Zur physischen Realität psychischer Ausnahmezustände

Tagebücher der Wissenschaft

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Bei vielen körperlichen (organischen) Erkrankungen finden sich “Varianten”, deren Symptomatik zwar stark an die entsprechende Erkrankung erinnert, bei denen aber weitere, per Definition geforderte Krankheitszeichen fehlen. In diesen Fällen kann die fragliche Krankheit nicht diagnostiziert werden und die üblichen, meist medikamentösen Therapien werden nicht wirksam sein. Im Bereich neurologischer Symptome spricht man hier von “funktionellen” oder “funktionell-neurologischen” Störungen. Epileptisch anmutende Anfälle nennt man entsprechend funktionelle Anfälle – und fügt meistens noch verstärkend das Adjektiv “nichtepileptisch” hinzu. In der Epilepsie-nahen Literatur wird statt des Begriffs “funktionell” auch der Begriff “psychogen” synonym verwendet. Und kommt schließlich die Psychiatrie ins Spiel, dann ist die Rede von “dissoziativen” Anfällen. Dieser Begriff verweist auf Dissoziation als Oberbegriff für zahlreiche assoziierte psychische Symptome sowie als möglichen Entstehungsmechanismus der Symptomatik.

Nun ist es aber für viele Betroffene frustrierend, wenn ein Arzt ihnen sagt, die fragliche Krankheit liege nicht vor, die geschilderte Symptomatik sei am ehesten “psychisch bedingt”. Denn eine psychische Symptomatik ohne erkennbare objektive Krankheitsursache – nun, das ist doch dann wohl nichts Anderes als bloße Einbildung (nur freundlicher formuliert), oder?!

André Brouillet (1857–1914): Une leçon clinique à la Salpêtrière. Jean-Martin Charcot demonstriert an der Patientin Marie Wittman die Auslösung eines “hysterischen” (heute: dissoziativen) Anfalls mittels Hypnose. Weitere Anwesende sind u.a. Joseph Babinski, Georges Gilles de la Tourette, Pierre Marie und Théodule-Armand Ribot (public domain).

Ich möchte hier eine sehr einfache und griffige Unterscheidung vorschlagen zwischen neurologischen Erkrankungen und psychischen Krankheiten/Störungen/Ausnahmezuständen/u.ä. Durch diese Unterscheidung soll zugleich klarwerden, dass und in welcher Weise auch die psychische Symptomatik objektiv und (physisch!) real ist.

Neurologie

Neurologische Erkrankungen (und dann auch Symptome) sollten wir diejenigen Erkrankungen nennen, bei denen die auch von anderen Organsystemen bekannten Pathologien das Nervensystem, insbesondere das Gehirn befallen: Entzündungen, Tumore, Gefäßveränderungen wie Blutungen oder Gefäßverschlüsse, kongenitale Fehlbildungen (fötale Entwicklung), altersabhängige Abbauprozesse, Stoffwechselstörungen und Verletzungen/Vergiftungen (einschl. Schäden durch Sauerstoff-/Nährstoffmangel). All diese Pathomechanismen können auch an anderen Organsystemen im Körper auftreten, verursachen dann aber natürlich abhängig vom betroffenen Organ jeweils eine völlig andersartige Symptomatik. Organisch neurologische Erkrankungen hießen früher auch anatomische oder strukturelle neurologische Erkrankungen.

Wenn das Nervensystem betroffen ist, resultieren aus der Schädigung die bekannten neurologischen Symptome: motorische Beeinträchtigungen (z.B. der Ruhe-Tremor bei Morbus Parkinson), sensorische Einschränkungen (z.B. ein homonymer Gesichtsfelddefekt nach einem Schlaganfall) und neuropsychologische Defizite (z.B. psychische Veränderungen wie Einbußen in Sprache, Gedächtnis und/oder visuell-räumlichen Fertigkeiten, aber auch Veränderung von Stimmung und Persönlichkeit bei Epilepsie).

Epilepsie

Die Epilepsie ist ein interessanter Sonderfall; hier liegt eine Elektropathophysiologie vor, die mittels der Elektroenzephalographie (EEG) festgestellt werden kann. Vergleichbares gibt es nur am Herzen; auch hier kann das Elektrokardiogramm (EKG) z.B. Herzrhythmusstörungen nachweisen. Wir rechnen auch die Elektropathophysiologie den allgemeinen Krankheitsursachen zu.

Nun treten aber neurologische Symptome bei gar nicht wenigen Betroffenen auch in Abwesenheit der üblicherweise zugrundeliegenden Erkrankung des Nervensystems auf. Worum handelt es sich hierbei (wenn es z.B. nicht Epilepsie ist)? Welche physische (!) Realität ist hier ursächlich verändert?

Psychiatrie

Die Psychiatrie, die Psychosomatik und die Klinische Psychologie beschäftigen sich im Unterschied zur Neurologie nicht mit den allgemeinen Krankheiten des Gehirns – Krankheiten, die jedes andere Organ im Prinzip auch betreffen kann. Die genannten Fächer beschäftigen sich vielmehr mit den für das Gehirn einzigartigen, spezifischen physiologischen Prozessen. Diese können am besten als integrative Informationsverarbeitung charakterisiert werden.

Informationsverarbeitung wird im Gehirn durch etwa 80 Milliarden Nervenzellen und vermutlich 100 Billionen Synapsen physisch realisiert. Diese Prozesse sind physisch in gleicher Weise real wie andere Vorgänge im Körper, mit nur einem Unterschied: Wir haben nicht die geringste Chance, sie zu messen. Und selbst wenn wir die Transmissionsrate jeder einzelnen Synapse und alle ihre Verbindungen kennten –, würden wir dann verstehen, was wir da nun gemessen haben? Wohl kaum.

Nochmals: Es besteht hier überhaupt kein Unterschied in der Frage, ob die relevanten Prozesse, die psychischen Symptomen zugrundeliegen, physisch real oder nur eingebildet sind: sie sind physisch real! Die Psychiatrie beschäftigt sich letztlich ebenfalls mit physischen Vorgängen im Gehirn. Insofern die Störungen ebenfalls “Leistungen” des Nervensystems betreffen, heißen sie – aus Sicht der Neurologie – funktionell-neurologische Störungen (i.U. zu den eigentlichen, d.h. organischen/anatomischen/strukturellen neurologischen Erkrankungen).

Anders als bei klassischen organischen Erkrankungen können wir hier die relevanten physiologischen Vorgänge nicht messen. Die Diagnose funktioneller, psychogener, dissoziativer Störungen ist also ein Verweis an diese Ebene: Wahrscheinlich ist die physisch realisierte integrative Informationsverarbeitung im Gehirn das physische Substrat der Symptomatik.

Organisch-bedingte psychische Störungen

Neurologische Erkrankungen und Erkrankungen anderer Organsysteme, z.B. der Schilddrüse, verursachen psychische Symptome, sobald sie die synaptische Informationsverarbeitung stören. Man spricht dann von hirn-/organisch bedingten psychischen Störungen; im ICD-10 sind das die F0x-Diagnosen.

Besonderheiten der psychiatrischen Diagnostik

Die heute verfügbaren psychiatrischen Diagnosesysteme (siehe Tabelle) beinhalten keine Krankheitslehre und sie nennen niemals Krankheitsursachen. Sie qualifizieren lediglich beobachtete oder berichtete “Auffälligkeiten” im Verhalten und Erleben als Symptome (in unterschiedlichen Schweregraden), wenn definierte Schwellenwerte überschritten werden.

  • International Classification of Diseases, derzeit ICD-10 und ICD-11, der Weltgesundheitsorganisation, WHO,
  • Diagnostic and Statistical Manual, DSM 5, der American Psychiatric Association.

Die psychiatrische Diagnose einer Depression zum Beispiel bietet gerade keine Erklärung für den leidvollen Zustand des Patienten. Die Diagnose qualifiziert diesen Zustand lediglich anhand bestimmter Kriterien wie Häufigkeit und Intensität der Symptomatik als Symptom , d.h. als Anzeichen einer Störung (disorder). Auch bleibt offen, ob das Befinden irgendwie adäquat zu einer gegebenen Lebenssituation auftritt oder wie “aus dem Nichts” aufgetreten ist.

Psychologie: Exploration der Informationsverarbeitung im Gehirn

Unser einziger diagnostischer Zugang zur Informationsverarbeitung im Gehirn ist bisher psychologischer Natur, d.h. (1) bezogen auf beobachtbares und berichtetes Verhalten sowie berichtetes subjektives Erleben in einer gegebenen, evtl. experimentell oder psychometrisch definierten Umgebung und (2) letztlich nur durch ihrerseits “psychologisch strukturierte” (bewusste, wahrnehmungs- und empfindungsfähige, etc.) Beobachter/-innen zu leisten. Bei Biomarkern und ähnlichem stehen wir hingegen weiterhin noch ganz am Anfang. Optogenetik und Optopharmazeutik versprechen für die nahe Zukunft ganz erhebliche Fortschritte im molekularen Verständnis von Verhalten (und Erleben). Heute jedoch beobachten wir Verhalten und wir hören zu, wenn Patienten von ihren Erfahrungen berichten.

Beispiel: Psychotrauma

Selbstverständlich befindet sich eine akut psychisch (und körperlich) traumatisierte Person in einem psychischen Ausnahmezustand und benötigt qualifizierte Hilfe. Aber ist dieser Zustand Ausdruck (Symptom) einer Erkrankung? Ist die posttraumatische Belastungsstörung lediglich eine weitere mögliche psychische Erkrankung neben all den anderen? Nein, das ist sie nicht, Psychotraumatisierung ist vielmehr ein gänzlich anderes Paradigma!

Hier ein Vergleich: Ein Unfallchirurg schaut völlig anders auf die “Symptomatik” seines verletzten Patienten (Trauma = Verletzung) als ein Internist; denn im Fall eines Unfalls liegen klar erkennbare äußere Ursachen vor – wie dies auch beim Psychotrauma der Fall ist. Eine seelische Verletzung ist gerade nicht Ausdruck einer Krankheit – aber sicher ist sie behandlungsbedürftig! Höchste Priorität hat die Beseitigung der Trauma-Ursachen; die Person muss in Sicherheit gebracht werden. Dann geht es um die akute Versorgung und psychische Stabilisierung. Und schließlich geht es um die Langzeitversorgung gegen die akuten und bleibenden psychischen, psychosozialen und sozioökonomischen Folgen des Psychotraumas. (Ich vermute, dass wir die entscheidende Rolle psychischer Traumata für die Entstehung psychischer Ausnahmezustände gravierend unterschätzen bzw. nicht wahrhaben wollen.)

Mein Punkt hier ist, dass wir in vielen Fällen psychischer “Symptome” gar nicht unbedingt von Krankheiten und Symptomen sprechen müssten (in Analogie zur Organmedizin). Ich schlage vor, stattdessen zunächst allgemeiner von psychischen Ausnahmezuständen zu sprechen. Ein psychischer Ausnahmezustand liegt vor, wenn international vereinbarte und gut begründete “Schwellenwerte” für Verhalten und Erleben (z.B. Affekt) überschritten werden. Bei einer Diagnose hat der Betroffene Anspruch auf professionelle Hilfe (z.B. Psychotherapie, Medikation, stationäre Behandlungen) sowie rechtlichen Schutz (z.B. Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit, Erwerbsminderungsrente u.ä.).

Psychotraumata und funktionelle Störungen

Wie kam ich jetzt ausgerechnet auf Psychotraumata? Psychotraumata sind der wichtigste bekannte Risikofaktor für die Entstehung funktionell-neurologischer bzw. psychogener bzw. dissoziativer Symptome. Viele der Betroffenen leiden unter Spätfolgen teils schwerer, häufig sexueller Misshandlungen. Auch Kriege waren und sind noch heute eine Ursache für viele neu auftretende Fälle (vgl. shell shock; sogenannte “Kriegszitterer”). Das Neue Testament – um auch noch das dritte G im neuen Blog-Namen “3G” zu bedienen – berichtet Heilungswunder, die man medizinhistorisch am besten als funktionelle Störungen charakterisieren kann (was kaum ein Theologe weiß). Auch zur Zeit Jesu waren viele Menschen durch Gewalt und Grausamkeit psychisch schwer traumatisiert.

Quintessenz

Bei nichtorganischen, psychisch bedingten “Erkrankungen” handelt es sich um physisch reale Phänomene – im Gehirn realisierte Informationsverarbeitung -, die die leidvolle psychische Symptomatik verursacht. Diese Prozesse entziehen sich aufgrund ihrer Komplexität bisher sowohl einer einfachen Messung wie auch unserem theoretischen Verständnis. Betroffenen sollten wir mit besonderer Sensibilität und mit besonderem Respekt begegnen: viele von ihnen sind Überlebende von Gewalt, welche die meisten von uns in ihrem Leben gottseidank niemals erleben werden. Die Unfallchirurgie, so scheint mir, ist in diesen Fällen ein besseres medizinisches Analogon für die Psychiatrie als die Innere Medizin.

PS. Die aktuelle Ausgabe des NERVENARZT behandelt Traumafolgestörungen und deren Behandlung.

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Christian Hoppe ist habilitierter klinischer Neuropsychologe an der Klinik und Poliklinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn. Nach seinem Studium der katholischen Theologie (1987-1993) und der Psychologie (1991-1997) sowie einem Jahr an der Tagesklinik für Kognitive Neurologie der Universität Leipzig sowie dem Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung (jetzt Max Planck Institute of Cognitive Neuroscience) ist er bereits seit 1998 in Bonn tätig. Promotion 2004 an der Universität Bielefeld (Prof. Dr. W. Hartje). Seine Schwerpunkte sind klinisch die interventionelle Neuropsychologie (u.a. Patientengespräche), wissenschaftlich die psychiatrie/psychotherapie-nahen Themen der Neuropsychologie (Depression bei Epilepsie, psychogene nichtepileptische Anfälle/dissoziative Störungen), aber auch das Gedächtnis, und in Lehre und Wissenschaftskommunikation Fragen rund um Geist und Gehirn (z.B. auch Nahtoderfahrungen) und ein wenig Statistik. Seine große Leidenschaft ist das Billard. (Profilbild by Lennart Walger) Wichtiger Hinweis - eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Kommentare und Antworten auf Kommentare bitte max. 500 Wörter und strikt "on topic"! Danke!