Zucker ist nicht süß

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Die Sankore Schriften

Zucker ist nicht süß. Die Süße ist keine Eigenschaft des Zuckers, sondern eine Geschmacksempfindung, die von unserem Gehirn konstruiert wird, nachdem der Zucker auf unserer Zunge an bestimmte Rezeptoren gebunden hat. Ohne diese Rezeptoren und ihrer neuronalen Verknüpfung mit entsprechenden Geschmackszentren in unserem Gehirn gäbe es keine Süße. Zucker kann also nur süßen Geschmacks auslösen aber nicht sein Träger sein. Es ist sogar vielmehr so: Wir machen den Zucker süß. Genauso wie es Auslöser des süßen Geschmacks gibt, gibt es auch Blockierer des süßen Geschmacks wie z. B. die Gymneasäure aus einer indischen Kletterpflanze: Beim Kauen der Blätter dieser Pflanze kommt es zu einem selektiven Ausfall des süßen Geschmacks.

Sinneswahrnehmungen und Metaphern

Wie ist das nun, wenn ein Mädchen Justin Bieber „süß“ findet? Halt das ist doch nur eine Redewendung! Und wenn der Zucker schon nicht süß ist, wie kann es dann erst Justin Bieber sein? Ja natürlich, aber vielleicht zeigt sich ja in der funktionellen Magnetresonanztomografie, das bei diesem Mädchen die Hirnregionen, die beim Schokolade essen aktiv sind, mit denen überlappen, die aktiv sind, wenn sie das Foto von Justin Bieber anschaut. Hat denn schon jemand dieses Experiment gemacht?

Die gesellschaftliche Akzeptanz von Süchten

Gerne Schokolade zu essen oder gerne Justin Bieber und Tokio Hotel im Fernsehen anzuschauen, heißt das das Belohnungszentrum aktiviert wird und so sind sich diese Tätigkeiten, wenn man sich die neuronale Aktivität in bestimmten Hirnregionen anschaut, wahrscheinlich ähnlich. Die regelmäßige Aktivierung des Belohnungssystems kann durch einen positiven Feedbackloop unter bestimmten Umständen zur Sucht führen. Manche Menschen sind z. B. süchtig nach Schokolade. Nehmen wir an dieser weibliche Justin Bieber-Fan hat das Zimmer voller Poster ihres Helden, besucht regelmäßig seine Konzerte, kauft jedes seiner Alben, hat den offiziellen Justin Bieber-Newsletter abonniert und ist im Justin Bieber-Fan Klub. Kann man da nicht bereits von einer Form von Sucht sprechen, ähnlich der Sucht nach Schokolade? Allerdings einer Sucht, die gesellschaftlich nicht nur akzeptiert, sondern teilweise erwünscht ist. Inwieweit erfüllt solch ein Fan die psychologischen Suchtkriterien?

Süße und die biologische Evolution des Menschen

Die Fähigkeit den Zucker süß zu machen wurde positiv selektiert, weil es unter den damaligen Umweltbedingungen für unsere Species vorteilhaft war. Doch heute leben wir in Westeuropa und den USA in einer Gesellschaft in der es zuckerreiche Nahrung im Überfluss gibt. Der Nutzen dieser genetischen Ausstattung hat sich verringert und die negativen Effekte des übermäßigen Zuckergenusses auf die Gesundheit werden durch die flächendeckend gute medizinische Versorgung in diesen Regionen, teilweise maskiert.

Durch den globalen Handel können die Produkte der Süßwarenindustrie fast jede Region der Erde erreichen. Die Umweltbedingungen, der Genpool, die geschmackliche und kulturelle Akzeptanz sind von Region zu Region unterschiedlich, sodass sich auch die Auswirkungen dieser Produkte auf die Gesundheit in diesen Populationen unterscheiden.

Gehen wir davon aus, dass zu viel Zucker einen negativen Einfluss auf die Fitness der Populationen hat, weil die zuckerbedingte Krankheitslast steigt. Was passiert nun, wenn es durch entsprechende Mutationen zu einer Desensibilisierung der Süßrezeptoren kommt? Hier sind zwei Szenarien denkbar: 1. Das Belohnungssystem wird weniger stark aktiviert und das Verlangen nach Zucker wird geringer. 2. Durch die Desensibilisierung nehmen die Menschen mehr Zucker zu sich, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Im ersten Fall gäbe es eine positive Selektion im zweiten Fall eine negative.

Genetisches Screening nach Mutationen in den Genen für die Süßrezeptoren ist eine Sache, aber eine Desensibilisierung in einer bestimmten Population über einen bestimmten Zeitraum zu erfassen ist ungleich schwieriger: Süße ist ja keine physikalische Eigenschaft, die man direkt und objektiv messen kann, wir sind deshalb auf Befragungen angewiesen. Wir können z. B. nach einem solchen genetischen Screening, die getesteten Menschen eine bestimmte Sorte Schokolade essen lassen und sie danach anonym befragen, wo auf einer Skala von eins (gar nicht süß) bis sechs (sehr süß), sie diese Schokolade aufgrund ihrer Süße einordnen. Man kann das mit sehr vielen Probanden machen und dann einen Mittelwert der Süße für die befragte Gruppe ermitteln, um den sich die individuellen Werte wahrscheinlich nach einer Gaußverteilung verteilen. Dann kann man schauen, wie die Mutationen mit den so ermittelten Werten korrelieren.

Wenn eine positive Selektion stattfindet und der Selektionsdruck sehr groß ist, sammeln sich diese Mutationen schnell an und erreichen in der entsprechenden Population den Anteil von 1% und werden somit zum Single Nucleotide Polymophism (SNP).  Bloß was heißt “schnell” nach evolutionären Maßstäben? Wenn eine negative Selektion stattfindet, würde man erwarten, dass die Träger dieser Mutationen bei Patienten mit zuckerbedingten Krankheiten überproportional vertreten sind.

Die kulturelle Evolution der Süßwaren

Die kulturelle Evolution der süßen Genussmittel ist unmittelbar mit der biologischen Evolution des Menschen verknüpft. Die Süßwarenindustrie nutzt die “Schwäche” unseres evolutionären Erbe aus und konditioniert uns praktisch auf ihre Produkte indem sie sie mit Zucker anreichert und uns süchtig macht. So wird der Kunde an das Produkt gebunden. Doch auch Süßwaren sind einem Selektionsdruck ausgesetzt. Es ist vorstellbar, dass durch die gesundheitliche Aufklärung die Nachfrage nach besonders zuckerreichen Produkten sinkt und durch strengere Gesetze die Hersteller gezwungen werden den Zuckergehalt zu senken. Die Hersteller werden also noch mehr Produkte mit künstlichen Süßstoffen anbieten müssen, denn nur die erlauben ihnen die Auflagen zu erfüllen und gleichzeitig weiter Bedürfnisse in ihren Kunden zu wecken, um die Nachfrage anzukurbeln. Eine weitere Folge davon wird sein, dass in Zukunft Diabetiker von den Marketingstrategen der Süßwarenindustrie heftig umworben werden, vor allem wenn deren Zahl weiter steigt. Wahrscheinlich wird es dann noch mehr Süßwaren speziell für Diabetiker geben.

Ich hätte Lust mal einen evolutionären Stammbaum der Süßwaren, z. B. von bestimmten Schokoladensorten zu erstellen und zu schauen wie erfolgreich denn die einzelnen Sorten in verschiedenen Regionen der Erde sind. Ähnlich wie es in der biologischen Evolution Brückentiere gibt, die die Schlüsselmerkmale zweier oder mehrerer Arten in sich vereinigen (z. B. das Schnabeltier), so gibt es analoge Produkte in der Genussmittelindustrie: Die Alcopops, die seit einigen Jahren auf dem Markt sind und die biologische Wirkung von Zucker und Alkohol kombinieren. In der Elektronikbranche würde ich das I-Pod dazu zählen, dass die Merkmale eines Telefons, eines Computers, eines Fotoapparats und eines Fotoalbums hat.

Weiterführende Links

Volksdroge Zucker

Sugar Highs and Lows: Sugar on the Brain

Meat-eating animals lack genes involved in detecting sweet flavours

WHO empfiehlt nicht mehr als sechs Teelöffel Zucker pro Tag

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Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

2 Kommentare

  1. Muttermilch / süß

    Muttermilch hat um 7 % Milchzucker (wenn ich mich richtig erinnere), d.h. wir verbinden mit Süße von Anfang an positive Eigenschaften.
    Zudem wird von Kohlehydraten die Entstehung von Tryptophan, einer Vorstufe von Serotonin gefördert – deswegen machen auch Nudeln glücklich.

    Chemikalien (z.B. Zucker) schmecken dann süß, wenn sie als Strukturelement zwei Wasserstoffatome im Abstand von 0,25-0,4 nm haben, welche mit Rezeptoren der Zunge Wasserstoffbrückenbindungen ausbilden können (Quelle: P.M. Magazin 11/2007)

  2. Desensibilisierung

    Es muß ja nicht eine Desensibilisierung stattfinden, sonder eine “Übersensibilisierung” wäre auch denkbar. Ähnlich wie beim Salz, zu viel davon wirkt abstoßend. Extreme Süße finde ich z.B. auch abstoßend.

    Was die Messbarkeit der Sensibilität angeht, könnte man den Zucker solange verdünnen, bis dieser gerade noch schmeckbar ist. Dies lässt sich durch Blindtests besser objektivieren.

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