Vernunftethik ist dem Menschen natürlich, Gefühlsethik ist eine Kopfgeburt.
Tagebücher der Wissenschaft
Dies ist ein Nachtrag zu meinem Artikel „Zum Ursprung der Naturethik“, und zwar zum Thema Vernunft- vs. Gefühlsethik, das dort eine gewisse Rolle spielte. Andere Theorien darüber, wie wir zu der Überzeugung kommen, daß wir dies sollen, jenes nicht dürfen, und wie wir zu einer richtigen Überzeugung kommen bzw. ob wir überhaupt dazu kommen können, gibt es natürlich auch. Außer Vernunft und Gefühl sind vor allem Konventionen oder Gott als Instanzen, die moralische Ge- und Verbote erlassen, in der Diskussion. Aber in der modernen Ökologiebewegung – und deren Denkweise ist ja einer der Schwerpunkte dieses Blogs – ist es weit vor allem anderem das Gefühl, auf das man setzt, und es ist die Vernunft, die man für das große Übel in der Welt hält, und das prägt auch die Vorstellungen davon, um welche Art von Ethik es uns zu tun sein sollte.
Ein in dieser Bewegung verbreiteter Glaubenssatz hat etwas Merkwürdiges an sich. Während man ja sonst die Gefahren ständig wachsen sieht, so daß Aufrufe zu höchster Wachsamkeit und letzter Anstrengung nötig sind, wächst auf ethischem Gebiet irgendwie das Rettende auch ohne unser absichtliches Zutun. Wir werden ganz von selbst, und zwar im Zuge des Zivilisationsprozesses, der doch dieser Ideologie zufolge eigentlich nur Übles hervorbringen dürfte, immer bessere Menschen. Immer mehr von dem, was bisher nur beliebig verfügbares Material war, wird zu etwas, von dem uns unser Gefühl sagt: Hier haben wir rücksichtsvoll zu sein; dies meist, aber nicht immer, deshalb, weil wir es – nun ja, fühlen wir das oder haben wir es erkannt? – als von gleicher Art ansehen wie wir selbst es sind.
Kürzlich (9.12.12) hatte der Moderator Richard David Precht den berühmten Philosophen Robert Spaemann in eine Diskussionssendung des ZDF eingeladen. Es ging darum, ob wir Tiere essen dürfen und ob das, falls wir es dürfen, nur dann erlaubt ist, wenn sie vorher nicht gequält werden. Es ging also um einen wichtigen Teil der Fragen, die heute unter „Naturethik“ diskutiert werden. Precht verwies darauf, daß die „moralische Sensibilität“, auch gegen Tiere, kulturgeschichtlich enorm zugenommen hat. Noch in der Barockzeit gab es Massenspektakel auf den Marktplätzen, wo man Tiere zum Gaudium des Publikums quälte, was heute unvorstellbar ist. Er fragte dann seinen Gesprächspartner, ob er sich vorstellen könne, daß in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten die Sensibilität so zunimmt, daß z. B. Massentierhaltung gar nicht mehr möglich ist und auch niemand mehr Fleisch essen mag. Spaemann antwortete, daß er sich das sehr wohl vorstellen könne. Er verwies aber darauf, daß man moralische Sensibilität nicht mit Moralität verwechseln dürfe. Der Bomberpilot von Hiroshima sei sicher ein moderner, moralisch sensibler Mensch gewesen, nie und nimmer fähig, die Einwohner dieser Stadt mit dem Messer zu töten. Aber auf den Knopf drücken konnte er. Dann nahm die Diskussion leider einen anderen Verlauf, die in unserem Zusammenhang interessantesten Fragen wurden nicht angesprochen.
Damit meine ich erstens die Frage, was denn eigentlich „moralische Sensibilität“ ist. Denn damit kann zweierlei, und zwar im Hinblick auf „Vernunft- vs. Gefühlsmoral“ grundverschiedenes gemeint sein: (a) Der Grund dafür, daß wir eine Handlung moralisch positiv bewerten, liegt darin, daß sie aus einem bestimmten Gefühl, z. B. Mitleid, heraus erfolgt, und „moralisch sensibel“ ist jemand, der ein solches Gefühl in hohem Maße besitzt. (b) „Moralisch sensibel“ ist jemand, der vor dem Hintergrund eines Wissens um die moralische Qualität einer Handlung (oder zumindest einer Überzeugtheit davon) bestimmte Gefühle bekommt, der also z. B. Gewissensqualen bekommt, weil ihm seine Vernunft sagt, daß er so nicht hätte handeln sollen.
Zweitens stellt sich die Frage der ethischen Relevanz jener kulturgeschichtlichen Entwicklung. Spaemann hätte ja sagen können: Es mag sein, daß alle Menschen in 30 Jahren ein Gefühl entwickelt haben werden, das sie dazu veranlaßt, kein Fleisch mehr zu essen. Aber heißt das denn, daß sie recht haben, wenn sie diesem Gefühl folgen? Von Jesus ist überliefert, daß er zumindest Osterlämmer und Fische aß. Vielleicht war ja seine Auffassung die richtige und die der sensiblen Vegetarier ist falsch. (Spaemann ist bekennender Katholik, diese Antwort wäre also nicht ganz überraschend gekommen.) – Das ist der entscheidende Punkt: Gefühle kann man allerlei haben – man braucht immer Vernunftgründe, um zu entscheiden, welchen der Gefühle zu folgen ist, wenn die Handlung moralisch (richtig) genannt werden soll. Der Krieger- und Herrenmoral, die sich vom Hochgefühl des Unterwerfens und Tötens leiten läßt, kann jederzeit der Vorzug vor einer Moral des Mitgefühls zugesprochen werden, wenn man den letzten Grund der Moralität in Gefühlen sieht.
Aber dieses Grundproblem einer jeden Gefühlsethik soll hier nicht weiter interessieren. Ich will statt dessen zu einem Seitenzweig der Diskussion um diese Ethiktheorie eine Bemerkung machen. Sie soll lediglich einem bestimmten Vollgefühl des Rechthabens auf der Seite der Gefühlsethiker etwas von seiner Sicherheit nehmen. Es ist ein typisches Gefühl derer, die sich selbst, was die Fähigkeiten ihres Kopfes angeht, zu den Zukurzgekommenen zählen: das Gefühl, das ihnen kommt, wenn sie meinen, es den Eierköpfen endlich einmal gezeigt zu haben. Wir kennen, sagen sie, im Gegensatz zu euch, die ihr das Wesen des Menschen in seinem Denkvermögen seht, weil bei euch selbst nur der Kopf funktioniert, das wirkliche Leben und wissen, daß der Mensch „mehr“, ja sogar „ganzheitlich“ ist und insbesondere Gefühle hat.
Ähnliche Argumente drängten sich auch früher schon manchmal in den Vordergrund, etwa in der Zeit der Empfindsamkeit und der Romantik, allerdings auf ganz anderem Niveau als im heutigen Zeitgeist, und sie dürften damals auch kaum jenes anti-intellektuelle Ressentiment als Motiv gehabt haben. Die Version, mit der wir es heute zu tun haben, ist etwa in der zweiten Hälfte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts entstanden. Zu dieser Zeit begann man, rebellierend gegen den Intellektualismus der 60er, das „Gefühl“, vor allem in Gestalt der „Betroffenheit,“ zu betonen. Gegen den „Kopf“ wurde – nun nicht mehr, wie 150 oder 200 Jahre früher, das „Herz“, sondern – der „Bauch“ ins Feld geführt. Im wesentlichen ist, auch wenn Claudia Roth inzwischen ein wenig verstaubt anmutet, die Lage bis heute so geblieben.
Doch mit dem Glauben, diese Erkenntnis aus dem wirklichen, vollen Leben zu schöpfen, liegt man zumindest dann falsch, wenn es um Ethik geht. Das Gegenteil ist richtig. Die Gefühlsethik ist eine typische Kopfgeburt, ein Erzeugnis lebensferner Weltanschauungskonstrukteure.
Vor kurzem haute mein vierjähriger Enkel seinem älteren Bruder eine gewaltige Beule. Er rechtfertigte seine Tat so: „Der hat aber als zweiter angefangen“. Damit wäre er vor Gericht wohl nicht durchgekommen. Für unsere Frage entscheidend ist jedoch: Er verhielt sich, als ob er vor Gericht stünde. Er versuchte sich nicht in der seit jener Kopf-Bauch-Wende unter einander wechselseitig therapierenden Erwachsenen so verbreiteten Weise zu erklären, er verwies nicht auf Vorgänge in seinem Innenleben, die zwar erklären können, warum er tat, was er tat, aber nicht rechtfertigen, er sagte nicht „mich hat leider die Wut gepackt“, oder „du, ich bin eben ein sehr emotionaler Mensch, weißt du“. Er beschrieb nicht seine Gefühle, sondern er versuchte Gründe zu nennen, die ihn selbst überzeugen und von denen er folglich – denn das ist nichts als eine Implikation des Begriffs der Überzeugung – erwarten kann, daß sie jedes andere vernünftige Wesen auch überzeugen.
Kleine Kinder, sowie sie anfangen, sich sozial zu verhalten – also nicht, wie es auch Tiere tun, nur an sich reißen und wegwerfen oder sonstige Tätigkeiten vollführen, die allein auf sie selbst bezogen sind –, sind mit nichts mehr beschäftigt als mit der moralischen Rechtfertigung ihres Tuns und der moralischen Beurteilung des Tuns aller anderen – jedenfalls dann, wenn es ernst wird. Dann verhalten sie sich wie in einem Gerichtsprozeß. Sie suchen für alles, was sie tun, rechtfertigende Vernunftgründe und versuchen meist den anderen abzusprechen, daß sie solche haben.
Zwei Hauptarten von solchen Gründen bringen sie vor: (1) Das darf man oder darf man nicht, die Mutter hat es gesagt. Für sich ist das noch so wenig moralisch wie der Verweis auf die zehn Gebote, doch daraus wird, wenn es gut geht, im Laufe der Entwicklung Moralität: Willensbestimmung aus eigener Einsicht und nicht aufgrund eines Befehls. (2) Das Kind ist, und zwar von Anfang an, von der Idee der Gerechtigkeit überzeugt. Egal was die Familienautoritäten behaupten: Wenn die Schwester zwei Stücke Schokolade bekommt und man selbst nur eines, dann ist das ungerecht. Das ist auch nicht – wie Materialisten vielleicht meinen, die glauben, da ginge es jemandem darum, mehr zu bekommen, also um Interessen – dadurch zu beheben, daß man ihm drei oder dreizehn Stücke gibt: Wenn die Schwester dann vier oder vierzehn bekommt, bleibt es ungerecht, und das ist es auch, wenn es einen nicht selbst betrifft. Das weiß das Kind, und zwar lange bevor es weiß, daß zwei mal zwei vier ist, und es weiß es mit nicht weniger Sicherheit. Das Wissen ist das Primäre, nur weil es weiß, daß etwas ungerecht ist, kommt das Gefühl der Wut oder der Kränkung auf. Und ein Gefühl mag zwar die stärkste Triebkraft einer bestimmten Handlung sein: Für das Kind gibt es doch nichts Wichtigeres als die Frage, ob sich die Handlung, sei sie nun aus einem Gefühl heraus erfolgt oder aus einer Überlegung, rechtfertigen läßt, d. h. ob sich Vernunftgründe beibringen lassen, die jeden dazu bringen, ja zwingen, ihm Recht zu geben: „Der hat aber abgefangen“.
Jeder Mensch ist, soweit er sich auch zurückerinnern mag, immer ein Wesen mit moralisch-praktischer Vernunft gewesen, und vermutlich ist sogar richtig: Je weiter er zurückgeht, desto stärker war deren Bedeutung in seinem Leben. Das Kindergartenkind kämpft bis zum Äußersten, wenn es meint, ein berechtigter Anspruch werde ihm verweigert, oder wenn es überzeugt ist, daß der andere angefangen hat. Der Erwachsene fragt meist nicht mehr, wer angefangen hat, sondern was sich herausschlagen läßt; ob es ihm vielleicht nützlicher sein könnte, sich das Unrecht gefallen zu lassen. Der Sklave, so heißt es ja, fragt nach dem Vorteil, der Freie nach dem Recht. Zum Sklaven – letztlich seiner Gefühle, denn wer Gefühle (auch solche wie Mitleid) befriedigen möchte, möchte sich selbst eine Annehmlichkeit bereiten – wird der Mensch erst gemacht, von Natur aus, also von dem her, was er vor Beginn aller Erziehung und sonstiger „Sozialisation“ ist, ist er frei. Das bedeutet aber, daß er sich von nichts leiten läßt als von seiner Überzeugung, von dem, was er für vernünftig hält. Die Gefühlsethik ist eine Art intellektueller Begleitmusik zu der Dressur, der er unterworfen wird und die ihm auszutreiben versucht, was er von Natur aus ist: ein Wesen mit praktischer Vernunft.
Man wird einwenden, daß das einseitig sei. Vielleicht sagt man, Freud habe das doch ganz anders gesehen, oder: Die Vernunft entwickelt sich erst im Laufe des Lebens, erst der reife Mensch hat Vernunft in dem Sinne, daß wir ihn als verantwortlich für das ansehen können, was er tut, und ohne dies ist er kein moralisches Subjekt. Das ist schon richtig. Wer sich mit „Der hat aber als zweiter angefangen“ rechtfertigt, muß noch einiges lernen. Wer im Grundsatz weiß, was Gerechtigkeit und was ein berechtigter Anspruch ist, der hat damit noch nicht die Urteilsfähigkeit, die erforderlich ist, um von ihm sagen zu können, er hätte es besser wissen können und müssen; das aber ist nötig, wenn wir ihn für seine Taten verantwortlich machen wollen. Aber im Grundsatz weiß es eben, was Gerechtigkeit und was ein berechtigter Anspruch ist, und daß das Kleinkind sich selbst als ein verantwortliches, und das impliziert, aus Gründen handelndes Wesen sieht, und daß es von kaum etwas so in Anspruch genommen wird wie von der vernünftigen Rechtfertigung seiner Handlungen, kann jeder wissen, der schon einmal einem begegnet ist.
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