Utopiesyndrome überall

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Das Wort Utopiesyndrom habe ich bei Watzlawick als Kapitelüberschrift im Buch Lösungen gefunden. Es geht um das Anstreben von unerreichbaren Zielen, deren Aufstellen derzeit fast gängige Praxis ist. „Wir wollen Nummer 1 werden.“ – „Wir werden gestärkt aus der Krise hervorgehen, indem wir von ihr enorm profitieren.“ Und im privaten Sektor gibt es Formen wie diese: „Ich bin finster entschlossen, ein absolut sinnvolles Leben zu führen.“ – „Ich will immer schön sein.“ – „Wir wollen die ideale Liebe leben.“ – „Meine Kirche ist die wahre.“

Das Vorgehen ist einfach: Man stellt einen utopischen Wunsch auf und folgt ihm unbeirrt. Das Nachdenken über die Utopie als solche wird zum absoluten Tabu erhoben. Nun aber frisch ans Werk! Da die vom Utopiesyndrom Befallenen die Utopie nicht erreichen können, müssen sie ab und zu Erklärungen dafür finden, woran das wohl liegt. Von außen gesehen liegt es an der Unerreichbarkeit des Ideals, aber diese Sicht ist – was nicht oft genug erwähnt werden kann – mit einem Tabu belegt. Watzlawick/Weakland/Fisch diskutieren drei „Erklärungen“:

„Ich selbst bin unfähig und schuld – ich schäme mich, es nicht zu schaffen.“

„Was ich mir vornahm, ist ungeheuerlich schwer, es dauert einfach nur etwas länger als ich dachte.“

„Andere blockieren meinen Erfolg oder helfen mir nicht. Ich zerbreche wegen der anderen.“

Sie können sicherlich viele Beispiele neben sich sehen. „Der Sozialismus wird ganz gewiss in den idealen Kommunismus münden, es dauert noch etwas.“ – „Meine Ehe ist die Hölle, weil ich einen Teufel zum Partner habe.“ – „Immer wieder passieren mir kleine Fehler, ich kann machen, was ich will.“ Es gibt aber zusätzlich verschiedene Zusammensetzungen, dachte ich beim Lesen. Bei Verheirateten wäre es doch schön, wenn sich der eine für das Scheitern der Ehe schuldig fühlen würde und der andere die Schuld eben bei diesem einen sehen könnte? Dann passt es perfekt zusammen! Oft suchen ja beide die Schuld beim anderen, dann lassen sie sich scheiden und suchen einen, der den Fehler in sich selbst vermutet.

In vielen Unternehmen werden unerreichbare Ziele gesetzt. „Wir wollen uns ehrgeizige Ziele setzen, für die es sich zu leben lohnt.“ Dadurch entstehen oft ganz kunstvolle und sehr stabile Komplexe: Da die Ziele nicht erreicht wurden, prügeln die Manager nach unten. „Ihr arbeitet nicht hart genug!“ Stufe für Stufe werden die Prügel nach unten gegeben. Die Mitarbeiter bekommen die Prügel zuletzt. Sie sind am Ende die Schuldigen und müssen sich Vorwürfe machen. Dagegen begehren sie innerlich auf, müssen aber mit dem Vorwurf leben. Die Manager aber sind in einer Zwitterstellung. Sie wissen, dass ihre Mitarbeiter schuldig sind, aber sie selbst bekommen die Schuld ja von ihrem direkten Chef. Nach oben müssen sie sich also für die Zielverfehlung schämen, nach unten werden sie deswegen schäumen. Und nur ganz oben sagt der Boss: „Ich werde die Welt verändern, aber das geht nicht an einem Tag. Es dauert, weil ich noch viel an den Köpfen verändern muss.“ Er ist nicht schuldig, sondern ein Titan. „Ich brauche zwei Jahre, um eine Mannschaft zu formen, die wurden mir nicht gegeben!“, erklärte so etwa gestern ein von Bayern München gefeuerter Trainer. „Ich kann nicht einfach schlechte Spieler austauschen, ich muss die nehmen, die ich vorfinde.“

Wenn ein Unternehmen oder eine Gemeinschaft unerreichbare Ziele verfolgt, muss sich jeder entweder gleich direkt schuldig fühlen oder die Schuld irgendwo suchen, zum Beispiel innen oder außen bei den gemeinen Wettbewerbern. Nach außen vertreten alle einheitlich die offizielle Position, dass alles ausgesprochen gut laufen wird, aber noch etwas länger dauert. „Wir sind jetzt optimal aufgestellt und warten auf die Früchte unserer entschlossenen Aktionen.“

Das Ziel aber ist unerreichbar. Stellen Sie sich vor, eine Firma wächst nur so stark wie der Markt, nicht doppelt so schnell, und jemand ruft auf dem Flur: „Ich bin glücklich bei der Arbeit.“ Da zucken alle zusammen, denn das darf man erst sein, wenn das Ziel erreicht ist. Das Erreichen des Ziels ist das Glück! (Deshalb ist Kommunismus oder Fundamental-Grün-Sein oder radikaler Feminismus oder alles Radikale als Unerreichbares  immer schwach freudlos.) Wer das Glück in dieser Situation auch woanders empfindet, nicht nur im Erreichen des Ziels, macht sich schuldig. „Ich bin glücklich bei der Arbeit“ ist das klare Signal, dass sich hier jemand nicht genug für das Ziel einsetzt, weil er schon jetzt glücklich ist. Deshalb ist der Glückliche in Anwesenheit eines unerreichbaren Ziels schwer schuldig.

Und wir sehen: Niemand darf offen Glück zeigen, wenn das Glück nur im unerreichbaren Ziel bestehen kann. Dann kommt es zum negativen Utopiesyndrom: Wer nicht überlastet ist, bemüht sich nicht richtig – so sehen es alle. Wer nicht leidet, ist schuldig. Daher überlasten sich alle, um nicht schuldig zu sein. Sie überstressen sich und erreichen nun das Ziel ganz bestimmt nicht, weniger als je vorher. Aber sie sind nicht schuldig, weil sie leiden.

Der einfachere Weg ist es, nur zu leiden, ohne sich zu überlasten. Und noch einfacher: „Lerne zu klagen, ohne zu leiden.“ Wer klagt, ist nicht schuldig.

Wenn sich in einer Zeit die meisten Menschen in Utopiesyndromen verfangen haben, weil sie unerreichbare Ziele verfolgen, dann sind alle schon ohne weiteres schuldig, wenn sie nur glücklich sind oder nur nicht klagen. Sie haben dann keine unerreichbaren Ziele! Darf man zum Beispiel so etwas sagen? „Ich habe vier großartige kleine Kinder und betreue sie ganztags, es macht mich total glücklich.“ – „Ich bin Frührentner, mir reicht die kleinere Rente. Jetzt sitze ich oft in der Sonne oder ich spiele Rasenschach. Das habe ich mir verdient.“ – „Ich studiere so gerne, ich will noch so viel lernen und reisen! Ich hänge noch zwei Semester dran.“ Solche Menschen leiden nicht! Sie klagen nicht! Was sind denn das für Menschen?

Es sind oft ganz normale natürliche Menschen, keine utopischen.

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

9 Kommentare

  1. Der Sinn dieser unerreichbaren Ziele liegt gerade im Unternehmensbereich nicht darin, diese Ziele in der Zukunft zu erreichen, sondern bis dahin im Namen dieser Ziele frei schalten und walten zu können. Vor Erreichen des Zieltermine macht man dann einen Paradigmenwechsel und verkündet neue noch tollere Ziele. Es empfiehlt sich dann auch komplett um zu organisieren um auf jeden Fall nicht vergleichbare Zustände zu haben.

  2. Erfolgreiche Utopien:

    Erfolgreiche Utopien:

    Die Gebrüder Wright nahmen sich vor, gesteuerte Motorflüge schwerer als Luft durchzuführen, und sie schafften das auch im Jahre 1903.

    Im Jahre 1961 gab John F. Kennedy das Ziel vor, noch im gleichen Jahrzehnt einen Menschen zum Mond und wieder zurück zu bringen. Im Jahre 1969 funktionierte das gleich zweimal mit zwei Personen.

    Fortschritt entsteht nur dadurch, daß man nach Höherem strebt.

    Eine Utopie stellt nichts anderes dar, als die Planung einer Innovation.

    Innovative Menschen denken und handeln völlig anders als die anderen Menschen um sie herum.

    Das ist logisch, denn sonst hätten die anderen Menschen die Innovation schon längst gemacht.

    Viele Naturwissenschaftler und Techniker kamen durch die Science-Fiction zu ihrem Beruf, und einige davon schreiben wieder Science-Fiction (das war auch bei mir so).

    Meine persönliche Utopie ist Nanomedizin und Nanotechnologie:

    http://members.chello.at/karl.bednarik/NANO3.html

  3. stimme zu,

    kenne ich an zwei selbst erlebten Beispielen. Wer keine eigenen Einblicke in eine aufgeblasene Firma hat, sei die Grimme-preisgekrönte Dokumentation “Weltmarktführer” empfohlen.

    Mir bleibt die Frage, warum werden Unternehmen heute so geführt? Das war doch nicht schon immer so?

  4. @KarlBednarik

    Es ist doch nicht die Utopie an sich, welche hier verdammt wird!
    Wahre Utopisten, wie die von denen Sie hier sprechen und wie Sie wohl einer sind, klagen doch nicht. Und sie bekommen die Utopie nicht von außen aufgedrückt. Sie sehen ein fernes Licht einer Idee, das sie auf die Welt bringen wollen, oder? Das erfüllt sie ganz und gar. Kein Klagen, keine Schuld! Sie werden von einer Idee gezogen, nicht von außen gedrückt.
    Menschen wie ich, die nicht wahrhaft innovativ sind, die sollen es eben auch sein dürfen. Nicht zu einem anderen Sein vergewaltigt werden.
    Ihnen wünsche ich für Ihre Utopie alles Gute und viel Freude bei der Erfüllung! Wäre ja super, wenn das klappen würde. Nanomedizin.
    Na, das wollten Sie hier wohl verdeutlichen, oder? Für alle, denen das nicht klar wurde, (wie mir) lasse ich meinen Kommentar hier so stehen… 🙂

  5. Man kann vielleicht drei Fälle unterscheiden:
    * Die Vorgabe von Utopien, um andere Ziele zu erreichen. In vielen Unternehmen gern genutzt.
    * Die ‘richtige’ Utopie, die blind verfolgt wird und dadurch für einen selbst und für andere zum Alptraum werden kann.
    * Die Utopie im Sinne eines Traums, den man anstrebt. Wenn denn auch der Weg dahin schon zählt und wenn man diese Utopie immer mal wieder in hinterfrägt.

    Sich für das Nichterreichen der Utopien anderer schuldig zu fühlen, ist allerdings in jedem Fall sinnlos und für mich nur schwer nachvollziehbar.

  6. Die Psychologie der Schuldzuweisung

    Die Schuldzuweisung ist eines der wichtigsten Waffen und das Werkzeug der Machteliten.

    Egal welchem Volk, welcher Nation oder welchem Glauben diese Eliten letztlich angehören.

    Haben Eliten mit der Erreichung ihrer Zielvorstellungen versagt und sind zum Beispiel in militärischen Auseinandersetzungen als Verlierer ihrer Macht beraubt worden, so schieben sie gerne die alleinige Schuld auf diejenigen, für die sie eigentlich die Verantwortung zu tragen hätten, nämlich auf ihr eigenes Volk.

    Dieses Verhalten kommt selbstverständlich wiederum den Siegern zugute. Die können dann, mit Hilfe von Schuldzuweisungen, das eigentlich unschuldige Volk mit dem Argument ausplündern und versklaven, indem sie argumentieren, “Ihr seid die Schuldigen”. Denn ein ganzes Volk über Schuldzuweisungen auszubeuten, ist “gewinnbringender” als eine kleine Führungselite für ihre Taten verantwortlich zu machen.

    Das hat sich in den letzten Jahrtausenden der menschlichen Kulturgeschichte nicht geändert und wird sicherlich auch in Zukunft so bleiben.

    Vielleicht ist das der Anstoß, dass die gesamte Menschheit anfängt Utopiesyndrome zu träumen. Träume waren schon immer der erste Schritt zu Veränderungen von unsozialen Zuständen.

    Die Hoffnung sollte man nie aufgeben!

  7. Utopie

    Das ist ein altes Thema der Menschheit. Schon im ältesten literarischen Zeugnis geht es um eine Utopie: Gilgamesch wollte unsterblich werden. Aus seinem Scheitern lernte er, dass er ein Mensch war. Keine Schuldzuweisung o.drgl.

  8. Blöd ist immer, wenn man für das mißlingen der Utopie eines anderen mitbestraft wird. Z.B. Ja, wir schaffen +20% Rendite, man muß Visionen haben. Mist, ging daneben, Erwartungshorizont nicht erreicht, Aktionäre enttäuscht, der Kurs fällt, wir müssen Leute entlassen.

  9. Ein Aspekt spielt bei dem Utopiesyndrom auch immer mit. Managerverträge sind meist nur auf kurze Zeit angelegt. 3-5 Jahresverträge werden gezeichnet. In diesem kurz- bis mittelfristigen Zeiträumen muss der Manager “die Kohlen aus dem Feuer” holen. Dies gilt um so mehr, je niedriger man in der Managerhierachie kommt. An der Konzernspitze kommt der Druck von der Hauptversammlung von den Aktionären…Renditestreben, vgl. Ackermann (Rendite +16% ).
    Je tiefer die Manager in der Hierachie stehen, desto schwerer wird es dann hier überhaupt noch Veränderungen der Ziele bewirken zu können. Richtig ist, dass sich Manager tieferer Ebenen Zeit beschaffen müssen und Handlungsfähigkeit beweisen müssen. Nur zu optimieren, wäre zu wenig. Erst recht, wenn man noch in der Hierachie nach oben kommen möchte. Wie aber gewinnt man ZEIT? Ganz einfach…das Zauberwort heißt Umstrukturierung oder neudeutsch sozialverträglicher Abbau von Stellen mit PWM (PersonalWirtschaftlichenMaßnahmen = Vorruhestandsregelungen, Abfindungen etc). Die Große Gefahr bei solchen “Zeitbeschaffungsmaßnahmen” ist dann die, dass die “Schere” an kerngesunden Konzernsträngen angesetzt wird. Kundenkontakte abgeschnitten werden. Aber immerhin hat man Kosten eingespart, wenn schon die Ziele nicht erreichbar waren. Danach soll die verkleinerte Struktur, die Ziele erreichen. Ein Teufelskreis, der sich nach unten fortsetzen kann…(vgl gewisse Banken, die bereits so vom Markt verschwunden sind).