Mary und die Osculogie

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Hirnforschung & Theologie
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Mary Smith ist eine brillante, ja perfekte Wissenschaftlerin. Ihr Spezialgebiet ist die Lehre vom Küssen, die Osculogie. Mary hat diese Wissenschaft begründet und sogleich zur Vollendung geführt. Alles, was man überhaupt jemals über das Küssen wissen kann – Mary weiß es. Sie kennt die Muskelphysiologie die Lippen, die Endokrinologie und Biochemie der Hormonausschüttungen, die Neurophysiologie der motorischen Ansteuerung aller beteiligten Muskeln sowie der sensorischen Verarbeitung aller sinnlichen Reize beim Küssen. Aber nicht nur das: Mary kennt auch die Kultur-, Film-, Literatur- und Kunstgeschichte des Kusses.

Mary hat jedoch – Sie haben es sich vielleicht schon gedacht – in ihrem Leben noch nie selbst geküsst. Stellen wir uns also den wundervollen Augenblick vor, in dem sie zum ersten Mal geküsst wird: ein netter junger Mann, eine romantische Liebe, ein erster, langer Kuss. Die Preisfrage lautet nun: Was weiß Mary nun mehr, nachdem sie geküsst hat? Im Gedankenexperiment hatte Mary ja bereits alles über das Küssen gewusst, was man überhaupt darüber wissen kann! Aber man wird kaum behaupten können, dass diese persönliche Erfahrung für Mary gänzlich irrelevant sei und ihr nichts Neues an Erkenntnissen über das Phänomen des Küssens gebracht hätte.

Ähnliche Gedankenexperimente sind in der Neurophilosophie oft durchdacht worden. Ich führe das Beispiel hier an, um zunächst zwei gänzlich verschiedene, nicht ineinander überführbare und doch spannungsvoll aufeinander bezogene und nicht einfachhin voneinander unabhängige Zugänge zur Wirklichkeit (oder besser: Wirklichkeiten?) zu unterscheiden: überpersönliches Wissen und persönliche Erfahrung.

Selbst perfektes Wissen kann persönliche Erfahrung nicht ersetzen. Ein Arzt mag (fast) alles über eine bestimmte Krankheit wissen – aber wie dramatisch ändert sich sein Zugang zu diesem Phänomen, wenn er diese Krankheit selbst durchleiden muss. Es stimmt: Durch persönliche Erfahrung wird noch kein Wissen gewonnen (allenfalls neue Hypothesen, wenn das Wissen entgegen unseres Gedankenexperiments noch nicht vollständig ist). Und es stimmt auch, dass die persönliche Erfahrung zu zutreffendem Wissen in keinerlei Widerspruch tritt und treten kann: Die Krankheit entwickelt sich auch im Einzelfall tatsächlich so, wie es wissenschaftlich beschrieben wird; und beim Küssen laufen die Muskelphysiologie, die Endokrinologie usw. genauso ab, wie es die Osculogie herausgefunden hat, und selbstverständlich findet der Kuss in einem kulturellen Kontext statt, der durch Kunst, Literatur etc. geprägt ist. Überpersönliches Wissen, persönliche Erfahrung – interessanterweise kann man hier eine gewisse Spannung verschiedener Wirklichkeitszugänge nur konstruieren, wenn man eher psychologische Phänomenbereiche auswählt. Wer hat schon persönliche Erfahrung mit Atomen, Quasaren oder Genen? Offensichtlich stehen Themen bzw. Phänomene im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften dagegen in dem genannten Spannungsfeld. Nur diese Phänomene lassen sich auf zwei völlig verschiedene Weise beobachten bzw. wahrnehmen: überpersönlich-wissenschaftlich und persönlich. Aber ist das Phänomen "Kuss", das ein Wissenschaftler in seinem Labor untersucht, identisch mit dem Phänomen "Kuss", das eine Person erfährt – oder sind nur die Bezeichnungen identisch? (Und so auch: "Angst", "Gedächtnis", "Denken", "Wollen", "Entscheiden" usw.) Ich vermute, dass aus diesem eigenartigen Umstand auch die bekannten Schwierigkeiten für den öffentlichen Diskurs über die Hirnforschung resultieren, da immer wieder ein methodisch nicht festgelegtes Changieren zwischen beiden Zugängen zur Wirklichkeit derartiger Phänomene eintreten kann; die Diskussion kann kaum rein wissenschaftlich verlaufen, immer wieder tritt persönliche Betroffenheit auf den Plan.

Das Anliegen vieler Philosophen ist es, gegen die umfassenden Erklärungsansprüche der Neurowissenschaftler die Besonderheit des Bereichs persönlicher Erfahrung herauszustreichen und gegen voreilige und oberflächliche Vereinnahmung durch das Wissen zu schützen: Da sei "etwas", was man prinzipiell nicht wissen könne; da gebe es "etwas", was sich als solches objektiv nicht beobachten, feststellen und messen lässt. Was aber könnte das sein, was sich prinzipiell nicht beobachten – und doch vernünftigerweise nicht leugnen lässt? Meines Erachtens gibt es eine einfache Antwort auf diese Frage: Das Beobachten lässt sich als solches nicht objektiv beobachten, es ist nicht einfach Teil der Natur; man kann nicht sagen, dass es das Beobachten "gibt", jedenfalls nicht so wie es Atome, Quasare und Gene – also Beobachtetes – gibt.

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Geboren 1967 in Emsdetten/Westfalen. Diplom kath. Theologie 1993, Psychologie 1997, beides an der Universität in Bonn. Nach einem Jahr am Leipziger Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung (1997-98) bin ich seit Oktober 1998 klinischer Neuropsychologe an der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn. Ich wurde an der Universität Bielefeld promoviert (2004) und habe mich 2015 an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn habilitiert (Venia legendi für das Fach Neuropsychologie). Klinisch bin ich seit vielen Jahren für den kinderneuropsychologischen Bereich unserer Klinik zuständig; mit erwachsenen Patientinnen und Patienten, die von einer schwerbehandelbaren Epilepsie oder von psychogenen nichtepileptischen Anfällen betroffen sind, führe ich häufig Gespräche zur Krankheitsbewältigung. Meine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen klinische Neuropsychologie (z.B. postoperativer kognitiver Outcome nach Epilepsiechirurgie im Kindesalter) und Verhaltensmedizin (z.B. Depression bei Epilepsie, Anfallsdokumentation). Ich habe mich immer wieder intensiv mit den philosophischen und theologischen Implikationen der modernen Hirnforschung beschäftigt (vgl. mein früheres Blog WIRKLICHKEIT Theologie & Hirnforschung), eine Thematik, die auch heute noch stark in meine Lehrveranstaltungen sowie meine öffentliche Vortragstätigkeit einfließt.

4 Kommentare

  1. Erstmal: Zustimmung. Ein hübsches Modell zur Erläuterung der “Perspektive der ersten und der dritten Person”. Normalerweise sind es ja Eindrücke von Farben oder sonstige “raw sensations”, die man als Beispiele wählt; um wievieles netter, um wievieles persönlicher ist da ein verschämtes, erstes Küsschen.

    Nur fag’ ich mich: warum traut sich keiner, mal auf die Pauke zu hauen und führt, sagen wir mal, den “Orgasmologen” ein? Wesentliche Teile des Subjektes, so will mir scheinen, hausen eben auch unter der Gürtelinie.

    Ernsthaft:
    (Zitat)
    “Das Beobachten lässt sich als solches nicht objektiv beobachten, es ist nicht einfach Teil der Natur; man kann nicht sagen, dass es das Beobachten “gibt”, jedenfalls nicht so wie es Atome, Quasare und Gene – also Beobachtetes – gibt.”
    (Zitat Ende)

    Tendenziell finde ich diesen abschliessenden Absatz irreführend, indem er das Sein der Beobachtung in Anführungszeichen, also in eine Art von “nicht-wirklich-sein” setzt, den beobachteten Dingen aber, ganz ohne Gänsefüsschen, das Sein selbst zuspricht.

    Damit etwas “sei”, braucht es zweierlei: den Betrachter und das Betrachtete, die sich gegenseitig nicht vertreten und ihre Positionen nicht vertauschen können. Keins von beiden, nicht der Betrachter und nicht das Betrachtete, kann weggenommen werden, ohne dass das Sein verschwände. Mit anderen Worten: ich halte (mit Berkeley) dafür, dass “Subjekt” und “Objekt” denselben ontologischen Status haben (für den mir das Wort fehlt) und dass “Sein” eine Relation zwischen beiden ist.

  2. Perspektivik und Sein

    Ich habe die häufig verwendete Unterscheidung Erste-Person- vs. Dritte-Person-Perspektive (1PP vs. 3PP) bewusst vermieden. Denn die Tatsache, dass bestimmte Dinge (z.B. innere Vorstellungen) nur von mir, andere Dinge jedoch auch von anderen wahrgenommen werden können, impliziert ja nicht notwendig, dass das Wahrnehmen selbst in den beiden Fällen gänzlich verschieden ist oder aus völlig unvereinbaren Perspektiven heraus erfolgt. Daher der Vorschlag: überpersönlich vs. persönlich. Auch das Überpersönliche nehme ich stets aus der 1PP wahr.

    Objekt nur plus Subjekt = Sein – Zustimmung! Hierauf wird noch genauer zurückzukommen sein; denn eine Analyse des unmittelbaren Erlebens (coming soon!) kommt konsistent zu dem Schluss, dass die Kategorien des “Gegenüberseins”, “Getrenntseins” von Subjekt und Objekt unangemessen erscheinen, um das “feld”-artige Wesen des bewussten Erlebens angemessen zu beschreiben. Es handelt sich demnach bereits um Abstraktionen vom unmittelbaren Erleben, wenn man sich den Vorgang der Beobachtung als Begegnung von (substanziell gedachtem) Subjekt/Ich/Beobachter und (substanziell gedachtem) beobachtetem Objekt vorstellt.

  3. “überpersönliches Wissen und persönliche Erfahrung.”

    Warum so kompliziert?
    Geist und Körper machen uns aus, psychisch und physisch lässt sich die Welt erfahren.
    Wissensmaschinen die über Wirklichkeiten und Erfahrungen reden als jonglierten sie 7 Bälle gleichzeitig sollten sich wirklich mal schwammige Esotherik und einen Joint statt ein Glas Wein gönnen …
    Hierdurch könnten sie wesentlich mehr erfahren als alle Philosophen der westlichen Welt je geschrieben haben.

  4. Lieber Herr Hoppel,

    falls Sie tatsächlich glauben, dass die “Osculogie” die Lehre vom Küssen ist oder heißt, dann glaube ich tatsächlich, dass “Diplompsychologie” die Haubentaucherei ist oder heißt, oder eben was auch immer ich gerade will (siehe das “Humpty-Dumpty-Argument” i. d. Philosophie).

    http://www.fremdwort.de/suchen/bedeutung/osculum

    Solange Sie und / oder Ihre Sprachgenossenschaft (Zunft) noch glauben, ganz frei bestimmen zu können, was ein Nomen oder Wort bedeutet oder nicht bedeutet – heißt oder nicht heißt – drücken Sie sich bloß vor der Arbeit, denn nur irgendetwas zusammenspinnen kann sich auch jeder selbst.

    Beweis: “Geist heißt (od. ist) Schnupftabak” – das ist zwar eine assertorische Aussage, wie eben jede blöde (Nominal-) Definition eine assertorische Aussage (Behauptung) ist, aber selbige brauchen in den Naturwissenschaften ja gottseidank NICHT verifiziert zu werden. Was oder wie etwas ist oder heißt, wird in den Naturwissenschaften einfach beschlossen, denn wenn eine Aussage oder Behauptung erst verifiziert oder bewiesen werden müßte, dann hätten die Professoren und / oder die Enzyklopädisten ja mit nicht auch nur irgendeiner Behauptung recht, und dies wiederum würde heißen, dass der Professor / Enzyklopädist gar nichts zu verkaufen hat, sein Gehalt also wie alle anderen auch mit “wirklicher” (handgreiflicher) Arbeit verdienen gehen müßte.

    Das hätte allerdings auch ein Gutes: Der weltweite Beschiß mitsamt allem anhängenden Hass, Streit, Krieg und Völkermord wäre endlich vorbei. “Schluß mit der Lügenpresse und Schluß mit den Lügen-vorlesungen”. IDIOME transportieren kein Wissen – Idiome sind Widersprüche und können nur Widerspruch, Streit und Krieg schaffen.

    Falls auch Sie das wollen – wahre Gleichberechtigung – dann hören Sie bestimmt auch damit auf, Ihre Mitmenschen “Trolle” zu nennen, denn auch das ist nur so eine ebenso blöde Nomininaldefinition, wie die, wonach etwa MEIN Stundenlohn gleich 80 Euro ist oder heißt, und DEIN Stundenlohn bloß 8 Euro ist oder heißt.

    http://web.archive.org/web/20160424104844/https://scilogs.spektrum.de/wirklichkeit/geist-gehirn-hylemorphismus/