Phantomvibration und Phantomdenken

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Kennen Sie den Begriff des Phantomgliedes? Es gibt Menschen, denen ein Glied, Arm oder Bein, amputiert worden ist – aber sie haben immer noch Empfindungen, als wenn es noch da wäre. Das ICD-10 listet das Phänomen unter Code G54 als Krankheit von Nervenwuzeln oder des Nervenplexus. Jetzt passiert mir aber immer öfter so etwas Ähnliches mit dem Blackberry.

Da ich oft auf Tagungen und in Meetings bin, sollte ich höflicherweise den Klingelton des Blackberrys abschalten, dann vibriert es bei Anrufen – und ist still. Zusätzlich vibriert es aber bei Google-Mails immer, ich darf es daher im Hotel nachts nicht auf Holz legen, weil ich dann von fremdem Sägeton aufwache. Am Tag trage ich das Blackberry meist in der Hosentasche, sonst im Jackett. Ab und zu vibriert es, dann sind Ihre Mails gekommen, schön! Ach, meist sind es Standardmails von Twitter oder so.
Ich habe öfter folgendes Erlebnis: Ich lege das Blackberry oft neben mich auf den Beifahrersitz, dann vergesse ich es ab und zu im Auto – ja, oder ich fahre ganz zerstreut ganz ohne das Blackberry los. Ich will sagen: es ist nicht immer bei mir. Und dann – plötzlich, irgendwo, irgendwann – spüre ich wieder einmal, wie das Blackberry in meiner Hosentasche oder an meiner Brust vibriert: einmal, zweimal – eine Mail! Ich zähle mit, weil es beim dritten Vibrieren auch klingelt, wenn es ein Anruf ist. Und dann fasse ich nach dem Smartphone, aber es ist nicht da! Weg! Vergessen!
Das ist doch so etwas wie Code G54, oder? Eine Nervenwurzelkrankheit? Wie heißt die? Ich glaube, sie heißt Phantomvibration. Das Blackberry ist gerade von mir abgetrennt, aber ich fühle, dass es bei mir ist. Ich müsste jetzt eigentlich noch aufgeschrieben haben, wann es genau vibriert. Wenn das zusammenpasst – uih dann hätte ich ein Sheldrakesches morphogenetisches Feld entdeckt. Später! Jetzt ist es erst einmal eine Phantomnervenkrankheit.
Ich habe sofort gegoogelt, ob das andere auch haben. Blackberry ist Blackberry. Ja! Ganz viele! Und bei den iPhones scheint es auch Phantomklingeln zu geben – da hören Apple-Personen das iPhone, obwohl es gerade nicht da ist…
Wahrscheinlich haben Sie ja alle ebenfalls diese Krankheit, nur dass Sie keine Kolumnen darüber schreiben. Es kann ja sein, dass ich der letzte bin, der es gemerkt hat – dass etwas Abgetrenntes noch da ist. Gibt es nach Scheidungen dann auch Phantomschnarchen?

Etwas ist abgetrennt worden, fühlt sich aber so an, als sei es noch da.

Und dieses Prinzip des verlorenen Gliedes, das immer noch da ist, übertrage ich nun auf gedankliche Konstruktionen – die sitzen in uns, aber ihr einstiges Fundament ist gar nicht mehr da!

Dazu fällt mir ein Essay von Albert Memmi ein, Der Kolonisator und der Kolonisierte, in dem Sätze stehen wie: „[Es reicht nicht aus], dass der Kolonisierte objektiv Sklave ist, er muss sich auch als solchen annehmen.“ Ich habe darüber eine Radiosendung gehört, es war die Sprache davon, warum sich die damals von Frankreich Entkolonialisierten nicht endlich wie Freie benahmen. Das Problem ist: Sie hatten immer noch die angenommene Rolle in sich selbst. Die Vergangenheit ist abgeschnitten, aber sie fühlt sich noch ganz real an. Alles fühlt sich noch so an! Nicht nur bei Kolonisierten und Kolonisatoren, auch bei Frauen- und Männerbildern ist das wohl so – wir sind gleichberechtigt, aber vieles fühlt sich noch wie früher an. Die Weltkriege sind schon lange her, aber ab und an glimmt wieder Hass auf. Es ist nicht einfach abgeschnitten oder ganz weg, es muss Phantomdenken sein.
Die Schüler-Lehrer-Beziehungen und die Relationen zwischen Chef und Mitarbeiter wandeln sich, wir sind im Prinzip frei!
Wir haben so viel verinnerlicht. Das Objektive ist ganz weitgehend verändert (nicht so ganz, aber weitgehend), wir sind nicht mehr Sklave, die Frau wird nicht unterdrückt, der Lehrer ist nicht Herrscher, der Chef kein Diktator, der Deutsche kein Fremdenhasser, kein Ossi oder Wessi. Objektiv ist das alles amputiert, aber wir haben alle diese überholten Bindungen und gar Hassgefühle früher einmal tief innen angenommen. Das Denken ist noch nicht vom Amputierten frei, es denkt und fühlt, als sei das Alte noch da. Wir sind noch Kolonisierte. Die Phantome sind noch da.

Wie verjagen wir sie?
Wir haben die Grenzen objektiv aufgehoben, schaut alle hin, sie sind weg! Nun müssen wir zur Grenze gehen, jeder und jede an diese seine oder ihre, und den anderen auf der anderen Seite die Hand reichen und uns mit ihnen im Kreise drehen, so dass man nicht mehr weiß, wer von hüben oder drüben war…
Sonst drehen uns die Phantome im Kreise… an der Nase… aufs Kreuz. Sonst ist das freie Denken selbst ein Phantom. Nach der Aufklärung, dem Enlightenment, und der objektiven Veränderung der Zustände muss auch die Emanzipation und die Entkolonialisierung des Selbst folgen.

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

9 Kommentare

  1. Nachtod-Kontakt

    Nachtod-Kontakt (siehe bei Wikipedia) ist ein ähnliches Phänomen.
    Menschen, welche eine/n Partner/in verloren haben, erleben diese Person im ersten Monat nach dem Todesfall oft wie real.
    Der Grund dafür liegt darin, dass immer (besonders wenn das Umfeld gleich ist) zur aktuellen Situation passende, gespeicherte Erinnerungen aus dem Gedächtnis aktiviert werden. Unser Gehirn arbeitet per Mustervergleich. Zu einem aktuellen Erlebnis (= Muster) wird eine vergleichbare Erinnerung (= Muster) aus dem Gedächtnis aktiviert (re-experience).
    Ob darin zusätzlich ein/e Verstorbene/r oder eine Blackberry-Vibration enthalten ist, ist im Prinzip egal.Ein Déjà-vu ist ein vergleichbarer Vorgang.

    Wir sind, was wir sind, das Ergebnis unserer gespeicherten Erfahrungen – allerdings können wir neue Erfahrungen machen und/oder die gespeicherten Erinnerungen beim Erinnern verändern und so mit neuer Bedeutung versehen

  2. Nachtrag

    Alle unsere Erfahrungen (= Muster) werden in der zeitlichen Gegenwartsform gemacht, gespeichert und auch so erinnert – und sind damit sofort verfügbar (als Standard Operating Procedures).
    Ein Computer holt Infos vom Speicher in das Arbeitsgedächtnis, indem diese hochgeladen werden – das menschliche Gehirn ist wesentlich schneller weil seine Erfahrungen ´freigeschaltet, addiert´ werden. Dieser Vorgang ist wesentlich schneller als bei jedem Computer.
    Tut mir leid, IBM. 😉

  3. @KRichard

    Danke für die Bildungserweiterung Nachtod… oh weh, das wusste ich nicht, meine Mutter hatte so etwas nach meines Vaters Tod, alle dachten, sie wäre jetzt “…” , auch die Ärzte. Seufz.

    IBM: Der Arbeitsspeicher der Prozessoren wird jetzt so groß, dass dort alle Daten mit reingehen, so dass beim Rechnen keine Festplatten mehr gebraucht werden. “In-Memory-Computing”. Ein Festplattenzugriff liegt im Millisec-Bereich, in memory im Nanobereich… Datenauswertungen in SAP sind heute schon in memory möglich (sehr teuer) und dann bald üblich… Dadurch werden Auswertungen vielleicht 1000 Mal schneller. Also: Vorsicht mit Häme…

  4. Kreise auch in die Vergangenheit

    Gute Illustration eines wichtigen gesellschaftlichen Problems, doch die vorgeschlagene Lösung scheint mir etwas unvollständig. Sind doch diese Grenzen über die Jahrzehnte oder Jahrhunderte für unser Leben wichtig geworden – auf allen Seiten. Und weil sie objektiv verloren gegangen sind, darum wirken diese verlorenen Grenzen heute unbewusst ebenso wie der Verlust einer geliebten Person. Richtig (also auch im Un- und Unterbewussten) beseitigen können wir die Grenzen also nur, wenn wir über sie trauern – indem wir als Gesellschaft und als Individuum die verschiedenen Phasen der Trauer bewusst durchleben.

    Nach Anne Ancelin Schützenberger und Éveline Bissone Jeufroy sind das etwa nach dem Schock – Verleugnung – Wut – Angst, Depression – Traurigkeit – Annahme – Vergebung – Suche nach Sinn und Erneuerung – erneute Ausgeglichenheit und Frieden (meine Übersetzung nach: Sortir du Deuil, Paris 2008, S. 92).

    Drehen wir uns nämlich nur im Kreise und vergessen unsere Herkunft, dann ist die Chance groß, dass sich das Phantomdenken zu gewissen Jahrestagen doch wieder manifestiert – ganz unverständlich und ganz unbeherrschbar (dazu insbesondere Anne Ancelin Schützenberger: Oh, meine Ahnen! Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt. Die Autorin hatte Trota von Berlin auf SciLogs vorgestellt.)

  5. In-memory computing

    … führt nicht am Persistieren von Daten vorbei. Das sogenannte Real-time processing basiert denn auch auf antizipierten Abfragen persistierter Daten und betrifft nicht die Datenhaltung an sich, die immer noch “Platte” ist.

    Ansonsten, klar, das menschliche Gehirn ist nicht schnell oder schneller als das IT-System.

    Dem im Artikel geforderten Aufbau einer neuen IT- oder Webkompetenz stimmt der Schreiber dieser Zeilen zu.

    MFG
    Dr. Webbaer

  6. Eigene Vibrationen

    Ich hatte das Erlebnis auch schon mal. Ich hab’s mir so erklärt, dass unser Körper eben auch manchmal selbst vibriert (Verdauung oder andere Muskeln). Wenn man sich an sein Telefonvibrieren gewöhnt, sensibilisiert man sich für dieses Brummen und nimmt auch diese körpereigenen Töne stärker wahr. Da kann es eben schon mal zu einer Verwechslung kommen.
    Bei einem Klingelton kann es ähnlich sein — wenn man sich auf bestimmte Frequenzen konditioniert, hört man diese auch öfter aus einem Frequenzwirrwarr heraus.

    Gruß, Kai

  7. @Dueck

    Danke für die IBM-Info – das klingt ja sehr interessant; auch, weil die Prozessoren vermutlich präziser arbeiten als das Gehirn.

    und noch was ist mir eingefallen:
    Das ´Phantomklingeln´ kann man auch als Ergebnis einer klassischen Konditionierung nach Iwan P. Pawlow betrachten.
    Allerdings ist bisher kein Hund bekannt, der sich das Gerät für die eigene Dressur selbst gekauft hätte ;-).

  8. Wer kennt schon die Gesetze des Verlernens?
    Grundannahmen, etwa über uns schleppen wir meist ein Leben lang mit uns mit – sie sind unser persönlicher Käfig – oder (etwas weicher) die persönliche Brille.

  9. Phantom-Vibrationen

    Ich habe vor längerer Zeit (ich weiss weder wann noch wo, aber definitiv auf Papier, es mag Spektrum der Wissenschaft gewesen sein) mal einen Artikel über haptische Halluzinationen in Bezug auf Telefon-Vibrationen gelesen.
    Ich fühle auch öfter mein Handy vibrieren, als es das tatsächlich tut …
    Es hat wohl etwas damit zu tun, dass man unbewusst Druck und Vibration nicht wirklich unterscheidet und dann schon mal eine Hosenfalte “vibriert”, wenn man z.B. im Auto sitzt. Da vibriert’s ja sowieso ständig.