Deepstaria – enigmatische Tiefsee-Qualle mit Netzmuster
BLOG: Meertext
Rätselhafte Gestaltwandlerin, wabernde Glocke oder Pottwalplazenta?
Deepstaria ist ein ungewöhnlicher gelatinöser Koloß der Tiefsee und gibt immer wieder Rätselraten auf.
Auf Twitter hatte ich gerade diesen Tweet von The Unknown Explorer retweeted und die gelatinöse Kreatur darauf fälschlich als Rippenqualle bezeichnet. Das stimmt nicht, sie ist eine echte Qualle mit Nesselzellen. Die transparent-wabernde rötliche Struktur in 1088 Metern Tiefe bei 4 °C gehört zu den Fahnenquallen ((Semaeostomeae). Ihr Schirm ist ungewöhnlich glockenartig geformt und sie erinnert an eine übergroße Portion rötlich-bräunlichen Wackelpuddings – allerdings hohl.
Diese Tiefseeforscher waren auf dem privaten Forschungsschiff E/V Nautilus unterwegs und schauten über die Bildschirme an Bord, was ihr ROV Hercules gerade in der Tiefe vor dem Revillagigedo-Archipel (mexikanisches UNESCO-Weltnaturerbe) vor die HD-Kamera und die neu entwickelte Low-Light-Kamera für Biolumineszenz kam (ROV: Remotely Operated Vehicle, ferngesteuerter Tauchroboter).
Die Begegnung aus nächster Nähe zeigte eine sehr große Geleestruktur. Sie ist hohl wie eine Tasche und verändert vor den Augen der Biologen ihre Gestalt, der Hohlkörper fällt zusammen, dreht sich, präsentiert durch die Öffnung einen Blick ins Innere der Glocke und wirkt insgesamt eher wie ein Alien als eine Qualle. Das Tiefseetier versorgt mit Hilfe eines auffallend geometrischen Netzwerks von Kanälen den gesamten sehr flächigen Körper mit Nährstoffen und fängt mit dieser großen Geleeglocke es andere Tiere ein.
Das Forschungsschiff E/V Nautilus gehört der privaten Forschungsunternehmen Nautilus (Dr. Robert Ballard) und erkundet unbekannte Regionen des Ozeans auf der Suche nach neuen Entdeckungen in Biologie, Geologie und Archäologie. Bei den Fahrten kann sich jedermann/jederfrau unentgeltlich live zu den Kameras dazuschalten.
Ganz ähnliche Reaktionen hat dieses Tier schon früher hervorgerufen – das Team des großartigen, leider erloschenen Tiefsee-Blogs DeepSeaNews war sich bei der ersten Sichtung zunächst unsicher, ob das vorbeitreibende rötliche Gewebe
a) eine abgelöste Wal-Plazenta oder
b) eine geheimnisvolle Tiefseekreatur
sei.
Tatsächlich ist diese ungewöhnlich große Tiefseequalle – ihre Glocke erreicht bis über 60 cm Durchmesser – schon länger bekannt: Zuerst wurde Deepstaria enigmatica im Jahr 1966 in einer Tauchtiefe von 723 m vor Südkalifornien mit dem Forschungs-Tauchboot Deepstar lebendig beobachtet und dann 1967 unter der Überschrift „On a remarkable new scyphomedusan“ von F. S. Russell wissenschaftlich beschrieben. Ihr Artname enigmatica betont ihre Rätselhaftigkeit. 1988 wurde dann die zweite Art als Deepstaria reticulum beschrieben, ihr Artname reticulum bezieht sich auf die netzartige Struktur.
Jede Qualle hat in ihrem Schirm Radiärkanäle zur Versorgung. Bei Deepstaria erinnert die Glocke mit den Kanälen eher an Rippenquallen, als an andere Medusen mit leicht erkennbarem Schirm. Tentakel, wie jede andere anständige Nesselqualle hat sie nicht. Dafür ist ihre Schirmwand so dünn, dass sie ständig peristaltische Bewegungen vollführen muss, weil die Struktur sonst kollabiert und keine Beute mehr einfangen kann. Ohne Tentakel fängt sie ihre Beute in der sackartigen Schirmstruktur und zieht deren kleine Öffnung dann zu. Der DSN-Blog zitiert Passagen aus der Erstbeschreibung dieser seltsamen Bewohnerin des Meso- und Bathypelagials unter 1000 Metern und ist sehr spannend zu lesen.
Dieses Video des Monterey Bay Aquarium und Research Institute (MBARI) zeigt ein sehr rötliches Exemplar:
The scyphomedusa Deepstaria, MBARI (Monterey Bay Aquarium Research Institute)
Da die Qualle bereits 1967 nach dem Tauchboot Deepstar – einer „Fliegenden Untertasse“ – benannt wurde, hat sie nichts mit dem erst 1989 gedrehten Tiefsee-SF-Horrorfilm zu tun, der mir bei dem Namen sofort in den Sinn kam.