Neulandscham, bewusst nackte Kaiser und SABTA
BLOG: WILD DUECK BLOG
Ein lieber weiblicher Mensch träumt davon, einmal beim Wiener Opernball oder beim Neujahrskonzert dabei zu sein. Da stelle ich mir vor, ihm eine Karte zu schenken, und ich weiß, wie er reagieren wird: „Was ziehe ich da an?“ Es ist die würgend beklemmende Neulandscham, wenn man Bedenken hat, sich auf noch ganz unbekanntes Parkett „zu wagen“.
Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das Internet als Neuland bezeichnet – und „wir Internet-Ureinwohner“ haben Häme über sie ausgegossen, aber nicht so schrecklich viel. Es war nämlich (so empfand ich es selbst) ein bisschen Scham in ihrer Stimme dabei, ein Wissen darum, dass das Internet eigentlich nicht neues Parkett sein sollte.
Die meisten Manager reden so, ohne Scham oder ganz und gar schamlos: „Wir sind praktisch die Einzigen, die den bevorstehenden radikalen Wandel als größtmögliche Chance begreifen, deshalb werden wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen und unserem schon seit Jahrzehnten proklamierten Ziel, die Nummer Eins zu werden, endgültig näher kommen. Wir sind da entschlossen, wo andere zaudern. Wir lieben Herausforderungen! Wir werden in der Krise stark und stärker – so war es bisher immer, wir hatten so viele Krisen! Wir sind noch aus jeder mit Bravour herausgekommen. Der Wandel ist in unseren Genen, er ist fest in der Helix unserer DNA eingeflochten, wir…“
Wie geht es Ihnen, wenn Sie so etwas hören (müssen)? Ich denke oft während der ganzen Rede nur darüber nach, ob der uns von sich so Überzeugende weiß, worüber er redet, was er wohl damit sagen will, ob er es ernst meint oder nur vorschützt, und ob seine Körpersprache ihn irgendwie verrät.
Es gibt diese schöne Abkürzung SABTA: „Sicheres Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit“. Ist es das? Ich kenne etliche Manager, besonders junge, die in einer hochdramatischen Weise an sich selbst glauben. Sie werden vor großen Klippen im Leben eines Unternehmens oft gefragt: „Wieso schaffen ausgerechnet Sie denn den Wandel, wo doch viele an dieser Aufgabe gescheitert sind?“ Und sie antworten: „Weil ich es bin.“ Manager für Manager scheitern, Prinz für Prinz verreckt in der Hecke um das Dornröschen…
Ich habe einmal einen sehr erfahrenen Vorstand eines größeren Unternehmens ungläubig gefragt, warum er die eben schon zitierte Rede mitten in der Finanzkrise hielt. „Glauben Sie das denn selbst?“ Er lächelte ein bisschen angesäuert-traurig und erklärte dann ganz sachlich, dass es absolut keine Alternative zu dieser Rede gäbe. „Es ist Krise, und alle Leute haben völlig zu Recht Angst, ich auch. Ich muss aber als Leader des Ganzen irgendwie etwas Positives sagen, das wird erwartet. Ich kann nicht sagen, dass ich Angst habe, weil wir Neuland betreten. Da erkläre ich, dass es unsere Chance ist.“
Da musste ich anerkennen, dass er wie ein nackter Kaiser vor das Volk tritt und wie einer redet, der in vollem Ornat prächtig prangt. Er weiß aber ganz genau, dass er nackt ist – und die Zuhörer wissen es wohl auch, aber niemand will es anprangern, weil sich alle einig sind, die Augen geschlossen zu halten. Denn eventuell sind sie alle nackt.
In der letzten Woche wurde der neue EU-Kommissar „für Internet“, Günther Oettinger, zum Internet befragt. Allgemein wurde ja gleich von der Netzgemeinde höhnisch bezweifelt, dass er irgendeine Ahnung vom Internet hat. Man war allgemein entsetzt, dass niemand „da oben“ auch nur daran dachte, jemanden mit dieser Aufgabe zu betrauen, der fachliches Vertrauen genießt und die Energien der Netzgemeinde bündeln und leiten würde.
„Herr Oettinger, wie wohl fühlen Sie sich eigentlich im Internet?“, fragte die Rhein-Neckar-Zeitung. Sie erhielt Antworten wie zum Beispiel (wörtlich zitiert): „Wenn ich auf der Suche nach Informationen bin, schaue ich im Netz nach, suche bei Google. Das Internet kann eine enorme Erleichterung sein.“ Und: „Manchmal schreibe ich mir über mein iPhone selbst Termine in der Kalender und behalte so die Übersicht.“ Und ich frage mich: Ist das SABTA? Naivität? Wurschtigkeit? Wenn jemand als Kaiser weiß, dass er nackt ist, redet er dann so ganz nackt daher? Man sagt doch Oettinger auch nach, dass er sich sehr wohl diszipliniert einarbeiten könne, zum Beispiel in das Englische, so dass es ihn so langsam kleide, über die Jahre…
Was es auch immer sei – und wie es auch immer zugeht: Es macht mich ganz nervös, zwischen nackten Krisenkaisern, Neulandbeschämten und Sabtisten in die Zukunft zu sehen.
Ich habe mich über die Neulanddiskussion geärgert. Wir, die wir schon länger mit dem Internet leben und arbeiten, leben, glaube ich, in einer Filterbubble.
Wenn ich bei meinen 8 und 10 jährigen Kids in den Elternabend gehe und mit den Menschen dort rede, merke ich, wie groß die Kluft ist und, dass das Internet doch für viele Neuland bedeutet.
Facebook, WhatsApp und Email kennen alle, aber das geht schon damit los, dass ein Großteil der Eltern eine Mailadresse für die ganze Familie hat. Mit Doodle anfragen kommen viele nicht klar.
Mir scheint es so, als wäre die Mehrheit zwar in Neuland angekommen, aber man läuft bloß am Strand rum und erkundet das Neuland nicht.
Dilbert, hier wird’s deutlicher – ‘Es ist Krise, und alle Leute haben völlig zu Recht Angst, ich auch. Ich muss aber als Leader des Ganzen irgendwie etwas Positives sagen, das wird erwartet. Ich kann nicht sagen, dass ich Angst habe, weil wir Neuland betreten. Da erkläre ich, dass es unsere Chance ist.’ – fairerweise könnte ergänzt werden, dass der Job auch ein wenig schwierig ist.
Bei Merkel, die anscheinend gänzlich ohne eigene Meinung und Überzeugung, demoskopisch regiert, ist natürlich nicht klar, was los ist.
Sie ist in der DDR angelernt worden, im Bereich der Agitation, nachdem die Physiklehre aufgegeben worden ist, wie einige meinen.
Schwierig, um die Dullheit Einzelner bewusst, sind denn auch kompetitive Systeme erfunden worden, die aber, korrekt!, nach und nach im Rahmen der EU ausgehebelt werden.
MFG
Dr. W
Sagen wir mal so: Merkel hat vermutlich Recht mit der Aussage, dass das Internet für viele Neuland sei. Für sie als Physikerin – wenn auch aus der DDR – sollte es das aber eigentlich nicht sein, denn bereits in den 80er Jahren gab es “netzbasierte” Kommunikation in Forschungsprojekten.
Etwas mit dem ARPANET Vergleichbares gab es im Ostblock nicht.
Übrigens war dieser Mangel anzunehmenderweise auch eines der Probleme des Ostblocks, also nicht nur die mangelhaften Automobile, die Hardware oder die Technologie allgemein und das Monetäre betreffend, sondern auch die Kommunikation, die zu bekanntem Abgang (“Wir sind das Volk!”, Milliardenkredit (Strauss) Glasnost etc.) geführt haben könnten.
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Ganz am Rande angemerkt, als Außenstehender, wie hat diese Dame nur die jetzige Position erreichen können?, wenn derart gebildet, rhetorisch herausgefordert und nicht mit “Messer und Gabel” essen könnend?
Hat die Dame jemals etwas verständig Erscheinendes und Zitierenswertes vorgetragen?
MFG
Dr. W