Also “determinierte Freiheit”?

BLOG: WIRKLICHKEIT

Hirnforschung & Theologie
WIRKLICHKEIT

Ich versuche mir nun also einmal Determinismus und Freiheit zusammen vorzustellen und erinnere mich dazu an eine wichtige Lebensentscheidung, die ich vor vielen Jahren treffen musste. Statt mir nun ins Bewusstsein zu rufen, welche Gedanken und Beweggründe mich damals geleitet haben, stelle ich mir mein Gehirn zur damaligen Zeit vor. Die mentalen Zustände, die ich durchlaufen habe, haben die Hirnzustände spezifiziert; keinesfalls schwebte mein Geist einfach beliebig über den Wassern der Physiologie meines Gehirns: Hätte ich andere Hirnzustände durchlaufen, so hätte ich andere Gedanken gehabt und womöglich hätte am Ende eine andere Entscheidung gestanden.
Nun ist da aber mein Gehirn, eingebettet in den Organismus und über das Nervensystem rundum mit ihm verknüpft. Und der Organismus ist seinerseits eingebettet in die Umwelt, mit der er physisch und chemisch fortlaufend interagiert. Ich schließe mich hier einmal der Vermutung der Mehrzahl heutiger Hirnforscher an, dass quantenmechanische Prozesse für die unseren kognitiven Fähigkeiten und mentalen Zuständen zugrunde liegenden neuronalen Vorgänge irrelevant sind. Damit ist "echter" Zufall ausgeschaltet; ich kann mich auf die Biochemie großer Moleküle und die Physiologie von Nervenzellverbänden konzentrieren. Alle diese Prozesse laufen determiniert ab. Kein Mensch kann sie zwar vorausberechnen. Aber von Augenblick zu Augenblick kann sich der Gesamtzustand – Umwelt, Organismus, Gehirn – nur genau so verändern, wie er sich verändert. Kein einzelnes Element meines physischen Organismus verfügt über Freiheit, der gesamte Organismus ist in allen seinen Einzelteilen und Einzelfunktionen determiniert. Wie kann aber ein Gesamtsystem frei sein, wenn seine sämtlichen Bestandteile es nicht sind?Manche mögen nun einwenden, hier läge ein mer(e)ologischer Fehlschluss vor: zu Unrecht werde dem Gesamtsystem eine Eigenschaft abgesprochen, nur weil die Teile (meros, das Teil) diese Eigenschaft nicht haben. Mit gleichem Recht könne man dann ja auch das Denken und das Fühlen als Illusionen bezeichnen, da keine Nervenzelle denken oder fühlen kann. Betrachtet man die Sache aber genauer, so kann man durchaus schon bei Molekülen und erst Recht bei Zellen rudimentäre Fähigkeiten der Reaktionsfähigkeit auf die Umwelt, ja sogar der Intentionalität (leben wollen) erkennen; Intelligenz und Emotionen des Gesamtsystems kann man sich daher durchaus als Ergebnis einer wie auch immer gearteten koordinierten Aufsummierung sämtlicher vorhandener Informations- und Umweltbeurteilungskompetenzen auf unteren Funktionsebenen erklären. Wie aber sollte dies bei der Freiheit gelingen? Die Summe beliebig vieler Nullen – kein Element hat auch nur das geringste Maß an Freiheit – ist und bleibt nun einmal Null. Wenn aber alle Teile nicht frei sind, kann das Gesamtsystem nicht frei sein, sondern ist insgesamt (samt seiner mentalen Zustände) determiniert. (Wie gesagt, die Quantenmechanik bringt uns hier lediglich den "echten Zufall", durch den die Welt nicht nur praktisch-rechnerisch, sondern auch theoretisch – selbst für Gott – unvorhersehbar wird.)Wolf Singer hat völlig Recht, wenn er feststellt, dass sich dieser (neuronale) Determinismus im Prinzip überhaupt nicht dadurch ändert, dass nun unter bestimmten Voraussetzungen auch komplexere Hirnzustände auftreten, die mit mentalen Zuständen einhergehen, wie etwa Gründe abwägen, Möglichkeiten durchspielen, innere seelische Kämpfe austragen oder, schließlich, eine Entscheidung treffen. Von all dem weiß das Gehirn nichts, davon weiß nur ich.

Selbst wenn man, wie in meinem ersten Beitrag zur Blog-Kategorie "Freiheit" geschehen, im Anschluss an Michael Pauen und andere Autoren keinen logischen Widerspruch zwischen Freiheit und Determinismus erkennen mag, Determinismus sogar in gewisser Weise als Voraussetzung für Freiheit aufgewiesen werden kann – bleibt da nicht doch ein merkwürdiges, unbehagliches Gefühl mit dieser eigenartigen "determinierten Freiheit"? Drängt sich nicht der Eindruck auf, wir würden mit unseren Entscheidungen, die wir auf der Basis eines kontinuierlichen Stroms von Hirnzustandsveränderungen subjektiv erleben, lediglich einen bereits feststehenden "Plan" abarbeiten, ratifizieren, der sich – und darin liegt das Merkwürdige – ohne unsere Entscheidung so nicht vollziehen könnte? Trotz und durch unsere Entscheidungen sind wir Teil eines naturgesetzlich beschreibbaren Stroms von Geschehnissen, dem wir keinesfalls in sicherem Abstand gegenüber stehen. Dieser Strom erfasst auch unser physisches Innerstes: unsere Hirnphysiologie – und damit auch unsere mentalen Zustände. Die fast grenzenlos erscheinende geistige Welt des Möglichen und die scheinbar unbegrenzte Weite von Entscheidungsspielräumen kontrastiert scharf mit der absoluten Einspurigkeit und unerbittlichen Entschiedenheit des determinierten (und teils zufälligen) physischen Weltenlaufs, den wir Natur, Kosmos oder Welt nennen. Mit dieser Freiheit können wir nicht wirklich einen neuen Anfang machen.

Man kann es auch ganz einfach ausdrücken: Die Naturwissenschaften können keine "Seelenkräfte" oder "Geisteskräfte" oder "Willenskräfte" akzeptieren (außer als Metapher). Letztlich muss sich all dies buchstabieren lassen in den Grundkräften der Physik (Gravitation, elektromagnetische, starke, schwache Wechselwirkung).

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Geboren 1967 in Emsdetten/Westfalen. Diplom kath. Theologie 1993, Psychologie 1997, beides an der Universität in Bonn. Nach einem Jahr am Leipziger Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung (1997-98) bin ich seit Oktober 1998 klinischer Neuropsychologe an der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn. Ich wurde an der Universität Bielefeld promoviert (2004) und habe mich 2015 an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn habilitiert (Venia legendi für das Fach Neuropsychologie). Klinisch bin ich seit vielen Jahren für den kinderneuropsychologischen Bereich unserer Klinik zuständig; mit erwachsenen Patientinnen und Patienten, die von einer schwerbehandelbaren Epilepsie oder von psychogenen nichtepileptischen Anfällen betroffen sind, führe ich häufig Gespräche zur Krankheitsbewältigung. Meine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen klinische Neuropsychologie (z.B. postoperativer kognitiver Outcome nach Epilepsiechirurgie im Kindesalter) und Verhaltensmedizin (z.B. Depression bei Epilepsie, Anfallsdokumentation). Ich habe mich immer wieder intensiv mit den philosophischen und theologischen Implikationen der modernen Hirnforschung beschäftigt (vgl. mein früheres Blog WIRKLICHKEIT Theologie & Hirnforschung), eine Thematik, die auch heute noch stark in meine Lehrveranstaltungen sowie meine öffentliche Vortragstätigkeit einfließt.

1 Kommentar

  1. determinierte Freiheit

    Habe den Kommentar als ausserordentlich
    “richtig” beurteilt. Denke, dass diese Erkenntnis bedauerlicherweise aus “gesellschaftlichen Vernetzungen” der einzelnen Menschen nie von allen verstanden werden kann. Zu wichtig sind ihnen “Posten” von Autoritaeten….. “Religion”, welche sie unter eine Bedrohungssitutaion stellen, aus der sie nicht fliehen koennen. Es scheint fast so als wuerden sie als Planeten oder Himmelskoerper um ein Gravitatioszentrum schwingen, gestuetzt oder gefangen, je nachdem wie man es sieht. Ab und zu passiert eine Unregelmassigekeit, oder ein zufaelliges aufeinandertreffen von Kraeften, die eine “Person” aus dem System schwingen…… das nennen sie dann Genie oder Jesus oder sonst ein zu zu vergoetterndes/zu eliminierendes “Element”.

    Heinrich Zimmermann