Willst Du quälen? Frage „Wie weit bist Du?“
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Zahlenmanagement hat eben nur mit Zahlen zu tun. Eigentlich – wenn Sie im höheren Manage-ment arbeiten – nur mit den prozentualen Abweichungen zur Vorperiode, also zum Beispiel ver-glichen mit gestern. Das Quartalsdenken ist längst in Monatsbeschwerden und Wöchnerträume übergegangen. Daher muss immer schwerer daran gearbeitet werden, die Zahlen so aktuell zu hal-ten, dass sie allzeit gut aussehen. Es ist gar nicht einfach, jederzeit auskunftsfähig zu sein, wenn der oberste Boss über seine Excel-KI-Schnittstelle eine Nachmittagsdelle in einem bestimmten Unter-nehmensbereich ortet und nachforschen lässt.
„Wie weit bist Du?“ – „Was ist da los?“
Wer also eine Delle in den Zahlen hat, wird sofort mit zusätzlicher Arbeit überhäuft, die Delle zu logisch zu erklären. Das gelingt im Prinzip leicht, weil der Nachfragende die Feinheiten ja nicht in den Zahlen stehen hat. Ich erinnere mich an das erste Jahr, als wir in Deutschland in der ersten Oktoberwoche eine sehr drohende Wochenwarnung bekamen. Okay, wir antworteten: „Der Nati-onalfeiertag ist in Deutschland jetzt auf den dritten Oktober verlegt worden. Daher ist nur diesmal der Wochenumsatz um ein Viertel niedriger.“ – „Wieso um ein Viertel? Ein Wochentag ist doch nur ein Fünftel?“ Hu, spüren Sie den Ton der Rückfrage? Der Frager signalisiert nicht „Ich Esel wusste das nicht!“, sondern eher „Sie kommen auf die schwarze Liste derer, die sich dauernd rausreden!“
Oft wird Grausamkeit sprachlich sehr verklausuliert. „Sie haben Probleme mit den Zahlen? Wenn das noch bis in die nächste Woche anhält, schicken wir gerne eine Taskforce aus der Zentrale, um Ihnen zu helfen.“ So wird der Inquisitor angekündigt. Damit er lieber nicht kommt, werden die Zahlen eine Woche lang (SIEBEN Tage) in Ordnung gebracht, was wieder Mehrarbeit macht.
Wer verrichtet dann noch die eigentliche Arbeit? Solche Leute soll es ja geben. Alle Handgriffe aller Arbeiten werden heutzutage vielen sehr klar definierten Projekten zugeordnet, deren Projekt-leiter nach Plänen agieren. In den Plänen steht natürlich, was abgehakt werden kann und was wann fertig sein muss. Manager schaffen es gar nicht mehr, die Mitarbeiter stets „Wie weit bist Du?“ zu fragen, weil sie die meiste Zeit eben diese Frage dem eigenen Chef beantworten müssen. Das halten sie fast für ihren ganzen Job und verstehen dann nicht, warum Mitarbeiter nicht hun-dert Prozent an ihren Meilensteinen meißeln, obwohl sie vom Manager und von allen ihren Pro-jektleitern „Wie weit bist Du?“ gefragt werden. Besonders schlimm sind depressive Projektleiter, die mit „Bitte sagt mal ganz schnell, wer was zu Abhaken für mich hat! Hilfe, sonst bekomme ich Hilfe!“
Da platzt manchem Mitarbeiter der Kragen. Er brüllt den Chef mit Argumenten an. „Stört mich nicht dauernd mit Zahlen!“ – Für diesen Fall haben Manager eine Ausbildung durchlaufen, glaube ich, weil sie alle ganz gemeine Formulierungen draufhaben: „Hör mal, jeder von Euch weiß doch exakt, wie weit er genau ist. Ich nehme deshalb mit Recht an, dass das jeder ständig dokumentiert. Ihr habt folglich alle Zahlen immer in der Schublade. Ist es zu viel verlangt, die kurz zu nennen?“ – „Aber ich hatte einen maschinellen Reparaturfehler zu bereinigen, das ist für Sie ja kein Fort-schritt, sondern eine Frühabenddelle, da bereinige ich den Fehler und sonst nichts!“ – „Na, ich will Ihnen fachlich nicht so stark reinreden, das ist Ihr Job, aber Sie müssen alles dokumentieren und ich muss bei Dellen von über 30 Minuten einen Bericht haben und nach oben abgeben, sonst bekomme ich nicht nur wegen der Delle Hilfe von oben, sondern verstoße gegen meine eigenen Dokumentationspflichten.“ – „Das ist Ihr Problem, ich muss den Fehler in der Maschine bereini-gen!“ – „Kommen Sie mir nicht mit fachlichen Schwierigkeiten! Sie sind Experte für Lösungen. Sie könnten doch den Fehler je fünf Minuten lang über mehrere Tage verteilt bereinigen, dann entstünde keine Delle!“ – „Oder am Abend unbezahlt?!“ – „Ja sicher, Sie wissen aber, dass ich das wegen der Gewerkschaft nicht verlangen darf. Ich muss Sie um Verständnis bitten. Ich meine, Sie müssen doch stets einen guten Plan haben, wie Sie bei der Arbeit vorgehen?!“ – „Den HABE ich! Ich bereinige den Fehler!!“ – „Das weiß ich, aber ich brauche nur den Plan, mehr nicht. Fachlich vertraue ich Ihnen voll und ganz. Nur scheinen Sie sich nicht voll darauf zu konzentrieren, wie lange es dauert, wie weit Sie sind und ob Dellengefahr besteht.“ – „Aber ich konzentriere mich auf die Bereinigung des Maschinenfehlers!“ – „Oh, das sehe ich ja. Deshalb coache ich Sie gerade, die Prioritäten zu verstehen. Sie sollten sich ein Vorbild nehmen, denke ich. Schauen Sie mich an und lernen Sie. Ich kümmere mich sehr um Zahlen.“ – „Aber Sie haben viel Zeit, weil Sie absolut ganz und gar nichts arbeiten müssen, verdammt!“ – „Das stimmt, klar. Aber meine Zahlen sind größer als Ihre und das ist dann ein Volljob.“
Ja, es ist schon interessant, wenn so ein BWLer einen bei einer Fehlersuche fragt, wie weit man den sei. Eigentlich bewundere ich uns Techniker und Entwickler, daß sie da ihren mordlüsternen Gedanken nicht nachgeben. Allein die Zeit, die für die Frage und die Antwort aufgewendet wird, ist in der Regel verschwendet. Dazu kommt noch die Zeit für die Unterbrechnung und das Wiederhineinkommen. Da kann sich so eine 15 Sekundenfrage schnell in eine halbe Stunde Arbeitsunterbrechnung ausweiten. Und das bei einer Fehlersuche 6 mal am Tag, dann sind das schon 3 Stunden verschwendete Arbeit an einem Tag. Da habe ich einen meiner Arbeitgeber vor Jahren regelrecht geliebt. Der hat bei einem massiven Datenbankproblem zu den Mitarbeiter gesagt, daß sie mich einfach in Ruhe arbeiten lassen sollen, was dann auch geschah.
Vorgesetzte haben die Aufgabe, ihre Mitarbeiter frei arbeiten zu lassen, ihnen jeden Blödsinn vorzuenthalten und darauf zu vertrauen, daß sie ihr Bestes geben. Ich bin als Vorgesetzter so mit meinen Mitarbeitern immer gut gefahren (mit den Chefs nicht immer).
Die Zusammenarbeit mit den nicht umsonst so genannten Mitarbeitern darf ein wenig ruppig ausfallen, die Kommunikation dient in der Regel dazu Aufgaben zu verteilen und erledigte Aufgabe zur Kenntnis zu nehmen – und es geht auch um die Kommunikation als Selbstzweck sozusagen, denn es soll beidseitig auch herausgefunden werden, ob noch im erwarteten Umfang mitgedacht wird oder ob das Denken langsam geworden sein könnte, gar unverständig und vielleicht anderem Interesse geschuldet.
Auch darum, ob einer weg muss.