Der Teufel scheißt am liebsten auf einen großen Haufen

BLOG: WIRKLICHKEIT

Hirnforschung & Theologie
WIRKLICHKEIT

Ist das Leben gerecht? Wohl kaum. Warum leben einige an der Sonnenseite, während andere keinen Fuß auf den Boden bekommen? Wie ist die Rolle von Psychologie/Psychotherapie in diesem Zusammenhang zu beurteilen?

Nehmen wir an, es gäbe 10 wichtige große Lebensbereiche, die wesentlich unser Lebensglück bestimmen, z.B. Freude und Erfolg im Beruf, Partnerschaft, Kinder, Gesundheit, usw. Nehmen wir der Einfachheit ferner an, wir hätten für jeden Lebensbereich eine Münze: “Zahl” repräsentiert Glück in einem Bereich, “Adler” repräsentiert Pech. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Bereich Pech zu haben, betrage 10% – eine völlig willkürliche Annahme. Die Wahrscheinlichkeiten für Glück und Pech sehen dann folgendermaßen aus (Bernoulli-Kette, Online-Rechner: http://www.ingo-bartling.de/mathe/klasse12/html/stochastik/binomial/binomialvert.html, gerundete Werte):

  • Sonnenkönige: Pech in keinem einzigen Bereich – Glück in 10 von 10 Bereichen: 35%
  • Pech in 1 Bereich – Glück in 9 Bereichen: 39%

Fast 3/4 aller Menschen hätten also maximal in einem Bereich Pech!

  • Pech in 2 Bereichen – Glück in 8 Bereichen: 19%
  • Pech in 3 Bereichen – Glück in 7 Bereichen: 6%
  • Pech in 4 Bereichen – Glück in 6 Bereichen: 1%
  • Fifty-fifty: Pech in 5 Bereichen – Glück in 5 Bereichen: 0,2%

Und jetzt die Leute auf der Schattenseite des Lebens:

  • Pechvögel (mehr Pech als Glück): Pech in 6 Bereichen – Glück in 4 Bereichen: 0,01%
  • Absolute Pechvögel: Pech in 7 oder mehr Bereichen – Glück in 3 oder weniger Bereichen: <0,01%

Falsch an dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung ist leider die Annahme, die 10 Lebensbereiche seien voneinander unabhängig wie 10 Münzwürfe. Denn tatsächlich würde z.B. ein massives gesundheitliches Problem sehr bald Probleme im Beruf verursachen, wodurch sich die finanzielle Situation verschlechtert (was die gesundheitliche Versorgung nochmals verschlechtern kann); die Finanzierung des neu gebauten schönen Hauses wird jetzt zum Problem. Wenn man bis zum Auftreten der Erkrankung das Thema Partnerschaft/Familie nicht schon “in trockenen Tüchern” hatte, könnte es nun sehr schwer werden, überhaupt noch einen Partner zu finden; und ohne Partner wird man kaum Kinder haben können. Und so weiter. Die Lebensbereiche bauen letztlich aufeinander auf, logisch und biographisch, und wenn es an den fundamentalen Voraussetzungen fehlt, können nachfolgende Bereiche nicht gelingen. Wenn ich also in vielen fundamentalen Bereichen Glück habe, z.B. mich einer robusten Gesundheit erfreue, senkt dies die Wahrscheinlichkeit für Pech in anderen Bereichen, während die Wahrscheinlichkeit für Pech in den anderen Bereichen mit Pech in jedem einzelnen Lebensbereich steigt; bei fundamentalen Bereichen könnten sich diese Wahrscheinlichkeiten sogar dramatisch auf fast 100% steigern (z.B. keine Partnerschaft > keine Kinder).

In der Folge dieser stochastischen Abhängigkeiten wird die Population letztlich stärker in zwei Lager zerfallen: ein größeres Lager von Leuten auf der Sonnenseite des Lebens, die in praktisch allen Bereichen gut klar kommen, und eine Minderheit von Menschen auf der Schattenseite des Lebens (vielleicht 10-20%?), bei denen fast alles schief läuft und bei denen auch die Prognose nicht günstig ist, weil sich die grundlegenden Parameter nicht beliebig beeinflussen lassen (z.B. Gesundheit). Wie der Volksmund schon weiß: “Der Teufel scheißt am liebsten auf einen großen Haufen.”

Der statistische Blick auf unser Schicksal mag zunächst kalt erscheinen. Aber nur auf dieser Ebene gewinnen wir zuverlässige, objektive Informationen. Wir wissen beispielsweise, wie viele Menschen im nächsten Jahr an Epilepsie erkranken werden (ca. 40.000 in Deutschland) – wir wissen aber nicht, wer im Einzelnen das ist. Wir können Risikogruppen mit höheren Inzidenzen des Auftretens bestimmter Ereignisse identifizieren (z.B. deutlich erhöhte Inzidenz für Epilepsie bei älteren Personen) und – in einem logisch stets falschen Umkehrschluss – zur Meidung von verhaltens- bzw. lebensstilbezogenen Risikofaktoren aufrufen. Unser gesamtes medizinisches Wissen ist statistischer Natur: Gesundheit und Krankheit werden als Zufallsereignisse betrachtet, das Große Würfeln sozusagen. Wenn also Patienten einerseits eine individuelle Behandlung durch ihren Arzt wünschen, anderseits aber auch eine wissenschaftliche fundierte Medizin, dann besteht hier ein grundsätzliches konzeptuelles Missverständnis. Alle Therapieentscheidungen des Arztes beruhen auf statistischem Wissen, letztlich würfelt auch er.

Ich bin der Meinung, dass die Statistik uns erst die Augen öffnet – und daher auch erhebliches ethisches Potential in sich birgt. Denn diejenigen, bei denen es gerade gut läuft, bilden sich fast immer unheimlich etwas auf diese Tatsache ein: sie haben eben alles richtig gemacht im Leben, die richtigen Entscheidungen getroffen, sie haben’s einfach drauf, sie genießen ihr Leben in vollen Zügen. Die Anderen, tja, die kriegen’s einfach nicht hin, das ist ihr Problem, sie haben’s halt nicht drauf, die müssen von der “arbeitenden Bevölkerung” sogar noch mit durchgefüttert werden, faules Pack, wundern sich, dass sie krank werden, wenn sie nur Fast-Food-Mist essen, sollten mal mehr Sport machen, mit dem Rauchen aufhören, usw.!

Statistik belehrt uns, dass die entscheidenden Faktoren in unserem Leben – auch besondere Fähigkeiten, hohes Leistungspotential und eine effiziente, robuste Persönlichkeitsstruktur – schicksalshaft sind und sich purem Zufall verdanken. Die verhaltens- und lebensstilbezogenen Faktoren lassen sich viel weniger kontrollieren als gemeinhin angenommen wird; z.B. gibt es bis heute keine funktionierenden Programme zur nachhaltigen Gewichtsreduktion. Zudem werden Lebensstilfaktoren in Zusammenhang mit der Entstehung von Krankheiten heute massiv überschätzt. Selbst wenn man das Rauchen mit einbezieht, kommt man auf einen Anteil von vielleicht 25% aufgeklärter Varianz; 75% des Krankheitsgeschehens unterliegt Faktoren, die nicht verhaltensbezogen sind (diese Zahlen schwanken natürlich sehr stark von Krankheit zu Krankheit). In Ernährungsstudien werden in sehr großen Stichproben zwar immer wieder Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krankheit gefunden, aber das Ausmaß dieser Zusammenhänge, die sogenannte Effektstärke, ist meist gering und wird oft nicht einmal diskutiert. Zum Nutzen einer (zudem schwierigen) Intervention bei diesen beeinflussbaren Faktoren ist noch gar nichts gesagt! Es ist daher bitter, wenn man nach einem Herzinfarkt von den Oberschlauen zu hören bekommt: “Hättest Du mal keine Wurst gegessen!”

— Z.B. fanden Zyriax et al. (2011, Obesity Facts;  https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22166755) Zusammenhänge zwischen Ernährung und dem Risiko koronarer Herzerkrankungen bei Frauen; aber nur versteckt in den Grafiken findet man Angaben zur Effektstärke (R2 für Verzehr Fleischprodukte ja/nein z.B. lediglich 7% Anteil aufgeklärter Varianz) und für das Gesamtmodell finden sich gar keine Angaben hierzu – verwunderlich, dass so ein Manuskript das peer review überlebt. Die gefundenen statistischen Zusammenhänge, die heute in aller Munde sind, werden häufig nur aufgrund der sehr großen Stichproben überhaupt statistisch signifikant. —

Für die Solidarität mit unseren Kranken ist die Kontrollillusion, dass Krankheit wie selbstverständlich als Ergebnis einer falschen Lebensweise verstanden und folglich für vermeidbar und damit letztlich für selbst verschuldet gehalten wird, fatal. Es gibt Menschen, die haben – so die Formulierung eines ärztlichen Kollegen gestern bei einer Fallbesprechung – “kein gutes Leben gehabt”. Es gibt Menschen, die leiden nicht an “depressiver Verstimmung”, sondern die leben unter nachhaltig deprimierenden Lebensumständen und ihre anhaltend bedrückte Stimmungslage spiegelt das auch völlig adäquat wieder; keinesfalls liegt hier eine behandlungsbedürftige psychopathologische Störung der Affektregulation vor. Praktisch alles, was man von Psychiatern und Psychotherapeuten zu diesem Thema offiziell lesen kann, ist zynisch. Hier werden fast immer gesellschaftlich mitgeprägte und schicksalshafte Lebensumstände nicht nur dem Einzelnen angelastet und als innerpsychisches Problem fehlgedeutet; hier wird auch noch so getan, als könnte man mit etwas Umdenken hier (“kognitive Umstrukturierung”) und sich etwas anders Verhalten dort (“mal wieder ausgehen!”) schon bald wieder eine supertolle Stimmung erreichen – wobei erst das psychotherapeutisch induzierte Glücklich sein unter den gegebenen unglücklichen Lebensumständen der eigentliche Ausdruck von Psychopathologie wäre. Den meisten Psychotherapeuten ist überhaupt nicht klar, wie unendlich trivial und dumm ihre öffentlichen pseudopädagogischen Therapieempfehlungen sind! Wem das hilft, der hatte nie ein wirkliches Problem…

(Die tatsächliche Praxis der Psychotherapie und der psychologischen Beratung sieht gottseidank anders aus: Jenseits von Wissenschaft und Therapiemanualen wird hier von meinen Kolleginnen und Kollegen immer wieder auch echte Empathie und natürliche Mitmenschlichkeit praktiziert und von den Patienten auch als solche erfahren.)

Der Verweis an den Psychotherapeuten ist nicht selten der hilflose Ausdruck einer Unfähigkeit und auch Unwilligkeit derjenigen auf der Sonnenseite des Lebens, mit dem Unglück der Unglücklichen umzugehen; es ist eine Weise, Leiden auf intelligente Weise von sich fernzuhalten, die eleganteste Möglichkeit zudem, seinen eigenen Stolz auf das Erreichte und seine zynische und dumme Kontrollillusion aufrecht zu erhalten. Es ist bitter für Kranke und Arme, dass auch die Kirche heute sehr häufig zu einer Veranstaltung des gehobenen Bürgertums und der christliche Glaube damit zur religiös-magischen Variante der angesprochenen Kontrollillusion der Sonnenkinder verkommen ist: der Glaube als Mittel zu einem “gelingenden Leben” (wo kommt das alles nur her?!).

Und was hatte mich nun zu diesem Blogpost veranlasst? Auf Spiegel Online war heute Morgen gegen 8:00 Uhr ein Artikel mit dem Titel “Mit Rückschlägen umgehen: Raus aus der Grübelfalle” nicht “meist gelesen” und auch nicht “meist gesehen”, sondern “meist verschickt”. Und ich habe mir vorgestellt, wie Leute diesen Artikel an Bekannte verschicken, welche sie vermutlich gerade in der “Grübelfalle” wähnen und denen sie die Psychotipps aus dem Artikel mal zugute kommen lassen wollen. Der Artikel beginnt dann mit zwei Beispielen, wie das Leben anders laufen kann als geplant – morgens den Bus verpassen und der nichterfüllte Wunsch, eine Familie zu haben. Dass man diese beiden Widerfahrnisse ernsthaft als Instanzen ein und desselben Phänomens, welches ein und dieselbe psychologische Lösungsstrategie benötigt, begreifen kann, bringt die Dummheit des gesamten Artikels auf den Punkt. Wenn man sich nicht einlullen lässt, erkennt man, dass alle Zitate der Psychologen in dem Text überflüssiges und vielleicht sogar zynisches Geschwätz sind.

Wenn wir nicht mehr wissen, wie wir mit Menschen umgehen können, denen schlimme Dinge widerfahren, wenn wir glauben, dazu erst studierte Psychologen zu Rate ziehen zu müssen (die ihre eigene Hilflosigkeit angesichts eines ungerechten Schicksals nicht einmal erkennen), oder wenn uns selbst nichts anderes als psychologische Trivialismen dazu einfallen (da wir bitteschön in Ruhe gelassen werden wollen), dann sollten wir den Laden vielleicht besser dicht machen, oder?

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Geboren 1967 in Emsdetten/Westfalen. Diplom kath. Theologie 1993, Psychologie 1997, beides an der Universität in Bonn. Nach einem Jahr am Leipziger Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung (1997-98) bin ich seit Oktober 1998 klinischer Neuropsychologe an der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn. Ich wurde an der Universität Bielefeld promoviert (2004) und habe mich 2015 an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn habilitiert (Venia legendi für das Fach Neuropsychologie). Klinisch bin ich seit vielen Jahren für den kinderneuropsychologischen Bereich unserer Klinik zuständig; mit erwachsenen Patientinnen und Patienten, die von einer schwerbehandelbaren Epilepsie oder von psychogenen nichtepileptischen Anfällen betroffen sind, führe ich häufig Gespräche zur Krankheitsbewältigung. Meine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen klinische Neuropsychologie (z.B. postoperativer kognitiver Outcome nach Epilepsiechirurgie im Kindesalter) und Verhaltensmedizin (z.B. Depression bei Epilepsie, Anfallsdokumentation). Ich habe mich immer wieder intensiv mit den philosophischen und theologischen Implikationen der modernen Hirnforschung beschäftigt (vgl. mein früheres Blog WIRKLICHKEIT Theologie & Hirnforschung), eine Thematik, die auch heute noch stark in meine Lehrveranstaltungen sowie meine öffentliche Vortragstätigkeit einfließt.

16 Kommentare

  1. Hans im Glück oder Pechvogel, der Voksmund beschreibt treffend worum es geht.
    Wenn man das nicht als schicksalhaft akzeptieren will, muss man nach verlässlichen Parametern suchen.
    Nach Glück oder Unglück zu fragen, das ist ein sehr grobmaschiges Netz.

    Besser ist es Vergleiche anzustellen.
    Wie hoch ist die Selbstmordrate?
    Wie hoch ist der Verbrauch an Psychompharmaca?
    Wie hoch ist der Verbrauch an Alkohol?
    Wie hoch ist die Geburtenrate?
    Wie hoch ist die Zahl der Abtreibungen.
    Wie sehen die Betroffenen selbst ihre Situation?
    Wie siehst es in vergleichbaren Ländern aus?
    Spielt die Religion eine Rolle?
    Wie hoch ist die Lebenserwartung in Jahren?

    Dann kann man anfangen Arbeitshypothesen aufzustellen.

    Damit die Sache nicht zu trocken wird, sollen auch persönliche Lebenserfahrungen und Weisheiten mit einfliesen.

  2. Die URSACHE aller symptomatischen/systemrationalen Probleme unseres “Zusammenleben”, ist der nun “freiheitliche” WETTBEWERB, der ein brutal-egoisierendes “Individualbewusstsein” gestaltet, und Möglichkeiten / Menschenwürde in geistig-heilendem Selbst- und Massenbewusstsein konfusioniert, entstellt, ausschließt!!!

    Wenn wir diesen “Laden” nicht schließen, wo Geschäft / Kommunikationsmüll der höchste Sinn des Lebens ist, dann ist wirklich alles für’n Arsch.

  3. “Wo kommt das alles nur her?!”

    Es kommt vom ignorant-arroganten Erfolg der alles assimilierenden Methode Bewusstseinsbetäubung mit noch mehr Bewusstseinsbetäubung zu behandeln. 😎

  4. Ein hervorragender Artikel, der sich leidenschaftlich mit dem Zeitgeist anlegt.

    “dann sollten wir den Laden vielleicht besser dicht machen, oder?”

    Das dürfte auch fast unmittelbar bevorstehen.
    Dabei dürfte auch ein feixendes Verhalten eine Rolle spielen, das dem Sadismus nicht unähnlich ist. Wenn ich mir die Person des Finanzministers ansehe, habe ich bei dem immer das Gefühl, daß es ihm diebischen Spaß bereitet, dem Land mit seiner überzogenen Sparpolitik zu schaden, hinter der sich die systematische Umsetzung weiterer Belastungen derer verbirgt, die ohnehin schon benachteiligt sind.
    Ähnliches läßt sich bei Wirtschaftsführern und bei vielen Menschen im Alltag beobachten, diese ständige Lust daran, anderen zu schaden, wenn sich eine Chance dazu ergibt.
    Das läuft nur noch kurze Zeit so weiter, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die aufgestaute Wut entlädt, gerade das selbstgerechte und gewollte Unverständnis weiter Teile des Establishments und ihrer Jubelperser aus der Bevölkerung ist dafür ein sicheres Zeichen.
    Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen, das gilt auch umgekehrt. Wenn sich ausreichende Kräfte zur Gegenwehr entscheiden, kann auch das sehr schnell zum großen Haufen werden.

  5. Ich höre jetzt immer den Spruch: “Jeder ist sein Glückes Schmied” Das kann ich auch nicht mehr hören. Bist Du einem in diesem Strudel…..kommst Du auch mit Freunden mehr raus. Meist ziehst Du sie noch mit rein.

  6. Ich kann als Psychologe und Psychotherapeut rundherum nur zustimmen. Mir gefällt auch der deutliche Angriff auf vieles, was unser Berufsstand oft von sich gibt.
    Ich frage mich bei jedem meiner Patienten: Was würdest denn du mit diesen Voraussetzungen und unter diesen Umständen groß anders machen (und denken). Und solange ich das nicht gut beantworten kann, kann ich nur auffassen, nicht eingreifen.
    Und die psychopathologischen Kategorien finde ich höchstens sinnvoll, wenn sich der Patient darin zurückziehen will und keinen anderen Schutz findet.

  7. Treffender kann man es wohl kaum formulieren. Es gibt viele Menschen, die die Arschkarte gezogen haben. Selbst wenn ein hohes Mass an Eigenverschuldung vorhanden wäre, hat es definitiv auch mit Glück zu tun, in heiklen Momenten einfach “das Passende – das Richtige” zu tun – Oder – Am „richtigen, oder eben falschen Ort“ zu sein. Oder in die „richtige“ Familie, oder das „richtige“ Land geboren zu sein.

    Als Betroffener muss ich aber auch zugeben, Empathie ist schön und gut und wer es in seiner Situation erfährt, dem gönne ich dies von Herzen. Das Problem – oder Tatsache ist – An den “Parametern” ändert sich deshalb überhaupt nichts. Anders gesagt: Empathie-fähige “Hilfe” ändert leider rein gar nichts an einer möglichen vorhandenen Perspektivelosigkeit des Betroffenen – Ergo – egal ob selbstverschuldet oder nicht.

    Aber genau deswegen gefällt mir der Eintrag. Im „Therapie-Dschungel“ kommt den Betroffenen tatsächlich sehr oft eine unglaubliche Arroganz entgegen, so nach dem Motto: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Therapeuten preisen sich selbst sehr oft als wertfrei an und betonen ihr lösungsorientiertes Denken.
    Dabei sollte doch jedem Therapeuten klar sein, dass wirklich wertfreies Denken, eigentlich nur im Zuhören möglich ist, sobald jedoch analysiert und/oder kommentiert wird, vermischen sich zwangsläufig deren Wertvorstellungen und den allermeisten Hilfesuchenden ist damit nicht wirklich geholfen.

    Ich weiss, folgende Aussage ist gewagt, aber bis jetzt habe ich kein Argument gefunden, dass dagegen spricht:

    Wer das Augenmerk explizit auf lösungsorientierte Denken legt, ist in Tat und Wahrheit auf Probleme fixiert. Das alleine wäre meines Erachtens halb so wild, aber die versteckte Botschaft dahinter, die hat es echt in sich!
    Wer auf Probleme fixiert ist – und dem wiederum versucht, mit Lösungen entgegen zu wirken, sagt im Grund nichts anderes als: „Du musst dich ändern/verändern“. Ändern tut man in aller Regel aber etwas, was einem nicht gefällt, oder etwas, was einem Probleme bereitet. An und für sich logisch, aber dies bedeutet wiederum eine happige Botschaft an die Seele/Geist/inneres Kind – oder was auch immer: „Du bist nicht gut“.

    Ich halte dagegen und sage wiederum: Wenn ich das was ich bin und die Probleme, die aus meinem Sein heraus entstehen, aus meiner Biographie heraus verstärkt wird/wurde… Wenn das zu meinem Wesen gehört, warum soll ich dann mein Sein/Wesen als Problem betrachten und lösen, bzw. verändern wollen?

    Was ich sagen will: Es gibt Dinge, Wesenszüge, Charaktereigenschaften, die mögen den Betroffenen das Leben zwar sehr schwer machen, aber sie gehören nun mal zum „Menschsein“ dazu. Hat man dann noch wie gesagt die Arschkarte gezogen und das vielleicht schon sehr früh in seinem Leben, dann brauchen Betroffene ganz sicher keine Ratschläge. In diesem zusammengesetzten Wort ist ironischerweise eine Warnung in Form von – Schlag – enthalten. Schläge braucht eigentlich eh niemand und schon gar nicht, wenn einer schon auf dem Zahnfleisch geht.

    Anders gesagt: Ich persönlich musste lernen, freiwillig hätte ich das bestimmt nicht gelernt, gebe ich unumwunden zu: Aber ich musste lernen, mich und mein ganzes Bio so zu nehmen, wie ich bin, was mich prägte. Seit ich mich darin übe, betone ich meine Probleme weniger und der angenehme Nebeneffekt, ich muss mich nicht mit meinen Stärken brüsken, bzw. mit meinen Stärken meine “Schwächen“ kompensieren. Alles gehört zu mir, ja auch die Arschkarte.
    Bei den wenigen Versuchen mir dabei Hilfe zu holen, hat mich aber kein Therapeut darauf hingewiesen und beim durchstöbern der Hilfeangebote, fand ich ebenfalls keinen Hinweis dazu.

    Darum mein nochmaliges dickes Lob an diesen Eintrag!!!

  8. normaler Mensch,
    ……Arschkarte gezogen,
    also abgerechnet wird erst am Schluss.
    Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es Menschen gibt, die haben die “Lizenz zum Gelddrucken”, die haben materiell alles, aber im Privatleben läuft es nur suboptimal.
    Andererseits kenne ich Familien, deren finanzielle Situation ist schlimm , aber die sind mit vielen Freunden gesegnet.
    Also ein Pauschalurteil ist nicht möglich.
    Tragisch wird es bei Krankheiten, insbesondere bei Gendefekten. Können wir da überhaupt noch eine Aussage wagen ?
    Müssen wir überhaupt in Schubladen einteilen?
    Es reicht doch,, wenn wir solchen Menschen helfen, ohne Urteil.

  9. @ Bote17
    Da Sie mich direkt ansprechen.
    Es gelingt mir nicht mal ansatzweise, eine Verknüpfung von meinen Aussagen zu den Ihrigen herzustellen. Es scheint mir jedoch schon so, als hätten Sie nicht ganz verstanden, um was es mir ging. Deshalb schlage ich vor, wir lassen beides einfach mal stehen.

  10. Ich habe den Beitrag mit großer Zustimmung gelesen! In der Tat steckt hinter der Vorstellung, die Lebensverhältnisse seien weitgehend beeinflussbar, die Idee eines selbstbestimmten und weitestgehend unabhängigen Individuums. Doch sind die Lebensverhältnisse von uns Menschen viel stärker verflochten, als wir es in dem gesellschaftlichen Mainstream zugeben wollen. Damit sinkt aber die Fähigkeit zur Beherrschung der Lebensumstände. Die Faktoren, die uns glücklich oder unglücklich machen, sind stark voneinander abhängig. Deshalb reproduzieren sich ja auch weitgehend die Milieus in der Gesellschaft. Natürlich gibt es psychosomatische Effekte, natürlich kommt es auch auf die eigene Haltung an. Man kann seinen Lebensweg auch in Teilen beeinflussen. Und, wenn wir einigermaßen gesund sind, sollten wir unseren Lebenslauf auch selbst verantworten. Das heißt aber nicht, dass wir ihn “machen” könnten….

  11. Jetzt bloß nicht aus der einen idiotischen These heraus „Jeder hat sein Schicksal selbst in der Hand“ in die andere verfallen: „Die Gesellschaft ist zuständig für das Glück der Benachteiligten“.

  12. Vielen Dank für diesen interessanten wie wichtigen Artikel!

    Relevant scheint mir in diesem Kontext auch, dass die Medizin/Psychotherapie schon aufgrund ihrer Methoden (Gespräche im Zimmer von Ärztin oder Therapeut; medizinische Apparate und Tests) dazu neigt, die Ursachen im Individuum zu verorten.

    Das heißt, selbst wenn ein Mensch in einer Umgebung lebt, die ihn oder sie krank macht, werden die Fachleute erst einmal nur diesen Menschen sehen, nicht die Umgebung.

    Erst kürzlich sah ich eine Pressemitteilung, dass die Systemtherapie in Deutschland vielleicht bald in die Kassenleistungen aufgenommen wird; das scheint mir ein erster Schritt. Und in Gehirn&Geist fand ich einen Artikel über zunehmende Hausbesuche in der Psychiatrie.

    Wie dem auch sei: In Medizin und Psychotherapie äußern sich auch die moralisch-gesellschaftlichen Strukturen, einschließlich der Herrschaftsstrukturen, unserer Zeit. So überraschend ist das gar nicht. Dabei versuchen viele, vom Einzelnen bis zu ganzen Wirtschaftszweigen, Erfolge zu internalisieren, Misserfolge aber zu externalisieren.

    Wie der Artikel schön aufzeigt, gibt es ein Missverhältnis zwischen echten Ursache-Wirkungs-Beziehungen und unserer Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Vieles im Leben ist Zufall und lässt sich nicht oder nur bedingt kontrollieren. Dabei ist es wohl psychologisch “gesund”, die Erfolge sich selbst, die Misserfolge aber anderen zuzuschreiben.

  13. normaler Mensch,
    nach ihrer Antwort scheine ich wirklich nicht verstanden zu haben, was sie wollen.
    Sie sagen: Anders gesagt: Empathie-fähige “Hilfe” ändert leider rein gar nichts an einer möglichen vorhandenen Perspektivelosigkeit des Betroffenen – Ergo – egal ob selbstverschuldet oder nicht.

    Die empathiefähige Hilfe ist das einzige was hilft. Sie hilft dem Betroffenen seinen Focus zu erweitern. Sie hilft zu sehen, dass es auch anders geht. Sie hilft überfällige Entscheidungen zu treffen.

    Sich nur hinstellen und sagen :Ich bin eben so, dass ist nur in Extremfällen angebracht, wie ich es auch angedeutet habe, bei Gen-Defekten oder Sachlagen, die sich nicht ändern lassen, das ist eine Kapitulation.
    Sich selbst zu akzeptieren ist nur dann o.k., wenn man alle Möglichkeiten rational und mit Hilfe anderer abgeklopft hat.
    Sich zu ändern darf per se nicht ausgeschlossen sein.
    Liege ich da wieder falsch?

  14. fegalo,
    volle Zustimmung.

    Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Die Umwelt kann krank machen , wenn man sich ihr nicht anpasst. Der Einzelne hat Eigenverantwortung und darf den anderen nicht auf der Tasche liegen.

    Das klingt alles nach Binsenweisheit, ich weiß.