Frag den Nichtrabbiner: Doppelte Loyalitäten

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Frage: Wie steht es eigentlich um Juden, die Bürger nichtjüdischer Staaten sind? Besteht da nicht die Gefahr, dass sie eine doppelte Loyalität hätten?

Antwort:

Als ehemaliger Schüler von Prof. Moshe Zimmermann habe ich gelernt, dass allen Erkenntnissen der Vergleich vorausgeht. Nun ist es so, dass ein einfacher Vergleich zeigt, dass die Juden beileibe nicht die einzige Nation sind, die nicht nur im eigenen Heimatland leben, sondern zugleich auch zerstreut in anderen Staaten, inmitten anderer Völker. Man denke z. B. an die Deutschen in Rumänien, die Russen in Litauen, die Türken in Deutschland oder die Ungarn in der Slowakei – Beispiele gibt es zuhauf.

Sollte es nun aus irgendwelchen Gründen zu einem Volksentscheid in der ungarisch geprägten Südslowakei kommen: Würden die Ungarn notwendigerweise für die Slowakei optieren? Vermutlich würden viele von ihnen ihre Stimme für Ungarn geben, auch wenn sie bis dahin noch ganz gesetzmäßig ihre Steuern an den slowakischen Staat abführen (um ein triviales Beispiel zu nennen). Das ist auch ganz verständlich und bedeutet, dass die Frage von mehrfachen Loyalitäten kein jüdisches Spezifikum ist, sondern ein allgemeines Phänomen, das sich bei Menschen bekundet, die mehr als eine Identität haben bzw. bei denen es neben der verwaltungstechnischen Staatsangehörigkeit noch andere Zugehörigkeiten gibt (etwa auch religiös bzgl. hochrangiger Amtsträger der katholischen Kirche).

Es ist also nur natürlich, dass viele Juden – wie Angehörige anderer Kollektive auch – mehrere Loyalitäten haben, etwa zu den USA und zu Israel, zu Israel und zu Deutschland. Darum darf die doppelte Loyalität keinem Juden/Ungarn/Russen/Deutschen/… zum Vorwurf gemacht werden. Die Erwartung, dass man nur eine einzige Loyalität hätte, ist realitätsfern und plakativ, weil sie die Komplexität menschlicher Kollektividentitäten bis zur Einfältigkeit vereinfacht.

Die Forderung, man müsste auf alle Identitäten verzichten, die nicht mit der erwarteten Loyalität vereinbar seien, und nur den USA/Deutschland/Russland/… loyal sein, ist in Bezug auf Juden genauso antisemitisch wie der Vorwurf, Juden könnten den USA/Deutschland/Russland/… grundsätzlich nicht loyal sein, weil sie sich auch mit dem jüdischen Staat verbunden fühlen oder dies eines Tages tun könnten.

PS.
Hiermit wird in diesem Blog eine neue Rubrik feierlich eröffnet: Kurze Antworten auf gekürzte Fragen, die mir etwa durch diesen Blog zumindest teilweise tatsächlich gestellt (und ansonsten von mir nur ausgedacht) worden sind. Die Rubrik heißt "Frag den Nichtrabbiner", weil ich mich dank meines Ausstieges aus der Rabbinerausbildung dazu berechtigt, ja gar verpflichtet fühle, fortan neben dem Magister Artium auch den Titel "Nichtrabbiner" anzuführen.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

Schreibe einen Kommentar