Überall unfähige Schönwetterflieger?

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Ist schon länger her: Ich durfte bei einem Top-Kunden-Event der IBM ein paar Minuten lang das Fliegen einer Boeing 777 im Flugsimulator üben. Das ist so teuer, dass eine kleine Zeitscheibe für jeden reichen muss. Aber ich sage Ihnen: das ist ein Erlebnis! Ich bekam sogar hinterher einen Führerschein, der ist im Preis mit drin. Wie geht das Fliegen? Im Prinzip wie beim Auto, man hat den Steuergriff und die Pedale für die Füße, anlassen und los! Man darf jetzt nicht beliebig starten und landen, es gibt ja optimale Vorstellungen, in welchem Winkel man insbesondere wieder runterkommt. Dazu sieht man unten an der Landebahn Lichter, die einem anzeigen, ob man zu hoch oder zu tief anfliegt. Man muss also nur nach den Lichtern schauen und achtsam Gas geben und steuern, sodass man in der richtigen Landehöhe bleibt. So, das war’s schon.
Ich bekam zwei Minuten Einweisung, wie ich mit Steuer und Pedalen umgehen sollte, dann zuckelten wir auf die Landebahn und ich bekam die 777 leidlich gut hoch. Wir drehten oben zurück und gingen wieder runter. Huh, es ist nicht so einfach, nach zwei Minuten Lernen das zu tun, was die Lichter unten anzeigen. Ich vermasselte alles, fuhr über die Landebahn raus und crashte in den Flughafen. „Macht jeder“, meinte der Trainer. „Zweiter Versuch!“ Ein zweites Mal hoch, drehen („blink-blink-piep-piep“ sagte etwas auf den Bildschirmen vor mir: man darf beim Drehen die Flügel nur 30 Grad von der Horizontalen abweichen lassen), und wieder runter. Es klappte wie geschmiert.
Ich sollte jetzt schon meinen Führerschein bekommen! Ich könnte nun bei schönem Wetter ohne Wind eine 777 runterbringen, wenn der Pilot eine Herzattacke hätte. „Echt jetzt?“ fragte ich. Ja, ich könnte es wohl. „Kann ich auch einmal bei schlechtem Wetter fliegen?“ Der Trainer gewährte es. Wir stiegen erneut auf und der Trainer stellte Sturm und Hagel ein. Oh, jetzt! Wir ruckten kör-perlich hin und her, alles wie real, Hagel prasselte auf die Scheiben, das Flugzeug flatterte. Nun bekam ich eine Ahnung, wozu die vielen Schalter und Blinkleuchten auf dem Cockpit gut sind. Überall piepte es eine Art Alarm, ich ruckte am Steuer, die Flügel gingen über 30 Grad, Alarm. Alarm, Alarm – mir wurde ganz schwindelig, die Nervosität stieg. Und als nach einigen Sekunden noch mein Deo komplett versagte, gab ich auf.
Da sprach der Trainer für mich quasi „ewige Worte“: „Windstilles Schönwetterfliegen kann man sofort lernen, aber für den Rest muss der Pilot lange Jahre üben und üben und üben.“

Das war jetzt ein langer Vorspann wie bei einer kirchlichen Predigt. Da wird man in der Vorstellung irgendwohin geführt und dann – ganz plötzlich – erfährt man, was Jesus damit zu tun hat. Ich will sagen: Was bei Piloten offensichtlich ist, erfahren wir heute an – sagen wir – jedem verdammten Tag. Wir treffen auf Leute, die so eben gerade die Standards in ihrem Beruf beherrschen und bei jedem Sonderfall fast schon die Nerven verlieren wie ich im Flugsimulator. Erinnern Sie sich an das Managementbuch des Jahres 2006? In „Lean Brain Management“ schlug ich vor, eine Welt zu erschaffen, in der es NUR noch Standardfälle gibt, die durch idiotensichere Rezepte unterstützt würden. In einer solchen Welt könnten dann entsprechend fast alle Arbeiten von angelernten Schönwetterfliegern oder Flachbildschirmrückseitenberatern zum Mindestlohn absolviert werden, ohne jede Erfahrung oder Intelligenz.
Ich sehe heute, dass sich die Arbeitswelt enorm wandelt. Viele Leute haben inzwischen fast schon den Mindestlohn und gehorchen irgendwelchen Bildschirmanweisungen. Diese Leute werden hin und her geschoben, es wird kaum Wert darauf gelegt, dass sie Erfahrungen sammeln und schwierigere Fälle behandeln können. So aber hatte ich das nicht empfohlen: Ich meine doch, dass erst die Welt umgebaut werden muss, sodass es nur noch Standardfälle gibt – und DANN kann alles von Anlernlingen geleistet werden. Jetzt machen sie es falsch herum. Sie beginnen mit Anlernlingen, aber die komplizierten Fälle nehmen gefühlt eher zu, weil ja nun jeder Vorfall, den ein Anlernling nicht beherrscht, „komplex“ geworden ist.
Ich will jetzt nicht über überforderte – äh, ja – herfallen, die sind ja nicht schuld daran. Insbesondere sehe ich, dass die meisten Führungskräfte relativ erfahrungslos ernannt werden und danach auch kaum Ausbildung erhalten, dazu haben sie ja absolut keine Zeit, weil sie als Anlernlinge in der selbsterzeugten Komplexitätsblase stecken. Wir finden Anlernlinge als Grundschullehrer okay (oder wir erkennen, dass das Studium zu nichts gut ist, wenn man es auch weglassen kann), wir … ach, mir fällt so vieles ein, aber dann bekomme ich zu viele Leserbriefe. Vielleicht geben Sie Ihre Beispiele unten als Kommentar ab.

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

2 Kommentare

  1. Gunter Dueck schrieb (4. Juli 2018):
    > […] „Windstilles Schönwetterfliegen kann man sofort lernen, aber für den Rest muss der Pilot lange Jahre üben und üben und üben.“
    > […] Erinnern Sie sich an das Managementbuch des Jahres 2006? In „Lean Brain Management“ schlug ich vor, eine Welt zu erschaffen, in der es NUR noch Standardfälle gibt, die durch idiotensichere Rezepte unterstützt würden.

    Erinnern Sie sich an das im Jahr 2001 konstituierte “WikiProject Encyclopedic Network (WikiPEN)”? Unter der Initiative “wikibric” schlug ich vor, Wikipedia-Notation zu erschaffen, mit der auf konkreten Inhalt enzyklopädischer Artikel bezug genommen werden könnte, und durch deren Anwendung Wikipedia bzw. deren Autoren üben könnten, Beziehungen zwischen solchen Inhalten und dem Wortlaut herzustellen, der sie repräsentieren sollte.

    (Dass “Fragment identifier (#)”-Notation, die für den beabsichtigten Zweck zumindest ansatzweise tauglich ist, ohne Erwähnung der wikibric-Initiative bzw. des WikiPEN-Projekts mittlerweile realisiert und dokumentiert wurde, oder vielleicht schon 2001 erschaffen und womöglich sogar schon dokumentiert war, ohne dass ich 2001 davon Kenntnis hatte,
    mag sowohl meine damalige Erfahrung illustrieren, als auch die damalige Erfahrung jener, die schon damals administrativ privilegiert waren.)