Bloggewitter: Depression – was erklärt die Hirnforschung?

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Hirnforschung & Theologie
WIRKLICHKEIT

Die Neuropsychiatrie hat in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebt. Die Berücksichtigung psychiatrischer Störungsbilder in der Neurologie wird immer wichtiger. Ein zentrales Forschungsthema ist dabei die Depression. Bei Epilepsiepatienten lassen sich die möglichen Ursachen einer Depression besonders eindrücklich aufzeigen.

Deutungsmacht

Was ist Depression?

Jeder kennt wohl Phasen, in denen er aus mehr oder weniger nachvollziehbaren Gründen „schlecht drauf“ ist. Man hat zu nichts Lust, fühlt sich müde, schlapp, will am liebsten in Ruhe gelassen werden. Schlafen wäre gut – wenn da nicht diese Schlafprobleme wären. Nun, Launen kommen und gehen. Und es gibt negative Ereignisse, die über längere Zeiträume das Leben überschatten und einem die Freude rauben können (loss of pleasure). Auch wenn man krank ist, ändern sich Verhalten und Erleben in genau diese Richtung: Rückzug, Energiemangel, Appetitlosigkeit, usw. (sickness behavior).

Die offiziellen Kriterienkataloge (noch DSM-IV-TR und ICD-10) sind nicht ganz eindeutig, aber letztlich läuft die Diagnostik auf die Frage hinaus, ob die Steuerung des emotionalen Befindens gestört ist; die veränderte Befindlichkeit an sich ist dagegen nicht hinreichend, um eine psychiatrische Störung zu diagnostizieren (siehe oben). Die psychiatrische Diagnose verlangt demnach eine umfangreiche Berücksichtigung der Lebensumstände und der Persönlichkeit, um möglichst im Konsens mit dem Patienten zu beurteilen, ob das derzeitige affektive Erleben „angemessen“ erscheint. Die Konzentration auf die Befindenssteuerung (statt auf das Befinden selbst) erscheint mir besonders wichtig, wenn schwere chronische Erkrankungen im Spiel sind, da diese leider allzu häufig Gelegenheiten und nachvollziehbare Gründe liefern, sich schlecht zu fühlen – ohne dass der Betroffene an einer affektiven Störung litte.

Depression als Hirnerkrankung

Die Epilepsien bieten eindrucksvolle Beispiele dafür, dass hirnpathophysiologische Veränderungen intrinsisch Depressionen auslösen können. Depressionen werden beispielsweise von den Patienten recht häufig als Vorzeichen epileptischer Anfälle angeführt. Noch häufiger folgen depressive Zustände einem Anfall; dieser Zustand kann dann ohne Weiteres mehrere Tage anhalten. Es sind sogar einzelne Fälle akut auftretender heftigster Suizidalität dokumentiert worden, bei denen weitere Untersuchungen erbrachten, dass unmittelbar in der Nacht vorher – also ohne Wissen des Patienten – bisher nicht bekannte epileptische Anfälle aufgetreten waren, es sich mithin um postiktale affektiv-psychotische Zustände handelte. Ferner ist von manchen Antiepileptika bekannt, dass sie Depressionen begünstigen oder auslösen können (z.B. Phenobarbital und Primidon); andere Medikamente wurden mit Reizbarkeit und erhöhter Aggressivität in Verbindung gebracht (z.B. Levetiracetam).

Die Literatur wimmelt aktuell von Studien, in denen Korrelationen zwischen epilepsiebezogenen Variablen (z.B. Ort oder Seite des epileptischen Fokus) und dem Auftreten oder der Intensität von Depressionen bei Epilepsiepatienten gesucht werden. Immer wieder behauptet wird z.B. ein Zusammenhang zwischen Schläfenlappenepilepsie (vor allem den temporomesialen Epilepsien) und Depression. Meines Erachtens ist die Befundlage hierzu nicht wirklich überzeugend. Die Stichproben sind meist klein, die Analysen sind korrelativ, die Ergebnisse erscheinen von Studie zu Studie nicht sonderlich stabil. Dies gilt auch für Studien, in denen Bildgebung eingesetzt wird. Wenn ich 100 beliebige Hirnmarker (Struktur oder Funktion, egal) mit irgendeinem Depressions-Score korreliere, werde ich wahrscheinlich bei 5en eine auf dem 5%-Signifikanzniveau signifikante Korrelation finden. (Über die anderen 95 durchgeführten statistischen Tests berichte man tunlichst nicht!) Ohnehin wäre in Zeiten eines (hoffentlich) überwundenen Geist-Gehirn-Dualismus der Nachweis von Hirnkorrelaten einer veränderten Stimmungslage erstens keine große Überraschung mehr und zweitens kein Beweis für eine intrinsische Ätiologie; eher überrascht, wie uneindeutig die Befundlage bis heute ist.

Biopsychosoziale Verursachung einer Depression

Epilepsien bieten jedoch auch sehr anschauliche Beispiele für das biopsychosoziale ätiologische Modell der Depression.

– Das Diathese-Stress-Modell (allostatic load)

Epilepsie bringt Stress mit sich, man spricht vom „burden of epilepsy“: körperliche Verletzungen durch Anfälle, Krankenhausaufenthalte, Nachteile in Ausbildung und Beruf, geringeres Einkommen, geringerer sozioökonomischer Status, seltenere Partnerschaften/Ehen, zusätzliche kognitive Einschränkungen oder Verhaltensauffälligkeiten, und – beschämenderweise – soziales Stigma und Vorurteile noch und noch.

Das Diathese-Stress-Modell erklärt psychopathologische Störungen durch die entweder traumatisch-akute oder über längere Zeiträume andauernde tatsächliche oder subjektiv wahrgenommene Diskrepanz zwischen Lebensanforderungen und den vorhandenen Bewältigungsressourcen. In vielen Fällen stellt Epilepsie eine Anforderung dar, die man nicht "mal einfach so" bewältigen kann und die das Leben und die Zukunftsaussichten nachhaltig beeinträchtigt.

– Erlernte Hilflosigkeit

Im Tierexperiment ist „erlernte Hilflosigkeit“ immer noch das Standardmodell zur Induktion von depressionsähnlichem Verhalten. Beim „forced swim test“ werden Tiere beispielsweise wiederholt in Wasser gesetzt; man lässt sie bis zur Erschöpfung schwimmen und rettet sie dann. Diese aversive bzw. lebensbedrohliche, unkontrollierbare und sich wiederholende Stimulation führt bei vielen Tieren bald zu „Depression“. Epileptische Anfälle ähneln dieser Situation: Sie sind unkontrollierbar, potentiell lebensbedrohlich und wiederholen sich – zudem können extrem beschämende soziale Situationen resultieren (z.B. Einnässen während des Anfalls). Depression bei Epilepsie könnte hierüber ausgelöst oder begünstigt werden.

– Verstärkerverlust

Die Epilepsie erzwingt Verhaltensänderungen, aus Selbstschutz und um sozialen Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Bestimmte angenehme Aktivitäten müssen aufgegeben werden, z.B. Schwimmen (Ertrinkungsgefahr bei Anfällen) oder nächtliche Sausen mit den Kumpels (regelmäßiger Schlaf, Interaktion Alkohol/Medikamente); vielleicht kann die bisherige Arbeit nicht fortgesetzt werden. Der Führerschein ist futsch oder darf erst gar nicht gemacht werden. Soziale Kontakte gehen verloren; ohnehin dünnt sich der „Freundes"-kreis meist rasch aus. Insgesamt werden also die Gelegenheiten, sich wohl zu fühlen und daraus neue Energie zu tanken, seltener. Das Leben verläuft immer einspuriger, ohne Aussicht auf grundlegende Verbesserung. Die körperliche Aktivität lässt vielleicht nach. Es resultiert das Bild einer Depression.

Gibt es Gründe, das biopsychosoziale Krankheitsmodell, in dessen Mittelpunkt die Belastung durch Anfälle steht, gegenüber einem rein hirnpathophysiologischen Modell zu favorisieren? Ich meine, ja:

– Epilepsiepatienten, bei denen die Anfälle vollständig sistierten oder therapeutisch kontrolliert werden konnten (z.B. mittels Epilepsiechirurgie), haben deutlich seltener Depression (Prävalenz wie in der „Normalbevölkerung“).

– Patienten mit nichtepileptischen, psychogenen Anfällen – bei denen weder die hypersynchrone neuronale Aktivität als typisches EEG-Korrelat eines epileptischen Anfalls noch sonst eine Hirnpathologie gefunden wird – zeigen in mindestens gleichem Ausmaß Depressionen wie Patienten mit epileptischen ("organischen") Anfällen.

– Hirngesunde Eltern von Kindern, die an Epilepsie erkrankt sind, zeigen ebenfalls deutlich erhöhte Depressionsraten.

 

Was also erklärt der Verweis auf die Hirnebene?

Ich verstehe die Depression zunächst als ein komplexes psychisches Phänomen, das außerhalb des Selbstberichtes des Patienten bzw. seines Verhaltens (etwa im Vergleich zu früheren Lebensabschnitten) überhaupt nicht existiert und folglich auch nicht im Gehirn festgestellt werden kann. Es mag im Gehirn Korrelate dieser Zustände geben, vielleicht sogar brauchbare Indikatoren – aber diese wären nicht selbst die Depression. Depression ist und bleibt Zustand einer Person.

Lässt man den Gehirn-Geist-Dualismus hinter sich, dann liegt im Nachweis eines Hirnkorrelates einer psychischen Störung (welcher nur auf Gruppenebene möglich ist) noch keine kausale Erklärung dieser Störung. Vielmehr wäre weiterzufragen: Wie geriet denn das Gehirn in diesen Zustand? Und diese Frage müsste man, wiederum non-dualistisch, sogleich in Verbindung mit dem Verhalten und Erleben des Hirninhabers stellen. Es gibt hier kein Entweder-oder von Gehirn und Psyche!

Praktisch-klinisch bleibt die Frage nach der möglichst effizienten Unterstützung der betroffenen Patienten.

 

Hirn-therapie oder Psycho-therapie?

Natürlich besteht auch die Frage nach dem erfolgversprechendsten Therapieansatz letztlich nicht in der Alternative von Gehirn versus Seele. Klinisch ist klar, dass es nie um das Gehirn selbst geht, sondern um eine therapeutische Beeinflussung von Verhalten und Erleben, nämlich die Wiederherstellung einer adäquaten Befindenssteuerung (nicht von Glücksgefühlen!); die abhängigen Variablen sind psychischer Natur. Meines Erachtens sollte man die Therapiefrage ganz unmetaphysisch, allein basierend auf empirischen Fakten angehen.

Die in den letzten Jahren publizierten Metastudien zur Wirkung moderner Antidepressiva (besonders der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, SSRIs) lassen mindestens den Schluss zu, dass man ihre therapeutische Wirkung nicht überschätzen sollte. Es gibt einen großen Publikationsbias in diesem Fachgebiet; durchgeführte, jedoch „negative“ Studien werden fast nie publiziert. Es scheint so zu sein, dass überhaupt nur schwere Depressionen spezifisch auf die modernen Antidepressiva ansprechen – und zwar, weil in diesen Fälle die Wirkung von Placebos nachlässt. Bei Epilepsien sind die Depressionen jedoch meist mild bis moderat ausgeprägt. Angesichts der vehementen Empfehlungen von Experten zum Einsatz von Antidepressiva bei depressiven Epilepsiepatienten ist man überrascht festzustellen, dass kontrollierte Studien, die die Wirksamkeit und Sicherheit dieser Substanzen in dieser Patientenpopulation belegen, nicht existieren.

Die Studienlage für Psychotherapie – insbesondere Kognitive-behaviorale Therapie, Behaviorale Aktivierung und Acceptance and Committment Therapy ist günstig, qualitativ und quantitativ; moderate Wirksamkeit kann trotz eines auch hier vorhandenen Publikationsbias als nachgewiesen gelten. Auch für depressive Epilepsiepatienten liegen zahlreiche positive Studien vor. Die Therapie funktioniert sehr gut über Entfernungen, z.B. internetbasiert, und man kann Ehrenamtliche für entsprechende Programme schulen. Ein präventiver antidepressiver Effekt konnte bei Jugendlichen nachgewiesen werden, bei denen Epilepsie erstmals diagnostiziert wurde. Prä-post-Bildgebungsstudien (fMRI) belegten die mit einem Therapieerfolg zu erwartenden hirnphysiologischen Veränderungen.

Bei Epilepsiepatienten dürfte auch nichtmedizinische professionelle Unterstützung eine wichtige Rolle spielen, um Depressionen zu überwinden oder zu vermeiden, z.B. durch Sozialarbeiter. Die Patienten brauchen Unterstützung bei Anpassungen im Berufsleben oder in der Schulsituation. Auch bei der Beantragung anderer Hilfen (z.B. Begleitung, Familienhilfe, Schwerbehindertenausweis etc.) fallen Behördengänge und dergleichen an. Möglicherweise sind Veränderungen im privaten Umfeld unvermeidlich, bei denen psychologische und sozialarbeiterische Beratung sinnvoll sein kann.

Wie weit geht diese Hilfe, realistisch?

Es wäre kein Problem, alle Menschen lustig und happy zu machen; wir kennen genügend Substanzen, mit denen dies in wenigen Minuten erreicht werden kann. In der klinischen Perspektive geht es jedoch nicht um andauernde gute Laune, sondern darum, dass der Patient im Rahmen seiner Persönlichkeit, angemessen affektiv auf seine Lebenssituation reagieren und die vorhandenen Bewältigungsmöglichkeiten voll nutzen kann. Ich vermute, dass bei vielen depressiven Epilepsiepatienten meistens keine wirkliche Affektregulationsstörung im Sinne einer psychiatrischen Erkrankung vorliegt, sondern schlicht eine wirklich bedrückende Lebenssituation, auf die affektiv in durchaus nachvollziehbarer Weise reagiert wird.

Der Optimismus derjenigen, die mit dem Helfen ihr Geld verdienen, kann für Patienten manchmal ansteckend, häufiger aber wohl frustran sein. Was in vielen Fällen nach vielen Misserfolgen eigentlich gebraucht wird, ist die Bereitschaft zu ungetrübtem Realismus, auch auf Seiten der Ärzte und anderer professioneller Helfer: die Anerkennung der in einer Lebenssituation bestehenden, manchmal unerträglichen Schwierigkeiten, die sich nicht „mal eben so“ lösen lassen und doch ertragen werden müssen.

Ich will keinesfalls bestreiten, dass Medikamente phasenweise eine gute Wirkung haben und für manche Patienten eine therapeutische Option darstellen können. Aber ich bezweifle, dass es im Falle einer Depression bei Epilepsie mit Medikamenten schon getan wäre. Auf jeden Fall verlange ich für die im Grunde absurde Behauptung – Pille = Problem gelöst –, die man natürlich gerne glauben würde, wesentlich bessere Evidenz als sie aktuell geboten wird. Letztlich sind schwierige Anpassungsprozesse ans Leben selbst gefordert, die – abhängig von unzähligen Parametern – mehr oder weniger gut gelingen und eben auch teilweise misslingen oder schlicht verweigert werden können.

Bietet der Rückverweis auf Hirnprozesse in der modernen Neuropsychiatrie mit seiner erkennbaren dualistisch-reduktionistischen Tendenz (Gehirn statt Patient) den Ärzten und den Patienten vielleicht die heimlich erwünschte Möglichkeit, sich von einer bedrückenden und unlösbar schwierigen Lebenssituation abzulenken? Funktionieren die Neurowissenschaften nicht in vielen Bereichen als Quelle einer Utopie und einer Allmachtsphantasie, die die Gesellschaft der Nichtbetroffenen von der aktuell bestehenden, belastenden Realität des Lebens mit einer Hirnerkrankung auf recht unterhaltsame Weise ablenkt?

 

Literatur:

Hoppe, C., & Elger, C. E. (2011). Depression in epilepsy: a critical review from a clinical perspective. Nat Rev Neurol, 7(8), 462-472.

Ioannidis, J. P. (2008). Effectiveness of antidepressants: an evidence myth constructed from a thousand randomized trials? Philos Ethics Humanit Med, 3, 14.

Davis JM, Giakas WJ, Qu J, Prasad P, Leucht S. (2011). Should we treat depression with drugs or psychological interventions? A reply to Ioannidis. Philos Ethics Humanit Med. 6:8. 

Turner, E. H., Matthews, A. M., Linardatos, E., Tell, R. A., & Rosenthal, R. (2008). Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med, 358(3), 252-260.

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Veröffentlicht von

Christian Hoppe ist habilitierter klinischer Neuropsychologe an der Klinik und Poliklinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn. Nach seinem Studium der katholischen Theologie (1987-1993) und der Psychologie (1991-1997) sowie einem Jahr an der Tagesklinik für Kognitive Neurologie der Universität Leipzig sowie dem Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung (jetzt Max Planck Institute of Cognitive Neuroscience) ist er bereits seit 1998 in Bonn tätig. Promotion 2004 an der Universität Bielefeld (Prof. Dr. W. Hartje). Seine Schwerpunkte sind klinisch die interventionelle Neuropsychologie (u.a. Patientengespräche), wissenschaftlich die psychiatrie/psychotherapie-nahen Themen der Neuropsychologie (Depression bei Epilepsie, psychogene nichtepileptische Anfälle/dissoziative Störungen), aber auch das Gedächtnis, und in Lehre und Wissenschaftskommunikation Fragen rund um Geist und Gehirn (z.B. auch Nahtoderfahrungen) und ein wenig Statistik. Seine große Leidenschaft ist das Billard. (Profilbild by Lennart Walger) Wichtiger Hinweis - eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Kommentare und Antworten auf Kommentare bitte max. 500 Wörter und strikt "on topic"! Danke!

26 Kommentare

  1. “bio”psychosoziales ätiologisches Modell

    “Ich vermute, dass bei vielen depressiven Epilepsiepatienten meistens keine wirkliche Affektregulationsstörung im Sinne einer psychiatrischen Erkrankung vorliegt, sondern schlicht eine wirklich bedrückende Lebenssituation, auf die affektiv in durchaus nachvollziehbarer Weise reagiert wird.”

    Diesen Punkt finde ich sehr gut. Er gilt wohl auch für weitere Depressionen und ich denke, man darf von einem Spektrum ausgehen, an deren einem Ende dann aber schon auch Affektregulationsstörungen vorhanden sind.

    Sind dann Deiner Meinung nach diese “wirklichen” Affektregulationsstörungen wirklich nicht “außerhalb des Selbstberichtes des Patienten” existent? Dass man diese grundsätzlich nicht im Hirn “feststellen” — in Sinne einer Lokalisation — wird können, würde dem in meinen Augen gar nicht widersprechen (s. Beitrag “Psychisch oder psychiatrisch?”).

    Anders gefragt: wofür steht das “Bio” in “biopsychosoziale” wenn wir den Gehirn-Geist-Dualismus hinter lassen?

  2. biopsychosozial

    Ein sehr schöner Artikel. @Markus Dahlem

    Einen Grund das Bio drin zulassen bringt Christian ja selber, wo er sagt:

    “Die Epilepsien bieten eindrucksvolle Beispiele dafür, dass hirnpathophysiologische Veränderungen intrinsisch Depressionen auslösen können.”

  3. Mich wundert die Frage: Hirn-therapie oder Psycho-therapie?.

    Was wird denn bei einer Psychotherapie real verändert, wenn nicht das Gehirn? Und würde eine Hirntherapie etwas anderes beeinflussen als die Psyche?

  4. psychosoziales ätiologisches Modell

    Ich denke wir sind uns einige, dass “Bio” und “Psycho” zwei Seiten einer Medaille sind, wobei schon die Betonung einer der beiden Seiten etwas sagt, die Wörter also nicht synonym verwendet werden können.

    Im Begriff “biopsychosoziales ätiologisches Modell” sehe ich den “sozialen” Aspekt als Zusatz zudem “biologischen/psychischen”, es ist aber mE kein Dreiklang und ich sehe noch keinen Verlust in der Bedeutung gegenüber dem Begriff “psychosoziales ätiologisches Modell”.

  5. Bio vs. Psycho

    Für mich ist “Psycho” ein Aspekt von “Bio”.

    Eine begriffliche Trennung von Psycho- und Bio- oder Hirntherapie ist sicherlich sinnvoll, schon aus rein praktischen Gründen.

    Aber was heißt es, wenn Depression ein “Zustand einer Person” “ist und bleibt”? Wird der geistig-psychische Zustand einer “Person” nicht durch den Zustand seines Nervensystems definiert (um nicht zu sagen: determiniert)?

    Und warum überhaupt “Person” und nicht einfach nur “Mensch”?

    Oder ist “Person” etwas anderes als ein erwachsener Mensch?

  6. Psychotherapie

    Meines Erachtens sind die Belege für die Wirksamkeit von Psychotherapie mindestenes genauso dünn wie die Belege für die Wirksamkeit von Antidepressiva. Das liegt u.a. daran, dass solche Studien nur schwerlich doppelblind durchgeführt werden können.

    In den meisten Fällen kann man das Ende einer Depression wohl durch Spontanheilung und Placebo-Effekt erklären.

  7. @ Balanus: Begriffsverwirrung

    Jeder versteht, was der Unterschied zwischen einer Psychotherapie und der Gabe eines Psychopharmakons ist; dass beide aufs Gehirn wirken, hat hier niemand bestritten.

  8. A tutti

    @Markus A. Dahlem
    “… und ich denke, man darf von einem Spektrum ausgehen, an deren einem Ende dann aber schon auch Affektregulationsstörungen vorhanden sind.”

    Das ist ein wirklich schwieriges Thema. Nehmen wir einen Trauerfall. Die Oma ist gestorben; freut sich der Opa jetzt noch genauso, wenn er seine Enkel sieht? Er freut sich, aber seine Freude dürfte gedämpft sei – der Trauerfall überschattet das gesamte Erleben.

    Wenn nichts dergleich vorliegt, liegt bei anhaltend negativer Stimmungslage vermutlich immer eine Affektregulationsstörung vor.

    Was aber, wenn die Patienten unter einer schweren chronischen Erkrankung mit den im Blogpost genannten Folgeerscheinungen leiden. Überschattet diese Situation nicht ebenso auch die schönen Momente des Lebens, die es trotz allem noch geben mag?

    Ich habe einmal im Familienkreis eine schwere Depression (ohne chronische Erkrankung) erlebt – und da gibt es nichts mehr zu diskutieren: das ist ein absolut schrecklicher Zustand, eine Ein-Mann-Hölle! Doch bei Epilepsie sind die Depression meistens nicht so ausgeprägt, und eben “konfundiert” mit der Epilepsie.

    “Sind dann Deiner Meinung nach diese “wirklichen” Affektregulationsstörungen wirklich nicht “außerhalb des Selbstberichtes des Patienten” existent?”

    Selbstbericht plus Verhalten, also z.B. Mimik/Gestik als Hinweise affektiven Erlebens im Gespräch mit dem Psychologen/Psychiater. Wenn ich weder im Erleben noch im Verhalten etwas auffällig finde, aber ein (korrelativer) Hirnindikator für eine Depression vorliegt, wird daraus m.E. keine Depression.

    “Anders gefragt: wofür steht das “Bio” in “biopsychosoziale” wenn wir den Gehirn-Geist-Dualismus hinter lassen?”

    Ohne Gehirn hätten wir keine andere, sondern überhaupt keine emotionale Befindlichkeit. Es wird nur schwierig sein, aus den Hirndaten die Befindlichkeit herauszulesen (dazu bräuchte man ja einen Indikator, der sagen wir 95% Sensitivität und Spezifität aufweist). Ich vermute, es wird noch auf lange Sicht einfacher sein, den Patienten schlicht nach seinem Befinden zu fragen …

    Vielleicht bringen psychophysiologische Untersuchungen eines Tages interessante differentialdiagnostische Informationen (z.B. vegetativ-anergetisch vs. reward-system-Typ oder so etwas).

    Ferner nenne ich ja besonders eindrucksvolle Beispiele für gleichsam rein hirnpathophysiologische Auslösung von Depressionen bis hin zu Suizidalität bei Epilepsie. @Joe Dramiga

    @Balanus
    “Was wird denn bei einer Psychotherapie real verändert, wenn nicht das Gehirn? Und würde eine Hirntherapie etwas anderes beeinflussen als die Psyche?”

    Da nicht das Gehirn leidet, sondern der Mensch (mit diesem Gehirn und wegen des Zustandes dieses Gehirns), zielt die Therapie auf den Patienten – und nutzt dabei heute evtl. neue Wege einer direkten, z.B. pharmakologischen oder elektrischen Hirnmanipulation.

    Ich halte es mit dem Materialisten Mario Bunge, dass mentale Phänomene emergente Eigenschaften des Gehirns (besser wohl: des gesamten Nervensystems bzw. Organismus) sind, die natürlich nicht ohne die entsprechende Neuro(patho)physiologie existieren, aber (Emergenz!) nicht auf diese reduziert werden können.

    Ebenso lässt sich Psychotherapie nicht auf die Einflussnahme eines Gehirns mittels Luftdruckschwankungen (“Sprechen”) auf ein anderes Gehirn rekonstruieren; die Physik der “talking cure” existiert, ist aber der uninteressanteste Aspekt an ihr.

    “Aber was heißt es, wenn Depression ein “Zustand einer Person” “ist und bleibt”? Wird der geistig-psychische Zustand einer “Person” nicht durch den Zustand seines Nervensystems definiert (um nicht zu sagen: determiniert)?
    Und warum überhaupt “Person” und nicht einfach nur “Mensch”? Oder ist “Person” etwas anderes als ein erwachsener Mensch?”

    Person soll andeuten, dass bestimmte kognitive Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Mensch an einer Depression leiden kann. Soweit ich weiß, werden Depressionen vor dem 6./7. Lebensjahr nicht berichtet – aber es sind heute grundsätzlich immer mehr Kinder und Jugendliche betroffen.

    Person bezeichnet ferner eine leib-seelische Einheit – gerade keine dualistische Zusammensetzung aus einem materiellen Körper und einer immateriellen Seele. Insofern passt der Begriff Person schon, finde ich, und die heute erkannte zentrale Bedeutung von Hirnprozessen bestätigt diese Sichtweise eher (radikalisiert sie) als sie zu gefährden.

    Determinismus: Ich bin durch mich “determiniert”, ich bin eben ich. Ohne mein Gehirn hätte ich nicht andere (z.B. frei gewählte) geistige Zustände, sondern gar keine. Mein (sic!) Gehirn ist nicht ein schlechthin Anderes meiner selbst, zu dem ich irgendeine Art von Beziehung unterhalten könnte. Ein entsprechender Hinweis auf Hirnkorrelate meines Erlebens kann mich also nicht meinen eigenen mentalen Zuständen entfremden.

    @Flat Eric
    “Meines Erachtens sind die Belege für die Wirksamkeit von Psychotherapie mindestenes genauso dünn wie die Belege für die Wirksamkeit von Antidepressiva. Das liegt u.a. daran, dass solche Studien nur schwerlich doppelblind durchgeführt werden können. In den meisten Fällen kann man das Ende einer Depression wohl durch Spontanheilung und Placebo-Effekt erklären.”

    Für Depression *bei Epilepsien* trifft das nicht zu. Hier gibt es genau NULL kontrollierte Studien zu Medikamenten (nur wenige single-arm Studien), während eine ganze Reihe von kontrollierten, teils randomisierten Psychotherapiestudien vorliegen, mit gutem Erfolg. Keine Frage: Es werden überhaupt mehr Interventionsstudien gebraucht; vor lauter Bildgebung und Korrelationsstudien sieht man manchmal kaum mehr, dass es hier Probleme zu lösen gilt.

    Doppel-blind: Wenn ich die spezifisch-pharmakologische Wirkung eines Pharmakon nachweisen will, brauche ich die doppelblinde placebokontrollierte randomisierte Studie – für die Zulassung ein absolutes Muss!

    Aber – in der klinischen Praxis möchte ich als Kliniker wissen, welches selbstgewählte und dem Patienten völlig bewusste Therapieverfahren dem Patienten am ehesten zu helfen verspricht. Warum sollte man hier die künstliche Situation eines echten Experiments realisieren, dass doch nur die Generalisierbarkeit auf die spätere Anwendung reduziert (wer macht schon Psychotherapie gegen seinen Willen?). Meines Erachtens braucht man hier den Vergleich gegen eine sinnvolle, von der jeweiligen Fragestellung abhängige Kontrollbedingung.

    Eine sinnvolle Frage ist: Einfach zuwarten, oder etwas tun? Insofern hat auch die Wartebedingung ihren Sinn. Eine andere sinnvolle Frage ist: Medikamente oder Psychotherapie oder beides? Hier liegt der Vorteil ganz leicht bei Psychotherapie, und zwar wegen der besseren Rückfallprophylaxe.

    Insgesamt sind alle mir bekannten Therapiewirkungen – Medikamente, Psychotherapie – allenfalls moderat wirksam (Responderraten von 40-60%, d.h. “Halbierung” der Symptomatik; Remissionsraten: wohl eher unter 10%). Wie erwähnt, hängt die Effektstärke bei Medikamenten von der Stärke der Depression ab – die bei Epilepsiepatienten meistens insgesamt etwas geringer ausgeprägt ist.

  9. @ Hoppe: Steuerungsstörung?

    Schöner Beitrag, nur erlauben Sie mir zwei kritische Nachfragen:

    Erstens, woran machen Sie das fest, dass Major Depression als Gefühlsregulationsstörung aufgefasst wird? Welche diagnostischen Kriterien sollen das widerspiegeln? In der DSM-IV-TR-Klassifikation taucht beispielsweise der Begriff “regulation” überhaupt nicht vor, weder in den Kriterien, noch in der Erörterung. Ebenso wenig in den vorläufigen DSM-5-Kriterien.

    Zweitens, behavioral despair tests, wovon der forced swimming test ein Beispiel ist, werden m.E. in der Tierforschung verwendet, um die Wirkung von Antidepressiva zu testen: Das heißt, wenn die Maus durch die experimentelle Intervention länger schwimmt als die Maus ohne, dann gilt das als Indikator für eine antidepressive Wirkung der Intervention. Dass man dadurch “depressive” Mäuse erzeugen würde, habe ich noch nicht gelesen. Haben Sie eine Quelle für mich?

    Glückwunsch übrigens zu dem Nat. Rev.-Paper!

  10. @Schleim

    “… erlauben Sie mir zwei kritische Nachfragen.”

    Ich schreibe hier ausschließlich wegen erhoffter kritischer Nachfragen, auf die ich selbst nicht komme.

    Major Depression als Gefühlsregulationsstörung

    In der Tat ist da der Wunsch der Vater des Gedankens. Der Wunsch entsteht im Kontext von Epilepsie, dürfte aber überhaupt bedeutsam sein. Wie gesagt, ist die anhaltend schlechte Stimmung bei ansonsten Gesunden ein ziemlich sicheres Anzeichen einer Regulationsstörung.

    Ferner zielt die Therapie nicht auf Glückszustände oder die Unmöglichkeit, auch einmal traurig oder bedrückt zu sein – da gäbe es dann ganz andere Mittelchen. (Aber das muss ich Ihnen in Holland ja nicht sagen …)

    Drittens ist “loss of pleasure” ein zentrales Konstrukt. Das lässt sich doch nur so lesen, dass Situationen, die früher vergnüglich empfunden wurden, jetzt nicht mehr zu entsprechenden affektiven Reaktionen führen, obwohl sie unverändert “vergnüglich” sein müssten (also der Besuch der Enkel beim trauernden Opa). Es wird also *inadäquat* und (auch für den Patienten selbst) nicht nachvollziehbar mit negativer Stimmung reagiert – und das nenne ich eine Affektregulationsstörung.

    Für die Pharmaindustrie ist es allerdings vorteilhaft, diesen Unterschied – altered mood state oder impaired mood regulation – nicht zu sehr zu betonen, wie es scheint.

    “forced swimming test”
    Erst brauchen Sie ein Modell, Sie machen Tiere depressive, epileptisch, was auch immer. Dann prüfen Sie die präventive oder therapeutische Wirkung vorhandener Medikamente. Das Paradigma stammt letztlich von Martin Seligman, wie Sie natürlich wissen – und diente da noch nicht der Pharmaforschung, sondern lief auf eine behaviorale/-istische Erklärung der Depression hinaus.

  11. @ Hoppe

    Na, das ist dann aber doch Ihre Interpretation und nicht unbedingt die vorherrschende Meinung in der Psychiatrie, oder? Kennen Sie dazu eigentlich das Holtzheimer/Mayberg Paper aus der Januar-Ausgabe von TIPS? Da setzen sie sich gerade für den Übergang von der Gefühls- zur Gefühlsregulationsstörung ein.

    Woher der FST kommt, das wusste ich jedoch noch nicht, sondern nur, wozu man ihn heute üblicherweise anwendet. In einer Abteilung für Theorie und Geschichte der Psychologie weiß ich aber, wen ich dazu fragen kann. 🙂

  12. Behandlung von Depressionen

    Zur Behandlung von Depressionen möchte ich auch auf die Biblische Krankenheilung (Aufklärung und Beratung) hinweisen. Grundlage sind Aussagen der Bibel.
    Jesus Christus spricht in Matthäus 11,28:
    Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich will euch erquicken.
    Psalm 146,8:
    Der HERR richtet auf, die niedergeschlagen sind.

    Mit guten Segenswünschen
    Claus F. Dieterle
    Heilpraktiker / Psychotherapie

  13. Wann ist es eien Störung

    “… Wenn ich weder im Erleben noch im Verhalten etwas auffällig finde, aber ein (korrelativer) Hirnindikator für eine Depression vorliegt, wird daraus m.E. keine Depression.

    Zustimmung, denn auch bei anderen, z.B. neurologischen Erkrankungen gibt es ja klinisch stille Verläufe und wo kein Symptom, da keine Krankheit (oder? behaupte ich jetzt mal).

    Wenn der Psychiater aber im Verhalten etwas auffälliges findet — nennen wir es ein Symptom? — und er nicht annähernd eine Erklärung dafür in der Lebenssituation wiederfinden kann (wobei das wohl schon der Knackpunkt ist), würde ich denken, dass auch im Hirn abläuft, was ich als Störung bewerten würde.

    Dabei kann es aber meiner Meinung nach sehr gut möglich sein, dass nicht mehr als neuronale Korrelate (wenn überhaupt) messbar sind. (Natürlich kann ich die Anamnese berechtigterweise auch als “Messung” auffassen. Ich meine also “nicht messbar” in einen pragmatischen Sinn.)

    Diese Störung sehe ich als biologische Ätiologie, wobei ich trotzdem immer nur von psychischer Störung reden würde oder eben von psychosoziales ätiologisches Modell. Denn ich gehe natürlich davon aus, dass es auf der Seite des Nervensystems eine Pathophysiologie gibt, wenn es kein erklärbares Verhalten ist (wie gesagt, hier sehe ich das Problem, was gilt als Erklärung). Übrigens, ich kann ja auch die Physiologie normaler, aber komplexer Hirnfunktionen nicht angeben sondern nur neuronale Korrelate messen. So gesehen gibt es schlicht immer die neuronale Seite und ich definiere hier gerade was ich als Störung “bewerte”. Mehr nicht (s.a. Fußnote meines letzten Beitrags).

  14. A tutti (2)

    @Stephan Schleim
    “Na, das ist dann aber doch Ihre Interpretation und nicht unbedingt die vorherrschende Meinung in der Psychiatrie, oder? Kennen Sie dazu eigentlich das Holtzheimer/Mayberg Paper aus der Januar-Ausgabe von TINS? Da setzen sie sich gerade für den Übergang von der Gefühls- zur Gefühlsregulationsstörung ein.”

    Nein, ich kannte dies Opinion Paper leider nicht – aber das passt “wie die Faust aufs Auge”! Danke für den Hinweis. Wir schreiben gerade ähnliches für eine andere Zeitschrift auf, da ergibt das eine ideale Zitation zu unseren Überlegungen. – Ich möchte den Unterschied vor allem bei chronisch Erkrankten betont wissen; umso interessanter, andere hier auch für “normale” Depressive diesen Punkt wichtig finden. – Was ich eine “inadäquate” (also fehlgesteuerte) affektive Reaktion nenne, heißt bei Holtzheimer & Mayberg (2011, p. 6) “the non-specific nature of the phenomenology”; Sie versuchen auch (vage) an den derzeitigen Kriterien anzuknüpfen wie ich (“loss of pleasure”). — Sie haben also völlig Recht, dass die Mainstream-Auffassung in der Psychiatrie heute eine andere ist; sie betrachtet fast ausschließlich die veränderte Stimmungslage als solche als Inbegriff der Depression.

    @Claus F. Dieterle
    “Biblische Krankenheilung”

    Ich würde nicht ausschließen, dass suggestive Therapien, wenn sie verfangen, wirksam sind. Aber man bräuchte Wirksamkeitsnachweise aus kontrollierten Studien -und ich fürchte, die Sache wird am Ende nicht besonders spezifisch (z.B. biblisch oder christlich) sein, sondern eher mit den belief-systems der Patienten zu tun haben. Ferner ist die Wirkung suggestiver Therapien bei psychogenen (pseudosomatischen) Beschwerden meistens nicht nachhaltig. (Für die im NT berichteten Heilungen fehlen uns ja leider ebenfalls die Katamnesen.)

    @Markus A. Dahlem
    “…wo kein Symptom, da keine Krankheit (oder? behaupte ich jetzt mal).”

    Es könnten natürlich Laborindikatoren einer bald sicher zu erwartenden Symptomatik eine Krankheit anzeigen (vgl. Tumormarker); dann würde die Pathologie bereits laufen, während der Patient noch keine Symptome hat, und in diesem schlichten Sinne nicht krank wäre. Bei Depressionen sehe ich derartige Labormarker jedoch nicht.

    Schlimmer noch: Blutungen, Tumore, epileptogene Feldpotentialschwankungen usw. stellen ganz und gar natürliche Prozesse im Gehirn dar, die m.E. nur im Hinblick auf ihre (aktuelle oder sicher zukünftige) fatale Wirkung auf das Gesamtsystem als dysfunktional bzw. pathologisch beurteilt werden können. – Bei einer Depression wird man vielleicht sagen können, dass die für ein psychisch gesundes Leben und Überleben erforderlichen Hirnfunktionen nicht zur Verfügung stehen; vielleicht kann man diese Neuropathophysiologie der Depression eines Tages genauer positiv oder negativ fassen (z.B. in der Richtung wie Holtzheimer & Mayberg es vorschlagen), und diese Pathologie stellt dann den biologischen ätiologischen Faktor (unter anderen ätiologischen Faktoren) dar. Das Henne-Ei-Problem wird dadurch wohl nicht gelöst.

  15. Depressionen

    Ich persönlich habe Probleme mit der derzeitigen “Definition” von Depression. Ich erlebe bei meinen Patientinnen häufig ein Phänomen, dass ich eher wie ein Schwimmbad vergleiche. Über den Tag setzen sich da emotionale Erlebnisse wie Dreck am Boden ab. Eigentlich sollte der nun in der Nacht über eine Art Putzroboter = Traumschlaf gesäubert werden. Wenn das gelingt, ist man wach und ausgeschlafen und emotional flexibel. Wennn….
    Bei Stress oder zuviel emotionalem Müll (z.b. bei Hochsensibilität) verschlackt das Becken. Mit der Zeit wird es immer trüber und es kann eine Idee sein, eine Art Branddecke über den Dreck zu legen. Das wäre das Gefühl der Gefühllosigkeit bei Depressionen. Wenn man nun Therapie macht, wirbelt der Dreck auf. Was dazu führt, dass es vielen Patienten erstmal schlechter unter Therapie geht.

    Wir arbeiten da jetzt eher wie Seelenklempnern und übersetzen den “Müll” in innere Bilder, die wir dann durch eine Art Nachahmung des Traumschlafs verändern. Klappt überraschend gut und nachhaltig. Siehe http://www.emoflex.de

  16. Lieber Herr Hoppe,

    Sie schreiben:

    »Ich halte es mit dem Materialisten Mario Bunge, dass mentale Phänomene emergente Eigenschaften des Gehirns (besser wohl: des gesamten Nervensystems bzw. Organismus) sind, die natürlich nicht ohne die entsprechende Neuro(patho)physiologie existieren, aber (Emergenz!) nicht auf diese reduziert werden können. «

    Ich finde es immer wieder verwirrend, wenn gesagt wird, dass Geist einerseits zwar eine Folge neuronaler Aktivitäten ist, andererseits aber nicht auf diese “reduziert” werden kann.

    Was bedeutet das Wort “reduziert” in diesem Zusammenhang eigentlich?

    Und: Gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen einer schlichten (System-)Eigenschaft und einer “emergenten” Eigenschaft eines Systems?

  17. @Balanus

    “Was bedeutet das Wort “reduziert” in diesem Zusammenhang eigentlich?”

    Ich bin sicher kein Bunge-Exeget; da sind andere hier in den Foren wesentlich qualifiziertert. Aber ich verstehe ihn so, dass die neurophysiologischen (funktionellen) Eigenschaften des Gehirns und die mentalen Eigenschaften nicht identisch sind, obwohl sie Eigenschaften desselben Gehirns (und entsprechend Daten aus beiden Bereichen daher hoch korreliert) sind.

    “Und: Gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen einer schlichten (System-)Eigenschaft und einer “emergenten” Eigenschaft eines Systems?”

    Meines Erachtens: Nein. – Bunge jedenfalls betont, dass das System Gehirn keinesfalls Geist oder Gedanken als eine neue Substanz eigener Qualität absondert, die es dann so gäbe, wie es die Dinge gibt.

  18. @Dr. Winkler

    “Klappt überraschend gut und nachhaltig. Siehe http://www.emoflex.de

    Finde in PubMed nichts von J. W. Drischel. Insofern würde ich bestreiten, dass hier ein überzeugender Wirksamkeitsnachweis bereits vorliegt.

    Ich persönlich bin bei tiefenpsychologisch ausgerichteten Therapieverfahren wie dem Ihren (Traumerleben)skeptisch. Schon der Traum hat überhaupt gar nicht die Funktion, die ihm die Psychoanalyse zugeschrieben hat. Insofern bezweifle ich die Plausibilität des Konzepts. – Aber wir alle wissen, dass gerade “flache” Depressionen auch einer gewissen Fluktuation unterliegen und sich unspezifisch bessern können, ziemlich egal was man da therapeutisch (hohohoooo!) macht.

  19. @Balanus / @Christian Hoppe

    Es erscheint doch sprachlich präziser, generell von “emergenten Phänomenen” statt überhaupt von “emergenten Eigenschaften” zu reden. Einfaches Beispiel, eine Düne lässt sich als ein emergentes Phänomen auffassen, das in einem System bestehend aus Sand, Wind, Schwerkraft, solidem Untergrund, etc. beobachtet werden kann. Aber Düne als “emergente Eigenschaft”? Eigenschaft von was? Das Wort Eigenschaft passt hier doch irgendwie nicht, jedenfalls nach meiner Auffassung.

  20. @Chrys

    Wenn ich Bunge richtig verstehe, wäre Düne eher die Form des Sandes; die wellenartige Dünenbewegung könnte als Eigenschaft des Systems Sand-Wind gedeutet werden. – “Phänomen” bleibt zu allgemein, da Bunge ausschließen will, dass hier neue Substanzen ins Spiel gebracht werden: Es gibt den Sand, und Düne und Dünenbewegung dagegen nicht ohne den Sand. – Ich denke, Bunge ist hier weitgehend Aristoteliker, aber das Verhältnis von Substanz und Akzidenz (Form) ist sicher kein einfaches.

    Ich empfehle hierzu Peter Geach (1969), God and the Soul (Key Texts), chapter 4: Form and Existence, sowie chapter 5: What actually exists. St. Augustine’s Press, South Bend/Indiana. – Ich empfehle überhaupt Peter Geach …

  21. @Christian Hoppe

    Bunges Strategie, die Welt in materielle Dinge und immaterielle Eigenschaften solcher Dinge zu unterteilen, muss ja keineswegs der Weisheit letzter Schluss sein. Bereits Bunges Begriff von Materie ist nicht konsistent mit dem, was Physiker üblicherweise darunter verstanden wissen wollen, uneinheitliche Terminologie schafft aber letztlich nur Verwirrung und Missverständnisse. Die von Balanus aufgeworfene Frage nach qualitativer Unterscheidung zwischen schlichten und emergenten Eigenschaften stellt sich nicht, wenn man Emergenz gar nicht erst als Eigenschaft zu begreifen versucht.

    Emergenz meint doch im Grundsatz das Auftreten neuer Muster infolge wachsender Komplexität. Und Phänomene wie Düne, Leben, Bewusstsein scheinen allesamt hierhin zu passen (ein besserer Oberbegriff als “Phanomen” fällt mir dazu nicht ein). Was wir gegenwärtig leider nicht haben, ist eine gebrauchsfertige Komplexitätstheorie, die all das aus einem universellen Prinzip heraus erklären könnte. Nicht einmal für die Begriffe Komplexität und Emergenz haben wir Definitionen, von deren Endgültigkeit man überzeugt sein darf. Wie weit man mit dem Idee von Komplexität überhaupt kommt, das muss zukünftige Forschung erst zeigen, das ist alles längst nicht ausgereift.

    Dass mit dem Auftreten emergenter Muster auch auch ein qualitativer Wandel einhergeht, das ist mir anhand von Beispielen doch plausibel. Um etwa das Phänomen Leben zu studieren bedarf es deutlich anderer Begriffe und Methoden als zur Untersuchung seiner physikalisch-chemischen Grundlagen und Voraussetzungen. Ob ein Muster sich als von materieller oder immaterieller Beschaffenheit erweist, ist dabei auch nicht wesentlich. Mario Bunge sieht das freilich schon ganz anders.

    Vielen Dank für den Literaturhinweis, Peter Geach ist mir bisher nicht bekannt.

  22. Immer wieder interessant, was in der Medizin für Fortschritte gemacht werden. Gerade bei den Depressionen ist das sehr wichtig, ist ja oftmals der Grund für einen Selbstmord…

  23. Meinung

    Meines Erachtens sind die Belege für die Wirksamkeit von Psychotherapie mindestenes genauso dünn wie die Belege für die Wirksamkeit von Antidepressiva. Das liegt u.a. daran, dass solche Studien nur schwerlich doppelblind durchgeführt werden können.

    In den meisten Fällen kann man das Ende einer Depression wohl durch Spontanheilung und Placebo-Effekt erklären.

  24. @Sixpack

    Wie passt Ihre Erklärung, wenn Psychotherapiestudien mit Wartelisten-Kontrollbedingung erfolgreich sind? Reines Zuwarten scheint ja dann einen geringeren positiven Effekt zu haben, oder? – Ich stimme Ihnen aber auf jeden Fall insofern zu, als dass die Effektstärken aller bekannten Depressionstherapien, na sagen wir, moderat ausfallen.