10 Jahre ISS – “kümmerliche Ergebnisse”?

BLOG: Zündspannung

Blick über den Plasmarand
Zündspannung

 

Die Internationale Raumstation ISS feiert diese Tage ihren 10. Geburtstag. Die Süddeutsche Zeitung publiziert dazu in ihrem Wissenschaftsteil einen Artikel, in dem sie behauptet: "Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des 100-Milliarden-Euro-Projekts sind kümmerlich." Das einzig Positive, was der Autor des Artikels, Alexander Stirn, an der ISS finden mag, ist die internationale Zusammenarbeit. 

Er zitiert als Beleg für die Behauptung, dass die Erkenntnisse kümmerlich seien, übrigens nur eine Studie über einen Forschungsflug des Space Shuttles. Ich bin sicher, dass ein wenig mehr Recherche durchaus interessante Ergebnisse der Forschung auf der ISS gebracht hätte, die Herr Stirn hätte zitieren können.

Leider steht viel weniger Zeit der Astronauten und Kosmonauten für die Wissenschaft zur Verfügung als eigentlich gedacht, da im Moment permanent nur drei Personen auf der Raumstation leben und der Großteil deren Arbeitszeit für die Wartung der Station selbst verwendet werden muss. Natürlich muss deshalb auf aufwendige weitgehend Wissenschaft verzichtet werden – aber es bleibt zu bedenken, dass dies hoffentlich erst der Anfang der ISS ist. Der Aufbau der Station hat sich verzögert, aber spätestens dann, wenn wie geplant sieben Astronauten und Kosmonauten – und vielleicht auch einmal Taikonauten – auf der ISS leben und arbeiten werden, wird mehr Zeit für die Versuche bleiben.

Alexander Stirn schreibt: "Weil die Weltraumbewohner kaum Zeit für Experimente haben, wurden die Versuche an Bord der ISS weitestgehend automatisiert – was indirekt beweist, dass es für diese Forschung eigentlich keine Astronauten bräuchte. Experimente werden heute in Standard-Behältern ins All geliefert." Mit dieser Logik wird das Pferd von hinten aufgezäumt. Wenn keine Zeit für aufwendige Versuche bleibt, werden eben genau diese Experimente durchgeführt, die wenig der kostbaren Raumfahrer-Zeit beanspruchen. Das bedeutet keinesfalls, dass es keine sinnvollen Experimente gibt, die "Handarbeit" benötigen.

Unsere Gruppe am MPE hat das Glück, mittlerweile schon das zweite Experiment zu komplexen Plasmen auf der Raumstation zu betreiben, in Zusammenarbeit mit unseren russischen Partnern vom JIHT. Die Resultate, die dabei erzielt werden, sind keineswegs "kümmerlich". Schwerelosigkeit ist für unser Forschungsgebiet, die komplexen Plasmen, wichtig, da nur unter diesen Bedingungen ein gleichmäßiges System im Hauptteil des Plasmas erzeugt werden kann, das es erlaubt, auch die kleinen, gerade interessanten Kräfte zu untersuchen. 

Das erste Plasmakristall-Experiment, PKE-Nefedov, hat zu mehr als 30 Fachartikeln in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften geführt und viele neue Erkenntnisse im Bereich der komplexen Plasmen gebracht. Dabei konnten zum Beispiel Kristalle auf dem fundamentalen Level, also jedes einzelne "Atom", untersucht werden, was auch in anderen Gebieten der Physik, wie der Festkörperphysik, von Interesse ist.

Ein anderer Forschungsgegenstand ist die Entladung von den Teilchen im Plasma, wenn dieses gerade ausgeschaltet wurde. Da Plasmen wie in dem Versuch auch in industriellen Anwendungen vorkommen, ist dies durchaus von Interesse. Auf der Erde würden die Teilchen allerdings sofort nach unten fallen, wenn das Plasma ausgeschaltet wird, so dass diese Versuche nur in der Schwerelosigkeit auf der ISS durchführbar sind.

Ähnlich ist auch die Untersuchung des Verhaltens von Teilchen beim Einstreuen in die Kammer ohne Plasma – sie laden sich durch die Reibung untereinander geringfügig auf und bilden Klumpen, was z.B. die  Planetenentstehung beschleunigen könnte.

Auch das Nachfolgeexperiment, PK-3 Plus, hat schon interessante Ergebnisse geliefert, zum Beispiel zu sogenannten "elektrorheologischen" Flüssigkeiten, die ihre Strömungseigenschaften mit einem angelegten elektrischen Feld ändern. Diese Materialien sind in vielen Bereichen anwendbar und konnten auf der ISS mithilfe von dem Plasmakristall-Experiment ebenfalls auf dem fundamentalen Level untersucht werden.

Auch ist es nicht wahr, dass der Astronaut oder Kosmonaut auf der ISS nur einen Knopf drücken muss, und alles läuft automatisch ab. Solche Experimente gibt es bei uns auch, aber nicht immer lässt sich alles soweit automatisieren. Zum Bespiel bei dem Versuch, der im letzten Sommer für meine Doktorarbeit durchgeführt wurde, war der Kosmonaut dringend notwendig: Er sollte solange die Spannung verringern, bis ein bestimmter Effekt auftrat – und da diese Versuche noch nie in der Schwerelosigkeit durchgeführt worden, wusste wir einfach nicht, bei welcher Spannung das gewünschte Verhalten auftreten würde. So etwas kann nicht automatisch geregelt werden, ein Experimentator, der aktiv den Versuch durchführt und weiß, was er tut, ist unbedingt vonnöten. Deshalb werden die Raumfahrer auch vor ihrem Flug an dem Versuchsaufbau trainiert.

Es gibt mittlerweile auch einen "Spin-Off" der Forschung an komplexen Plasmen: Durch ein Plasma wird alles, was mit ihm in Kontakt kommt, negativ aufgeladen, wie die Kügelchen, die in es injiziert werden. Bestrahlt man nun eine von Bakterien infizierte Wunde mit einem Plasma, laden sich auch die Bakterien negativ auf und zerplatzen dadurch, was die Heilung der Wunde begünstigt. Es laufen im Moment klinische Tests einer Apparatur, die genau diese Technologie zur Sterilisierung von offenen Wunden anwenden. Für die Herstellung dieser Apparatur wurde technisches Wissen verwendet, das genau bei dem Plasmakristall-Experiment entstanden ist. Vielleicht wäre dieses Wissen auch ohne die Raumstation entstanden und in die Anwendung umgesetzt worden, wir wissen es nicht  – aber genau das ist nun einmal ein Spin-Off: es ist zufällig dabei herausgekommen, ohne dass es geplant gewesen wäre.

Ich denke, dass in der Zukunft, wenn noch mehr Zeit für Experimente auf der ISS zur Verfügung steht, durchaus noch viel Potential in der Raumstation steckt, nicht nur in unserem Forschungsgebiet. Und ich möchte den Ingenieuren, Technikern, Kosmonauten und Astronauten, Administratoren und allen weiteren, die dieses Projekt möglich gemacht haben, herzlich zu dieser großartigen Leistung gratulieren und wünsche ihnen und uns allen noch viele weitere erfolgreiche Jahre mit der Raumstation.

 

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Erhöht man die Spannung zwischen zwei Elektroden, die ein Gas umgeben, beginnt das Gas irgendwann zu leuchten: Freie Elektronen im Gas haben genug Energie, um die Gasteilchen zu ionisieren und noch mehr Elektronen aus den Atomen zu schlagen. Ein Plasma wurde gezündet, die Zündspannung ist erreicht. Gibt man nun noch zusätzlich Mikrometer große Teilchen in das Plasma, erhält man ein sogenanntes "Komplexes Plasma", mit dem ich mich zunächst als Doktorand und Post-Doc am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik und nun an der University of California in Berkeley beschäftige. In diesem Blog möchte ich sowie ein wenig Einblick in den Alltag im Forschungsinstitut bieten, als auch über den (Plasma)-Rand hinaus blicken. Mierk Schwabe

4 Kommentare

  1. Relativer wissenschaftlicher Nutzen?

    Hundert Milliarden Euro sind eine ungeheure Summe. Das ist, wenn ich mich nicht verrechnet habe, mehr als 20 mal das, was für das Hubble-Space-Teleskop ausgegeben wurde (inklusive der Reparaturmissionen), mehr als 75 mal das Jahresbudget der DFG, und es sind mehr als 15 mal die Kosten für den Large Hadron Collider. Und wenn das Forschungspotenzial bei der Lobbyarbeit für das Projekt so herausgestellt wurde (entnehme ich dem SZ-Artikel), dann muss man natürlich fragen dürfen: Gemessen an diesen enormen Kosten, am Vergleich mit den Kosten anderer bahnbrechender Projekte, und an den diversen Satellitenteleskopen und sonstigen Missionen, die wegen des ISS-Kostenanstiegs ins Gras beißen mussten oder auf unbestimmte Zeit verschoben wurden, wie ist es denn nun mit den Forschungsergebnissen?

    Nichts gegen die Forschungsprojekte, die ihr da durchführt – die hören sich nach deinen Blog-Schilderungen tatsächlich interessant an. Aber selbst wenn das nur eins von hundert Experimenten auf der ISS sein sollte sind wir im Schnitt immer noch bei einer Milliarde Euro Kosten. Für zwei solcher Experimente bekommt man schon ein ganzes Human Genome Project. Und von dem Kaliber scheinen die Projekte, um die es geht, dann doch nicht zu sein.

    Das Argument, dass man für euer Experiment lebendige Astronauten braucht, verstehe ich auch nicht ganz. Wenn ihr nicht genau wisst, wann der “bestimmte Effekt” eintrat – hätten es dann nicht Messgeräte oder eine Spezialkamera auch getan?

    Die einzigen Experimente, für die die ISS mit Besatzung tatsächlich unverzichtbar zu sein scheint, scheinen diejenigen zu sein, bei denen es um die Auswirkung der Schwerelosigkeit auf den Menschen geht. Aber dann sollte man auch ehrlich sein und sagen: Hier geht es um darum, Menschen ins All zu befördern. Das ist ja als Ziel ja auch nicht unwichtig. Aber wenn, überspitzt gesagt, so getan wird, als ginge es darüber hinaus noch darum, so gut wie alle anderen Wissenschaftszweige zu revolutionieren, und als sei bemannte Raumfahrt dafür unverzichtbar, dann muss man sich nicht wundern, wenn Journalisten und andere (und ja z.B. auch die Deutsche Physikalische Gesellschaft) kritisch fragen, ob das nicht zu viel versprochen war.

  2. @Markus Pössel

    “Gemessen an diesen enormen Kosten, […] wie ist es denn nun mit den Forschungsergebnissen?”

    Natürlich darf und muss man das
    fragen. Man muss dann aber auch die Ergebnisse der Forschungsprojekte darstellen und bewerten, und ich habe nicht das Gefühl, dass das in dem SZ-Artikel geschehen ist. (Und ich weiß auch, dass unser Projekt allein natürlich absolut nicht die Kosten der ISS rechtfertigt, und wohl auch nicht die Wissenschaft insgesamt, die es dort bisher gibt).

    Man muss auch berücksichtigen, dass die ISS noch nicht so wie geplant mit der Wissenschaft begonnen hat, es gab ja nicht nur Verzögerungen, die durch Planungsfehler entstanden sind, sondern auch herbe Rückschläge wie die Columbia-Katastrophe. Das wird ja auch in dem Artikel erwähnt. Die Wissenschaft wird ja hoffentlich in den nächsten Jahren hochgefahren werden, so dass mehr Ergebnisse zu erwarten sind.

    Es stimmt aber, dass falsche Versprechungen natürlich vermieden werden sollten. Und die Wissenschaft ist nicht das einzige Ziel der ISS, auch das stimmt.

    “Wenn ihr nicht genau wisst, wann der “bestimmte Effekt” eintrat – hätten es dann nicht Messgeräte oder eine Spezialkamera auch getan?”

    Was ich mir noch vorstellen könnte, ist eine Bedinung des Experiments vom Boden aus mittels Fernbedienung. Das müsste allerdings quasi in Echtzeit ablaufen, wenn da jedes Mal eine halbe Stunde Verzögerung ist, ist das für eine Bedingung des Systems zu langsam. Und die Technologie dafür steht meines Wissens nach nicht zur Verfügung.

    Der Effekt, von dem ich rede, ist ein bestimmtes Bewegung der Teilchen (sie fliegen durch das “Void” in der Mitte der Kammer hindurch, und die Grenze des Voids ist auf eine charakterische Art deformiert). Man sieht das mit bloßem Auge sofort – aber eindeutig messbar, z.B. an einer Änderung der Spannung, ist es nicht, oder wir wissen noch nicht, wie.

    Eventuell könnte man eine Echtzeitanalyse der Trajektorien der Teilchen programmieren, aber das ist besser, als alles, was wir im Moment an Analysemöglichkeiten haben, und wäre vermutlich schon eine eigene Doktorarbeit oder zwei. 😉 Und dann ist ja auch nur mein kleines Experiment nicht mehr vom Kosmonauten abhängig, da gibt es auch noch andere Beispiele, bei denen nicht alles automatisch abläuft.

  3. Weitere ISS-“Erträge”

    Klar: Raumfahrt ist Grundlagenforschung und als solche sicher nie kostendeckend (wird CERN es je sein?). Raumfahrt eröffnet aber buchstäblich neue Perspektiven und gerade die ISS hat einen enormen, symbolischen Wert: Bei der Erforschung des Weltraums wirken Forscher aus Ost und West, verschiedenster Herkunft und Kultur zusammen – Technologie wird zu einem gemeinsamen Unternehmen der Erdteile statt nur zu einem Waffenlager. Wahrscheinlich wird es nie möglich sein zu beziffern, was die ersten Blicke auf die Erde, die Appollo-Mission etc. bei Millionen von Menschen (einschließlich Schülerinnen und Schülern) für ein Staunen und einen Schub in Richtung ökologischem Bewusstsein und friedlicher Wissenschaft ausgelöst haben und weiter bewirken. Seitdem sind z.B. nicht mehr Bomberpiloten, sondern Astro-, Kosmo- und Taikonauten Vorbilder ganzer Generationen.

    Kritik an hohen Kosten kann und soll es immer geben. Aber selbst wer Wissenschaft und Raumfahrttechnologie rein funktional betrachten wollte, müsste die politischen, kulturellen und pädagogischen “Erträge” mit berücksichtigen. Hoffen wir, dass das ISS-Projekt noch viele Fortschritte macht!

  4. Internationale Zusammenarbeit?

    Wenn mich mein Erinnerungsvermögen nicht täuscht hatte es doch mal einen Vorfall gegeben, dass die US-Amerikaner angehörigen einer anderen Nation, den Zutritt zu ihrem Bereich in der ISS verwehrt haben.

    Deshalb glaube ich nicht, dass die chinesischen Bemühungen eine eigene Raumstation auf die Beine zu stellen nur dem Geltungsdrang geschuldet ist.

    Ich will ja nicht behaupten dass dadurch die ISS scheitern wird, aber international ist doch etwas anderes.

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