Die Möglichkeit, dass “erwartungswidrige” Schulleistungen ein Indiz für die mangelnde Validität von IQ-Tests für die Erkennung von Intelligenz sein könnten, zieht der Autor nicht in Betracht?”

    IQ-Tests werden ja gezielt so konstruiert, dass sie Schulleistungen gut vorhersagen. Ihre Frage verweist aber m.E. auf einen ganz wichtigen Punkt — denn diese Erklärung hat auch etwas Zirkuläres: Einerseits konstruieren wir IQ-Tests so, dass sie andere Leistungen, von denen wir annehmen, dass sie mit Inteligenz zusammenhängen, gut vorhersagen; andererseits nehmen wir dann wieder genau diese Leistungen, um die Validität des IQ-Tests zu bestätigen.

    Insofern ist es im Wesentlichen eine “Mehrheitsentscheidung” — die Logik: Wenn’s für die meisten halbwegs funktioniert, sind diejenigen, für die es nicht funktioniert, kein Beweis für Nichtvalidität. Befriedigend ist das nicht wirklich; wenn Sie aber bessere Alternativen haben, sind die herzlich willkommen 🙂

  7. Gedanken über Intelligenz

    Sehe ich ähnlich. Liegt wohl daran, dass man in der Schule eben auch genug Dinge auswendig lernen kann, über die man sich wenig Gedanken gemacht hat.
    Ich war in der Schule eher mittelmäßig, weil ich eben so ein langsamer Denker bin und habe dann meine Fähigkeiten voll im Philosophie-Studium ausleben können.

  8. Hallo von einer Mutter deren Kind (hoch)begabt ist.

    Beide IQ Test’s an meinem Sohn waren wichtig!! Mit 5 und mit 8 J. wurde er altersentsprechend gemacht und beide male ist er mit 126 ausgefallen! Für ihn und uns wichtig zu wissen, weil stetig ADHS Verdacht bestand. Hat man aber ausgeschlossen.

    Ich als Mutter weiss um sein inneres. Aber wir rennen gegen Windmühlen an. Sohn wird von den Kindern nicht angenommen, weil er Streber ist, ausser in Deutsch schriftlich, weil er zuviel hinterfragt, weil er besserwisserisch ist.

    In Hamburg konnte man ihn gut im Unterricht auslasten. Vor kurzem hier nahe Sulingen gezogen, kommt er null zurecht. Unterricht ja, aber die soziale Schiene klappt nicht. Lehrer geht nicht drauf ein.

    Fakt: Sohn verweigert die Schule. Eher würde er sich VOR den Schulbus schmeissen als weiterhin gemobbt zu werden. Das diese Kinder psychisch sehr belastet sind, will keiner wissen!!

    Ich bin hilflos und weiss nicht weiter:0(

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