Das Attentat (Kurzgeschichte)

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Zeit, mal wieder eine Kurzgeschichte zu veröffentlichen, diesmal eine aus eigener Produktion. Ich hatte sie ursprünglich als Beitrag für den Wettbewerb (s. Beiträge zwischen 1. Feb und 4. März 2008) vorgesehen – falls sich niemand beteiligt hätte. Hier also nachgeliefert zum 1. April und "außer Konkurrenz": Das Attentat. Hoffen wir, dass es ein makabrer April-Scherz bleibt.

Irgendwann wird es passieren. Genau hier, wo es den größten Schaden anrichten kann. Unter dem Marienplatz im Herzen von München. Genau hier wird es passieren. Irgendeiner wird es tun –

Diese Gedankenkette durchzuckte Jan Wendell jedes Mal, wenn er mit der U-Bahn in die Stadtmitte fuhr und dann auf der Rolltreppe stand, die ihn hoch zum Marienplatz transportierte. Er schaute sich all die Leute an. Sah die Nutzlosigkeit in ihren Gesichtern. Spürte diese Nutzlosigkeit in sich selbst aufwabern. Im Lauf der Jahre fraß sich dieser Gedanke immer mehr in ihm fest. Schon unten, bevor er die Rolltreppe betrat, die so endlos lang nach oben führte (seine Mutter hatte immer so ein ungutes Gefühl gehabt, wenn sie da hochfuhr; aber seine Mutter war schon lange tot).

Wenn er hinunterfuhr, kamen ihm diese Gedanken nie. Immer genauer stellte er sich vor, wie es geschehen würde. Ein Mann würde es sein, ein Mann mittleren Alters. Vielleicht sogar genau so alt wie er selbst: 37. So alt war er, als ihm diese Gedanken das erste Mal kamen. Etwas ausländisch würde der Mann sein, mit einem Bart, wie die Moslems ihn tragen. Ja, ein Moslem würde es sein, ein islamistischer Terrorist, klar, wer denn sonst!

Aber es geschah nicht. Es gab kein Attentat. Woanders schon, immer wieder. Aber hier in München, unter dem Marienplatz, oder unter dem Hauptbahnhof, wo er sich manchmal vorkam wie in einem undurchschaubaren Labyrinth mit all diesen Treppen, Gängen, Quergängen, Bahnsteigen –

Hier nicht, hier in München gab es kein Attentat (wenn man das vom Oktoberfest 1980 mal außer acht ließ).

Er lhörte auf, sich zu rasieren, einfach so. Um mal auszuprobieren, wie sich das anfühlte, so mit Bart. Er kaufte sich einen Koran, eine Spalte arabisch, die andere in deutscher Sprache. Er kaufte sich einige Bücher über den Islam. Man musste ja gewappnet sein. Einmal ging er zu der neuen Moschee, die sie in Pasing bauten. Aber er ging nicht hinein. Allmählich löste er sich von der Vorstellung, dass es ein islamistischer Terrorist sein würde. Es gab ja auch Rechtsextreme, die mit solchen Gedanken spielten, oder sie sogar ausführten. War da nicht in Italien mal was gewesen, in Bologna, im Hauptbahnhof?

Den Bart behielt er. War so ein Ritual am Morgen, ihn ordentlich zu trimmen. Steht dir gut, dachte er, wenn er vor dem Spiegel stand. Sonst war da ja niemand in seiner Wohnung. Im Job war er da schon einige Male abgemahnt worden. Nicht etwa wegen des Bartes. Einfach so. Oder weil er sich verändert hatte? Kein Fleisch mehr aß, in der Kantine? Absonderliche Fragen stellte – was für einen Sinn es habe, solche Geräte herzustellen, er und die Kollegen – denen man dann tausenderweise kündigte?

Aber noch blieb er im Job. Las viel. In seiner Freizeit. Manchmal auch während der Arbeitszeit, wenn es gar zu langweilig war. Plötzlich war da eine Idee in ihm. Gleitschirmfliegen. Wie weiland der Ikarus durch die Lüfte segeln. Aber nicht abstürzen. Er würde das geschickter machen.

Oder wie wär´s, andere fliegen ztu lassen – durch die Luft fliegen? Ka wa wumm –

Solche Gedanken schob er rasch wieder in die hintersten Windungen seines Gehirns. Dann kam das mit den Schwindelanfällen. Der Ohrenarzt (zu dem der Internist ihn überwiesen hatte zu dem die Hausärztin ihn überwiesen hatte zu welcher der Betriebsarzt ihn geschickt hatte) – der Ohrenarzt also meinte, "da könnte was mit Ihrem Labyrinth nicht stimmen -"

"Labyrinth?"

"Ja, in ihrem Ohr, diese drei Bogengänge, ohne die man der Schwerkraft hilflos ausgesetzt ist -"

"Aha, nennt man das auch Labyrinth -"

"Und in der Leber haben Sie ebenfalls eines, wie jeder Mensch -"

"Ist ja interessant, ein Leberlabyrinth -"

Als er 38 war und noch immer kein Attentat stattgefunden hatte, war er sehr irritiert. Kann man sich so täuschen? dachte er. Sein Job bei Siemens ging verloren, weil man da wieder mal ein paar Tausend entliess, und diesmal war er dabei. Sozialverträglich. Ihm war das nur recht. Den Job hatte er ohnehin nie gemocht und das Geld, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, warf genug Zinsen ab. Zusammen mit der Abfindung, die er in Bundesschatzbriefen anlegte, war dies fast so etwas wie eine kleine Rente. Er konnte ja bescheidener leben als vorher. War nicht weiter schwer. Eigentlich sollte er mit dem Labyrinth seines Lebens, wie er sich angewöhnt hatte, es zu nennen, wenn er mal wieder nicht aus noch ein wusste, oder wenn eine Frau, die er angepeilt hatte, ihm mal wieder eine Abfuhr erteilt oder er sie gar nicht erst angebaggert hatte (blödes Wort, angebaggert, aber es traf schon die Situation, seine Unbeholfenheit) –

Nein, das Labyrinth seines Lebens war nicht dadurch übersichtlicher geworden, dass er den Job verloren und noch immer keine Frau gefunden hatte, weiss Gott nicht.

Eigentlich hätte nach dem Verlust des Jobs ja alles einfacher sein müssen, nicht mehr labyrinthisch (wie er das Wort hasste, gerade weil es so treffend war, er hatte da inzwischen viel drüber gelesen!). Aber irgendwie war es schlimmer, bedrohlicher geworden. Er sah Hartz IV auf sich zukommen, sah die Kündigung der Wohnung –

Jetzt konnte er sich seltsamerweiser auf diese Gedanken konzentrieren, wie er es sich angewöhnt hatte, sie zu nennen. Wenn es sonst niemand machen will, dachte er eines Morgens im Gewimmel unter dem Marienplatz – dann muss ich es halt vielleicht selbst machen.

Er recherchierte im Internet, wie man eine Bombe bastelt, die ordentlich wumm macht. Im Internet war alles zu finden, nicht nur Pornographie, oder 40 Millionen Hits, wenn er bei Yahoo das Stichwort "Labyrinth" eingab. Dass es passieren würde, diese Überzeugung war in ihm fester denn je. Auch wie es ablaufen würde. Um 11.00 Uhr würde es sein, wenn wirklich viele Menschen hier unten herumirrten. Oder um 13.15 Uhr, wenn die Schüler alle heimfuhren, mit den U-Bahnen und S-Bahnen –

Marienplatz – oder doch eher Hauptbahnhof? Über dem Marienplatz war das Rathaus, ein sehr symbolischer Ort. Andrerseits: der Hauptbahnhof hatte auch Vorteile, war auch ein Symbol, und all die vielen Menschen –

Jetzt überkamen ihn solche Gedanken schon, wenn er unter dem Marienplatz den U-Bahnwagen verließ und die Rolltreppe noch nicht einmal sehen konnte. Jemand würde eine Tasche oder eine Einkaufstüte abstellen, wie aus Versehen. In dem Trubel würde das nicht auffallen. Die Tasche würde voll mit Semtex sein oder einem noch stärkeren Plastiksprengstoff. Der Zünder würde ticken. Zehn Minuten würde sich der Attentäter Vorsprung verschaffen. Nein, sich selbst würde der Mann nicht mit in die Luft sprechen, dessen war sich Jan Wendell inzwischen sicher. Es würde kein islamistischer Terrorist von Al Qaida sein. München war auch viel zu unwichtig. Aber Berlin?

Dann kam der Tag, an dem er in der Kaufingerstraße einen Notizblock mit einem schönen farbigen Umschlag und dem Schriftzug Tagebuch kaufen wollte. Er war bereit. Er würde alle seine Vorbereitungen in diesem Buch festhalten. Jeden einzelnen seiner Schritte. Wie er den Sprengstoff herstellte (Sempex war mega-out – wozu Plastiksprengstoff, wenn er durch keine Sicherheits-Check musste, und wenn es vor allem viel wummigere Sachen gab, die sich leicht mischen ließen). Wie er den Zeitzünder besorgte. Wie er –

Es war in einer der Nächte danach, dass er von einem seltsamen Geschöpf mit Hörnern träumte, das tief unter der Erde durch Gänge schlich, die ihn nach dem Aufwachen an die Fahrten mit der U-Bahn erinnerten, denen er sich manchmal stundenlang mangels einer sinnvolleren Tätigkeit hingab, war ja kein Problem mit der Monatskarte.

Als er mal in einen der vielen U-Bahnhöfe einfuhr, stach ihm ein Werbeplakat für einen Film ins Auge: Minotaurus, las er, konnte sich aber auch getäuscht haben. Seltsam, von dem hab ich doch neulich geträumt. Doch er vergaß das Ganze wieder, Traum und Filmplakat.

Ach ja, eine passende Tasche mußte er auch noch besorgen. Im Kaufhof. Er trat aus der U-3, die heute auffallend leer war. Ach so, da war wieder so ein Streik bei der S-Bahn angesagt und bei den Zügen, traf einen wohl auch hier unten. Naja, ihm sollte das egal sein. Er musste nur ein Tagebuch besorgen, so ein gebundener Notizblock mit leeren Seiten, eben wie ein Buch. Ach ja, und die Tasche, die musste er auch noch besorgen. Die Tasche? Da lag doch eine, gleich gegenüber der Rolltreppe. An der Wand. Die Größe passte. Die konnte er doch nehmen. Bevor jemand anderer sie nahm.

wumm

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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