Sechs Thesen zur Erhöhung der Chancengerechtigkeit von (Nachwuchs-)Forschenden

BLOG: Über das Wissenschaftssystem

Betrachtungen von Menschen und Strukturen in Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen
Über das Wissenschaftssystem

Mehrere Debattenbeiträge in der letzten Zeit zeigen, dass Diversität und Chancen­gerechtigkeit in der Wissenschaft innerhalb und außerhalb der Hochschulen zunehmend wichtige Themen sind.[1] Aber wo muss man konkret ansetzen, um sie zu erreichen? Hierzu haben Axel Gürtler, Geschäftsführer von THESIS e.V.,[2] und ich einige Daten und Fakten zum Thema zusammengestellt und sechs Thesen zur Chancengerechtigkeit formuliert, die heute auch als Gastbeitrag im Wiarda-Blog veröffentlicht wurden:

  1. Die geringe Diversität und Chancengerechtigkeit in der Wissenschaft Deutschlands und dabei besonders in der Professorenschaft haben eine zentrale Ursache bereits in der Nachwuchsförderung. Das zeigt die mit jeder Qualifikationsstufe im Wissenschaftssystem geringer werdende Diversität z.B. in der Dimension Geschlecht (s. BuWiN 2021), noch deutlicher aber in der sozialen Herkunft (s. z.B. Überblick über Studien in www.researchgate.net/publication/333163357).[3] Daher wäre dies für konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit ein zentraler Ansatzpunkt.                                                                                                           
  2. Wichtige Maßnahmen, auf die THESIS bereits hinwies,[4] wären:               
    1. die Schaffung transparenter und berechenbarer Karrierewege für Nachwuchsforschende insgesamt inklusive Entfristungsmöglichkeiten nach der Promotion, z.B. durch Schaffung von Tenure-Track-Verfahren generell für Promovierte in der Wissenschaft – und nicht nur für ein paar hundert Tenure-Track-Professuren in Deutschland; und
    2. die Stärkung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit von Nachwuchsforschenden – schrittweise bereits ab Beginn der Promotion verbunden mit transparenten Leistungsanforderungen (auch damit sich künftig nicht mehr die Mehrheit der Nachwuchsforschenden gegen eine Karriere in der akademischen Wissenschaft entscheidet).
                                                                                                                               
  3. Darüber hinaus liegt weiteres großes Potenzial in der Verbesserung der Chancengerechtigkeit vor allem für Nichtakademikerkinder (wo Vater und Mutter kein Hochschulstudium haben), gerade für diejenigen, die ihren zur Promotion berechtigenden Studienabschluss an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaft (HAW) erwarben. So zeigte zwar der Hochschul-Bildungs-Report 2017/18 des Stifterverbandes: Ein Nichtakademikerkind hat, von der Grundschule an über alle Qualifikationsstufen hinweggesehen, etwa dreimal geringere Chancen auf einen Bachelor und sogar zehnmal geringere Chancen eine Promotion abzuschließen, als ein Akademikerkind. Aber aus den Sozialerhebungen des DZHW/DSW weiß man zugleich, dass an HAW der Nichtakademikerkinder-Anteil an Studierenden etwa doppelt so groß ist wie an Universitäten. Daran wird das ungenutzte Potenzial für die Wissenschaft deutlich; denn ohne Promotion keine Professur. Auch Daten des DZHW-Projektes NACAPS belegen, dass Hochschulabsolventen aus Nichtakademiker-Haushalten und mit ausländischer Herkunft oder Migrationshintergrund deutlich häufiger eine Kooperative Promotion absolvieren (etwa einhalbmal- bis doppelt so oft, s. https://nacaps-datenportal.de/indikatoren/C5.html).                                                                                                                                                                      
  4. Kooperative Promotionsverfahren stoßen oft auf große Widerstände von Universitäts­profess­or*­innen, wie eine Dokumentation des Graduierteninstitutes NRW beispielhaft zeigt (http://www.gi-nrw.de/fileadmin/media_graduierteninstitut/Textdateien/GI_NRW_allgemein/Pressemitteilungen/Bericht_Stand_u_Entwicklungen_GI_NRW_Juni_2018.pdf), ähnliches wird aus Baden-Württemberg berichtet. Auch Daten zu Berliner Hochschulen belegen eine äußerst geringe Durchlässigkeit (https://newsletterversand.zeit.de/ov?mailing=4CZ1O8WO-195NAEH&m2u=4D59L9EZ-4CZ1O8WO-Q4A8K&wt_zmc=nl.int.zonaudev.zeit_online_chancen_w3.m_08.03.2021.nl_ref.zeitde). Deshalb genügt nicht, dass es inzwischen in allen Bundesländern außer Niedersachsen lt. Gesetz kooperative Promotionsverfahren gibt (https://www.hlb.de/fileadmin/hlb-global/downloads/members_only/Infoblaetter_Mitglieder/hlb-Infoblatt_Promotionsrecht_der_HAW.pdf). Nicht zuletzt zeigen persönliche Erfahrungsberichte von THESIS-Mitgliedern, dass es in vielen Fällen notwendig ist, als HAW-Absolvent*in bessere Leistungen zu bringen als Universitätsabsolvent*innen, um überhaupt eine Chance zu erhalten – und dies vielerorts unter deutlich schwierigeren (Promotions-)Bedingungen. Daran kann das oft vorhandene Betreuungs-Engagement von HAW-Professor*innen nur wenig ändern, da bislang Uni-Professor*innen z.T. stark divergierende Ziele verfolgen (z.B. im Sinne von: „Die Leistungs-Punkte für die finanzielle Mittelverteilung habe ich, die Arbeit sollen HAW-Kolleg*innen machen. Wir sehen uns dann beim Kolloquium – oder auch nicht”).                                                                                                                                             
  5. Die Sicherung und Verbesserung der Qualität der Promotionsbedingungen ist seit Gründung von THESIS ein zentrales Anliegen. Zur Qualität der Promotionsbedingungen wurden wiederholt Forderungen formuliert (auch bereits 2009 in einem Best-Practice-Papier mit dem DHV: https://www.thesis.de/node/222), so die Forderung: “Betreuer und Doktorand sollen zu Beginn der Promotionsphase eine Promotionsvereinbarung treffen. In dieser sollen die Essentialia des Promotionsverhältnisses festgehalten werden.” Leider gibt es bislang keine Auswertung, inwieweit HAW-Absolvent*innen solche Promotions- bzw. Betreuungsvereinbarungen haben, geschweige denn inwieweit sie eingehalten werden. Bekannt ist jedoch, dass Nichtakademikerkinder unter den Promovierenden eine solche Vereinbarung seltener haben (https://nacaps-datenportal.de/indikatoren/B1.html); ähnlich gilt dies für Promovierende mit Migrationshintergrund, sowie mit Kind(ern). Im Best-Practice-Papier wurde zudem das Ziel formuliert: “…das Promotionsverhältnis zwischen Betreuer und Doktorand stetig fortzuentwickeln und zu verbessern”. THESIS ist der Ansicht, die Qualität der Promotionsbedingungen könnte auch und gerade mittels qualitätsgesicherter HAW-Promotionen gefördert werden. Hierzu sollte gehören, für den wissenschaftlichen Austausch förderliche Rahmenbedingungen zu haben. Dazu bedarf es auch einer gewissen Forschungsstärke. Die Mindestanzahl von 12 forschungsstarken Professor*innen am Fachbereich gilt bereits seit 2016 als Kriterium für das HAW-Promotionsrecht in Hessen und stellt auch in Baden-Württemberg und NRW keine Hürde dar – wie die hlb-Bundesvereinigung, der Berufsverband der HAW-Professor*innen, hierzu feststellt. Darüberhinausgehend sollte zur Qualitätssicherung die in vielen anderen Staaten längst übliche Trennung von Betreuung und Begutachtung erfolgen, wie es u.a. auch Wissenschaftsrat und hlb fordern.                                                                                                                                    
  6. Ein qualitätsgesichertes Promotionsrecht für forschungsstarke Bereiche an HAW in einer (gerade für HAW-Absolvent*innen) unterstützend(er)en Umgebung stellt daher einen Fortschritt dar im Vergleich zur bisher vorherrschenden wenig qualitätsgesicherten Einzelpromotion (außerhalb von strukturierten Programmen, was mit 60% nach wie vor die Mehrheit der Promovierenden betrifft und wiederum häufiger die Nichtakademikerkinder sowie Eltern unter den Promovierenden, s. https://nacaps-datenportal.de/indikatoren/C2.html). Dies gilt erst recht für Bereiche, bei denen es an den Universitäten kein entspr. Forschungsgebiet gibt (etwa die Pflege-, Gesundheitswissenschaft, Soziale Arbeit). Ein HAW-Promotionsrecht für forschungsstarke Bereiche und solche, bei denen es an Universitäten kein Forschungsgebiet existiert, ist daher zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Wissenschaft insbesondere im Bereich angewandter Forschung und Transfer, aber auch aus Gründen der Chancengerechtigkeit überfällig.

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    [1] Nachdem es einige Beiträge gab anläßlich der im BuWiN 2021 dokumentierten Zahlen zur geringen Internationalität (siehe auch früheren Scilogsbeitrag) und der dort nicht dokumentierten Zahlen zur sozialen Selektivität, hatte das CHE  mit Zahlen zur Diversität von Hochschulleitungen nachgelegt: https://www.che.de/download/hochschulleitung-deutschland/. Zuerst berichtete darüber der Wissenschaftsjournalist Jan-Martin Wiarda in einem Blogbeitrag dazu. Außerdem hat Anna-Lena Scholz einen lesenswerten Essay zum Thema in der ZEIT geschrieben, und es gab u.a. im Spiegel und Tagesspiegel Beiträge dazu.

    [2] THESIS e.V. ist das interdisziplinäre Netzwerk für Promovierende und Promovierte (www.thesis.de). Es versteht sich als Interessenvertretung von derzeit über 150.000 Promovierenden und mehr als 50.000 Postdocs bzw. Promovierten in Deutschland. Dies gilt insbesondere auch hinausgehend über die bereits anderweitig Organisierten (z.B. die in Begabtenförderwerken organisierten und durch deren Stipendiatensprecher vertretenen ein paar Tausend Promovierenden, sowie die an den großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen organisierten und durch das Netzwerk N2 vertretenen ca. 16.000 Nachwuchsforschenden).

    [3] Vgl. Krempkow, René (2019): Wieviel zählt Leistung bei Berufungen, und wieviel Herkunft? In: Qualität in der Wissenschaft (QiW) 1/2019, S. 28-31.

    [4] Siehe z.B. THESIS-Presseinfo “BuWiN 2021: Seit Jahren unveränderte Situation junger Forschender erfordert dringend Verbesserungen“ vom 22.02.2021 (https://www.thesis.de/node/2077).

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Dr. René Krempkow bloggte zunächst seit 2010 bei den academics-blogs, nach deren Einstellung zog er zu Scilogs um. Er studierte Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Psychologie an der Technischen Universität Dresden und der Universidad de Salamanca. Nach dem Studium baute er zunächst am Institut für Soziologie, dann im Kompetenzzentrum Bildungs- und Hochschulplanung an der TU Dresden u.a. eine der ersten hochschulweiten Absolventenstudien in Deutschland auf und erarbeitete den ersten Landes-Hochschulbericht Sachsen. Nach seiner Promotion 2005 zum Themenbereich Leistungs- und Qualitätsbewertung an Hochschulen arbeitete er am Institut für Hochschulforschung Wittenberg am ersten Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN) mit. Danach war er im Rektorat der Universität Freiburg in der Abteilung Qualitätssicherung tätig, wo er die Absolventen- und Studierendenbefragungen leitete und eines der ersten Quality Audits an einer deutschen Hochschule mit konzipierte. Von 2009 bis 2013 leitete er am iFQ Bonn/Berlin (jetzt Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung - DZHW) ein bundesweites Projekt zur Analyse der Wirkungen von Governance-Instrumenten (v.a. Leistungsorientierte Mittelvergabe an Hochschulen) und arbeitete im Themenbereich wiss. Nachwuchs und Karrieren mit. Anschließend koordinierte er im Hauptstadtbüro des Stifterverbandes u.a. das Projekt zur Personalentwicklung für den wissenschaftlichen Nachwuchs und den Gründungsradar; sowie an der HU Berlin u.a. ein hochschulweites Projekt zur Kompetenzerfassung, sowie Sonderauswertungen der hochschulweiten Absolventenstudien. Derzeit ist er an der HTW Berlin im Curriculum Innovation HUB im Bereich Wirkungsanalysen und Evaluation tätig, sowie an der IU - Internationale Hochschule. Er berät seit etlichen Jahren Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Ministerien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Leistungs- und Qualitätsbewertung an Hochschulen; Akademische Karrieren und Nachwuchsförderung; Indikatorenentwicklung, Evaluationsforschung; Hochschul-, Wissenschafts- und Bildungsforschung.

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