Menschenpuffer
BLOG: WILD DUECK BLOG
Wieder einmal diskutieren wir öffentlich gelb ärgerlich über Leistungsverweigerer oder platt beim süddeutschen Stammtischbier über „faules Pack“, das nicht zu fünf Euro die Stunde bei täglicher Kündigungsfrist arbeiten will. Zeitungen und Fernsehen zeigen uns vermasselte Lebensläufe und zerrüttete Verhältnisse. Ehen von Einzelverdienern werden geschieden, damit der andere arm im Sinne des Gesetzes ist und Staatsgeld abzocken kann. Wie kommt es dazu? Es ist die unsichtbare Hand von Adam Smith, die immer dann regiert, wenn keiner etwas tut.
Wirtschaft vollzieht sich in Wellenlinien. Es geht auf und ab. In guten Zeiten gedeihen die Unternehmen prächtig, in schlechten haben sie zu kämpfen. Vernünftige Unternehmen kennen das und sorgen vor, indem sie in guten Zeiten einiges Fett ansetzen, was sie unter Druck wieder ausschwitzen können. Sie gehen sorgsam mit dem um, was wir Unternehmerrisiko nennen. Dafür sei es ihnen von Herzen gegönnt, mehr Gewinn auf ihr Eigenkapital zu scheffeln als durch risikolose Anlage in Staatsanleihen.
Die Rücklagen und Rückstellungen (etwa für Betriebsrenten) eines Unternehmens bilden das nötige Fettpolster, um Rückschläge beim ewigen Hin und Her zu verkraften.
Nun haben sich aber die Unternehmen in den letzten Jahrzehnten überlegt, den Risikopuffer nicht mehr nur in Form von Kapital anzulegen, sondern die Risiken auf die Arbeitnehmer abzuwälzen. Sprich: Das Unternehmen zehrt bei schwacher Wirtschaft nicht von den Rücklagen, sondern entlässt so viele Mitarbeiter wie nötig. Leistungsschwächere Mitarbeiter werden zu einem Menschenpuffer. Durch den Einsatz von Leiharbeitern als atmende Menschenreserve werden lange nicht mehr so viele Kapitalreserven in Form von Rücklagen benötigt. Der Aktienbesitzer muss nicht mehr so viel vorsorgen. Er kann das Unternehmen „schlank finanzieren“, also mit weniger Einsatz als früher mehr Gewinn erzielen.
Damit organisieren wir die Wirtschaft in der Reinform von einst. Einer Oberschicht geht es gleichmäßig gut und das Risiko wird durch die Masse der Arbeiter getragen. Dieses Hin und Her im Elend der Arbeiter ist die „unsichtbare Hand“, die über der Wirtschaft wacht und alles im Gleichgewicht hält.
Im seinem berühmten Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen (1776) geht Smith näher auf dieses Gleichgewicht ein:
Der Wohlstand eines Staates steigt also mit der (arbeitsfähigen) Einwohnerzahl. Um den Faktor Arbeit zu vermehren, muss die Nachfrage nach Arbeit (und damit die Lohnhöhe) so weit steigen, dass die unteren Schichten mehr Kinder aufziehen können. Steigt der Lohn über die zur Aufzucht ausreichender Arbeitskräfte nötige Höhe, so wird ihn die übermäßige Vermehrung bald wieder auf die nötige Höhe herabdrücken. Dies funktioniert auch umgekehrt: Vermehrt sich die „Spezies Mensch“ zu stark, so wird ihr durch Nahrungsmittelknappheit eine Grenze gesetzt. Dies geschieht dadurch, dass die meisten der in den fruchtbaren Familien der unteren Schichten geborenen Kinder sterben.
Diese Theorie beten wir heute an.
Heute steigt der Wohlstand eines Staates mit dem Bruttosozialprodukt. Wenn es steigt, verbessert sich das Leben der Schwachen. Wenn es fällt, landen Schwache und Arbeitslose in vergleichsweisem Elend, eben weil wir die Schwankungen nicht mehr durch Kapitalrücklagen ausgleichen wollen.
Wollen wir das wirklich nicht? Gestehen wir den Unternehmen die hohen Gewinne auch dann noch zu, wenn sie die Unternehmensrisiken auf Schwache abwälzen? Die bekommen dann Hartz IV, aber diese Gelder sind doch Kapitalrücklagen oder Schulden wiederum der Schwachen, die sich gegenseitig helfen?
Wir organisieren Wirtschaft bewusst so, dass die Menschenpuffer das Gleichgewicht erhalten. Die Kinder der unteren Schichten lassen wir nicht sterben wie im 18. Jahrhundert, aber sie werden nicht entfernt artgerecht aufgezogen, nicht wahr?
Voller Kummer verfolge ich die derzeitige Debatte, dass sich nun die Millionen Angehörigen des Menschenpuffers noch Vorwürfe der prinzipiellen Faulheit anhören müssen. Diese Vorwürfe werden durch genüssliche Reality-Shows mit Gestrandeten untermauert – wie die zusehen, wie sie ohne Leistungen an Geld kommen – ganz furchtbar ungeschickt mit denen verglichen, die uns zur Finanzkrise beutelten. Wollen wir nicht lieber zu einer Unternehmensverantwortung zurück, die Rücklagen für Rückschläge bildet?
Und ich hörte Menschen aus dem Puffer verzweifelt schreien: „Ihr Arbeitsplatzbesitzer verachtet uns und haltet uns für Loser und behandelt uns wie Aussätzige! Auch euch selbst kann es treffen! Jederzeit und ganz unschuldig bei voller Leistungsbereitschaft!“
Da dachte ich an die vielen Leserbriefe aus allen möglichen Unternehmen und Institutionen, die vom unsäglichen Leiden unter Leistungsstress berichten und von Versagensvorwürfen im Angesicht hochgesteckter Ziele. Es könnte sogar sein, dass es uns vor dem Stranden schlechter geht als nachher – es ist die Angst, selbst irgendwann im Menschenpuffer aufzugehen.
Gestrandete
Sehr schön beschrieben! Nur den letzten Satz bezweifle ich etwas. Zumindest sind die schon Gestrandeten da offensichtlich anderer Meinung.
Kann Mona nur beipflichten…
Menschenpuffer
Lieber Herr Dueck,
im Prinzip stimme ich Ihnen voll zu, aber das mit den Rücklagen/Rückstellungen muss ich präzisieren. Pensionsrückstellungen sind Fremdkapital und stehen den Mitarbeitern zu, sind also keine Reserven.
Rücklagen sind Reserven, aber sie müssen ja irgendwo gebildet/angelegt werden,z.B. bei Banken oder in Gütern, die schnell bei Bedarf verkauft werden können.
Nun ist es aber nicht sehr sinnvoll Geld bei Banken zu niedrigen Zinsen anzulegen, wenn auf der anderen Seite höher verzinsliche Kredite stehen. Also wird man in guten Zeiten Kredite zurück zahlen. Wenn dann aber schlechtere Zeiten kommen und wieder Kredite gebraucht werden, sind die BAnken zurückhaltend, wie zur Zeit. Es ist nicht so leicht Reserven zu bilden unabhängig vom Geldmarkt oder konjunkturunabhängig. Vielleicht wären Belegschaftsaktien /Mitarbeiterbeteiligung ein Weg.
Ein Angestellter spricht…
Wenn man unterstellt, wie Gunter Dueck das implizit tut, dass die allermeisten Menschen angestellt sein müssen (wie er selbst bei der grossen IBM), um ihre Brötchen zu verdienen, ist die Betrachtung natürlich richtig.
Nur: Wer schreibt denn vor, dass man nicht selbständig und eingenverantwortlich – als Unternehmer – arbeiten kann? In den Entwicklungsländern sind Zehntausende von Kleinstunternehmer täglich unterwegs, ihren Lebensunterhalt und den Wohlstand für ihre Familien zu erarbeiten.
Leider hat man diese Eigenständigkeit den Deutschen grossflächig aberzogen. Selbstverantwortung gilt als unanständig und unsozial. Da wird gejubelt, wenn der Staat “zwecks Bürgerschutz” alles mögliche verbietet, reguliert, vorschreibt und kontrolliert.
Das Ergebnis sind Abhängige – die dann selbstverständlich gemäss der ökonomischen Logik des Dschungels – von der besser positionierten ausgenützt werden. Das kann man bejammern. Oder man lernt, mehr Achtung vor dem echten Unternehmer (nicht den überbezahlten Grossfirmenapparatschiks) zu haben.
Kleinunternehmertum
“Wer schreibt denn vor, dass man nicht selbständig und eingenverantwortlich – als Unternehmer – arbeiten kann?”
Ich glaube, dass schreibt die Theorie der Ressourcenabhängigkeit vor. Je unsicherer die Umwelt, desto eher greift man auf das Mittel von Zusammenschlüssen und Übernahmen zurück. Deshalb die Konzentration, hin zu Großunternehmen.
Guter Artikel
Stimmt, wir lassen die Unterschichtenkinder nicht mehr sterben, aber bewusst klein gehalten werden sie schon. Es ist nun mal leider immer noch so, dass ein Arbeiterkind mit Migrationshintergrund und ein Ärztesohn bei gleichem Notendurchschnitt in der vierten Klasse für unterschiedliche Schulen empfohlen werden. Und da die Qualität der Hauptschulen sinkt, werden dort die Schüler eher für den zweiten Arbeitsmarkt ausgebildet, da könnte man durchaus auf den Gedanken kommen, dass da eine bestimmte Methode dahinter steckt.