Mollath oder: Späte Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit
Tagebücher der Wissenschaft
Nun ist er vorerst frei, und sein Prozess wird neu aufgerollt: Gustl Mollath. An diesem Fall macht mich etwas exemplarisch wütend. Da ist ein Mensch verurteilt worden, sagen wir: zu Recht, und alles war in voller Ordnung. (Das soll hier nicht der Punkt sein. Gerecht mag alles zugehen – nur so sehr laaaaangsam, dass es wie widerwillig aussieht!) Einige Zeit nach dem Urteil stellt sich ein für die Psychiatriedauerunterbringung wesentliches „Wahngebilde“ gigantischer schwarzen Kassen als im Kern real heraus. Darf man Mollath dann noch in der Psychiatrie behalten? Das bezweifelten viele seit langen Jahren, mit der Zeit wurde daraus durch immer wieder nachbohrende Artikel der SZ eine Art Lawine: „Mollath sitzt zu Unrecht lebens-lang in der Anstalt!“
Was mich immer wieder wütend macht, ist der Umgang eines Systems mit etwas, wo der normale Mensch mit normalem Sinn eine Korrektur nötig findet. Es ist nicht einzusehen, dass Mollath einfach so weggesperrt bleibt – ohne Neuuntersuchung. Was aber passiert im Justizsystem? Nichts Sichtbares. Natürlich kann die Justiz nicht bei jedem Zweifel immer gleich alles ändern, aber die Berichte in der SZ sind nicht einfach „wenig“. Was passiert? Nichts, bzw: die Mühlen der Justiz mahlen vor sich hin. Wiederaufnahmeanträge werden von Schreibtisch zu Schreibtisch geschoben, Kritik zurückgewiesen, dass Mollath oft nur nach Akten beurteilt wurde – das ist wahrscheinlich so üblich?!
Ich stelle mir die Psychiatrie vor. Da sind vielleicht 20 bis 30 Ärzte, viele Pfleger und Aufseher, die die Patienten betreuen und zum Teil eben bewachen. Sie alle lesen monatelang in der Zeitung, dass sie da jemanden eingesperrt halten, der wahrscheinlich nur straffällig und nicht gemeingefährlich war und eine Haftstrafe in der Sache längst verbüßt hätte. Mit der Zeit hatte daran in Deutschland kaum noch jemand irgendwelche Zweifel. Naiv gesehen könnte die Psychiatrie Gustl Mollath doch noch einmal untersuchen? Berücksichtigen, dass seine Wahngebilde kein reiner Wahn sein konnten? Es ist nicht der juristische Lauf der Dinge, das ohne Anordnung zu tun – ich weiß. Aber wie denken die Ärzte dort als Menschen, die den Eid des Hippokrates abgelegt haben? Was denken sich die Juristen als Menschen, als die sie sich der Gerechtigkeit verschrieben haben? Was geht in ihnen vor? Als Mensch? Darf ich das einmal bohrend fragen?
Es ist der Umgang mit solchen Einzelfällen, wo sich fast Abgründe auftun. Ich weiß, dass Mollath „ein Einzelfall“ ist, aber es werden gerade schon andere ans Licht gezogen. Immer wird zuerst gesagt, es seien Einzelfälle, bei der NSA und der Kirche ja auch.
Und wie behandelt man diesen Einzelfall? Durch langes, langes Abarbeiten. Die Verfahrensmühlen laufen, an den Einsitzenden denkt keiner. Beeilung? Nicht zu sehen. Sieht die Justiz nicht, dass das kein Bürger verstehen kann? Lebt der Respekt vor ihr nicht davon, dass wir alles rund um die Justiz ehrend achten? Merkt sie nicht, dass es auch Justizverdrossenheit geben kann?
Es ist Wahl in Bayern und Deutschland, da kommt es gut, wenn sogar ein Ministerpräsident einmal so einen naiven Einfall hat wie ich eben: man könnte sich den Fall noch vor der Wahl anschauen. Diesen Einfall ihres Chefs hört eine Ministerin ein paar Mal unwillig an und tut ihn als naiv und nicht prozesskonform ab. Bald jedoch, weil sie wegen der Wahl das Gewissen drückt, gestattet sie sich die naive Frage, ob es(im Sinne ihrer Wiederwahl) alles so richtig zugeht im Fall Mollath. Ach, und dann gibt es zeitnah einen Gerichtsbeschluss, der aus einem ganz irre fadenscheinigen Grund eine Wiederaufrollung anordnet. DIESEN Grund zur Wiederaufnahme hätte man sich all die Jahre aus den Fingern saugen können. Gut, nun ist Mollath erst einmal aus der Psychiatrie und bekommt ein neues Verfahren. Jahre zu spät, einfach so viel zu spät.
Was steht in der Presse? So etwa das: „Der Rechtsstaat hat obsiegt.“ – „Der Gerechtigkeit ist Genüge getan.“ – „Man sieht, dass unser Rechtssystem letztlich doch richtig entscheiden kann.“ – „Wir als Juristen haben unabhängig entschieden. Frech, dass man uns Einknicken vor der Politik zutraut. Wer das sagt, schadet dem großen Ansehen der Justiz.“
Ja, schämt sich keiner? Warum machen wir keinen Sturm? Derzeit ist nur Sturm, weil im Raum Mainz die Züge nicht fahren können – der Bahn fehlt dauerhaft (!) Personal. Wir haben derzeit fast eine veritable Mainz-Staatsaffäre, „nur“ weil so viele entrüstete Menschen eine Stunde zu spät zur Arbeit kommen. Aber im Justizwesen fehlt doch wohl auch Personal? Nachhaltig und immer? Und da kommt alles Monate und Jahre zu spät? Kümmert das jemanden?
Die Mühlen mahlen so langsam… Immer wieder so quälend, oft liest man es so: Nach Monaten eine Anklage. Der Anwalt ist krank. Vertagung. Eine Akte kam neu hinzu. Vertagung. Ein Gutachten fehlt. Vertagung. Alle reisen immer brav zum Termin an – wieder eine Kleinigkeit: Vertagung.
Dazu fällt mir ein, dass das bei großen IT-Projekten bis in die 90er Jahre auch so war. Schritt für Schritt wurde alles erledigt, jeder kleine Mist zwischendurch erzeugte Wartezeiten, Kosten und Ärger. Dann begann man, mit Projektleitern zu arbeiten, die die Projektleitung wirklich als Leistungsberuf gelernt hatten. Da begann alles schneller zu gehen. Brauchen wir vielleicht wirklich VERANTWORTLICHE Justizprojektleiter (nicht nur best-can-do-Kümmerer auf Sachbearbeiterebene), die sicherstellen, dass alles im Gerichtssaal ist, wenn alle anreisen? Kann man vielleicht unwichtigere Zeugen per Skype vernehmen? Etc.
Dazu müssen natürlich wieder Gesetze geändert werden, was nach den Zeitvorstellungen der Wahlkämpfer geschehen müsste. Liebe Beamte: In der Automobilproduktion, im Maschinenbau und in den Banken, Verlagen und anderswo haben die Arbeiter und Angestellten die Prozesse um ein Vielfaches beschleunigen können. Sie haben dadurch große Mehrwerte geschaffen und ihre Lohnerhöhungen sauer verdient.
Und dann sind da andere, die nach sündhaft teuren Zeit- und Effizienzvorstellungen alter Zeiten arbeiten – und jedes Mal, wenn die Produktionsarbeiter unter Stelleneinsparungen und persönlichen Opfern die Wirtschaft nach vorne gebracht haben, „den Anschluss an die Lohnentwicklung der Industrie“ verlangen.
Ach, ich bin wütend. Nicht auf die Richter, die Sachbearbeiter und schon gar nicht auf die Fahrdienstleiter der Bahn bei Mainz. Sie sind ja alle überlastet und krank von Bergen aus Arbeit. Sie sind gezwungen, aus der Sicht heutiger Projektleitungskunst ineffizient zu arbeiten. Das Schlimme ist eben, dass sich niemand um diese alten Systeme kümmert: um die auch noch heute manuell zu bedienenden Bahnweichen aus der Kaiserzeit und die Ewigkeit im Justizwesen.
Späte Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit Genüge getan“? Ich spucke Hohn. Die Gerechtigkeit dieses Einzelfalls ist vielleicht irgendwie wiederhergestellt oder das geschieht vielleicht im neuen Verfahren, was bestimmt wieder bis 2015 dauert – aber die Makrolage ist doch immer ganz finster! Und wir als Volk sind ganz finster: Wir sind jedes Mal mit einem System versöhnt, wenn dieses nach langem Hickhack dann doch wieder einmal kurz einen Knicks vor uns macht. Und ich frage ratlos: Dann kann alles so weiter gehen? Sind wir immer schon mit Entschuldigungen zufrieden? „Entschuldigung, dass die Banken uns das alles antaten.“ – „Verständnis bitte, dass es mehrere Jahre keine Zinsen für uns und deshalb kaum Lebensversicherungsauszahlungen gibt, damit die Banken wieder Eigenkapital sammeln können.“ – „Entschuldigung, dass Priester so etwas taten.“ – „Entschuldigung wegen der Störung im Betriebsablauf.“ Ja sind wir immer schon zufrieden, wenn sich jemand entschuldigt?
Im Justizwesen sind wir noch nicht einmal so mini-weit gekommen. Hat schon einmal ein Jurist gesagt: „Entschuldigung, dass es immer so grässlich lange dauert?“