Konstruktion von Prozessleichen und das Fehlen von Blut und Atem

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Die so genannten Prozesse, Reorganisationen und Rahmenrichtlinien werden wie im Frankensteinschen Labor konstruiert. Die Manager und Politiker konstruieren eine schöne Leiche und stellen sie dann unter die Mitarbeiter oder mitten ins Volk. Das soll dem Monster den Atem einhauchen. 

Wenn wieder einmal ein Prozess von allen Mitarbeitern oder ein Gesetz vom Volk ignoriert wird, dann laufen die Wahlkämpfer und Beschwörer durch alle Meetings und Versammlungen und appellieren: „Diese neuen Bestimmungen lösen die alten ab. Damit sind wir wieder bestens aufgestellt. Unsere Firma überlebt in einem schwierigen Markt. Die Weichen sind gestellt. Wir müssen nun mit aller Energie die neuen Prozesse auch mit Leben erfüllen. Geben Sie Ihr Herzblut, meine Damen und Herren, dann ist uns der Erfolg gegen die anderen nicht zu nehmen.“ 

Neue und bessere Prozesse werden geplant. Der Unternehmensstab denkt sich Abläufe aus und konstruiert in langen Meetings die Wirklichkeit in Form von so genannten Powerpoints. Diese Wirklichkeit wird von allen Anwesenden noch einmal umgewünscht. Es entsteht ein System, mit dem alle leben können, weil sie es mit ihren eigenen Bereichsforderungen vollkommen überladen haben. Die Prozesse und Vorschriften sind wie Blutadern und Därme, wie Nervenbahnen und Eileiter. Alles wird sorgsam verbunden. Eine wunderschöne monströse Leiche mit ganz verwickelten Leitungen entsteht. Sie hat vier Beine, sechs Arme, drei Flügel und soll Eier legen und Wolle liefern. Alles wird hineingezimmert, bis die Leichenteile zusammengenäht sind. Die Nähte platzen erfahrungsgemäß sehr oft, es sind die später beklagten Abteilungsgräben oder Ressortbrüche. Die werden überschminkt und poliert. Am Ende ist die Leiche vollkommen glatt („seamless organization“ oder „nahtlose Organisation“) und hat eine einheitliche Farbe. 

Leider lebt sie noch nicht. Die alte Organisation war auch einmal eine Leiche, sie wurde künstlich belebt und siechte, weil die Kräfte fehlten und das Herzblut sowieso, außerdem die Mitarbeiterenergie und das Geld. Nun soll das Nahtote durch eine frisch gezimmerte Leiche ersetzt werden, die alles liefern wird, was von ihr gewünscht wird – wenn sie denn je zum Leben erwacht.

„Meine Damen und Herren, lassen wir das Alte sterben. Lassen Sie uns das Neue zum Leben erwecken. Wir wollen unsere Geschäftsprozesse leben. Das verlangt viel Hingabe und etliche Überstunden. Wir fordern Sie auf, dem Alten zu entsagen, es hat ausgedient. Hängen Sie nicht Ihr Herz daran! Wir gehen in eine neue Zeit. Geld für den Übergang haben wir nicht. Blutinfusionen wollen wir uns nicht leisten. Wir rufen Sie deshalb auf, diesem wundervoll verwickelten Körper Atem einzuhauchen. Seien Sie gleichzeitig schnell und auch vorsichtig. Vieles ist in der gebotenen Eile mit der heißen Nadel gestrickt und wird zu Blutverlust führen. Das Managementteam unterstützt Sie mit Quick Fixes. Wir müssen noch lernen. Wir haben wahrscheinlich zu viel des Guten gewollt und fürchten, dass diese Wunderleiche zu komplex geworden ist. Aber unsere Welt ist so komplex, weil wir in separaten Egoismen ersticken. Hoffentlich passiert es nicht beim Aufrichten der Leiche wie bei billigen Rasenwasserschläuchen – da kommt am Ende nichts raus, wenn auch nur eine Stelle umgeknickt ist.“ Manchmal fehlen auch einige Verbindungsschläuche in der Leiche, die zu inneren Stockungen führen. Politiker nennen es Gesetzeslücken und Unschärfen in der Formulierung. 

Dann hauchen alle ein bisschen ein, aber nicht mit voller Lunge und voller Bluttransfusion, denn sie verlassen sich lieber noch einige Zeit auf das alte Monster, das eigentlich sterben soll. Da lebt die frische rosa geschminkte Prozessleiche nicht wirklich auf, sie erhebt sich ein bisschen wie aufgepumpt und funktioniert nicht richtig.

Aber keine Sorge, Management heißt „keep things done“. Die Führung oder die Ministerialbürokratie sorgt jetzt für das Leben, indem sie den Blutdruck und die Lungenwerte alle paar Minuten misst und bei zu schwachen Messungen den Mitarbeitern und dem Volk Vorwürfe macht. „Hauchet ein! Spendet Blut! Die Leiche ist sehr komplex, sie wird nicht so einfach funktionieren. Wir werden lernen und an ihr herumbasteln. Wir werden die Schläuche gerade richten und viel mehr neue Schläuche ankleben, damit nichts abfließen kann.“

Dann erhebt sich die Leiche ein bisschen und überlebt dank dauernder Infusionen so siech wie das ganz Alte, was im Keller immer noch nicht ganz tot ist, weil man manche Funktionen des alten Patienten mit der neuen Leiche zusammenschloss – als Ersatzorgane.

Sie gehen alle um die schwach lebende Fastleiche, den neuen Geschäftsprozess oder die revolutionäre Gesetzesreform herum und feiern sie frenetisch, um allen zu zeigen, das die neue Zeit wirklich und wahrhaftig angebrochen ist. „Es ist kein Fake wie all die Jahre davor! Es ist real!“ 

„Wir sind noch nicht am Ziel, wir müssen lernen und dran arbeiten. Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche.“ Die alten Mitarbeiter haben die Leichen schon viele Male konstruiert und faulen sehen. Kaum eine erwachte je richtig zum Leben. Sie mahnen, einfachere Leichen zu konstruieren. Aber es gibt so viele Interessen und Bereiche, dass es unmöglich ist, einfache Wesen zu planen. In der Mitte des Jahres oder der Wahlperiode kümmern sie sich alle um den nächsten Job oder die Wiederwahl. Sie lassen die gegenwärtige Fastleiche mit den alten Kellerorganen des dort Röchelnden, wie sie ist. „Die Mitarbeiter leben die Prozesse nicht. Das Volk kommt mit den radikalen Reförmchen nicht klar.“

 

Da fassen sie den Beschluss, eine ganz neue Leiche zu konstruieren, diesmal eine ganz fortschrittliche. Sie soll einfach sein, gleich funktionieren und zusätzlich tauchen können. Kiemen mit Blondhaar! Zwei Lungensysteme! Ein Berater hat so etwas in den USA gesehen, wo Firmen beobachtet werden, deren Geschäftsjahr am 1. Juli des Jahres endet. Die haben Vorsprung! „Warum sollen wir uns mit einer alten Fastleiche ärgern. Wir machen es so: Wir konstruieren eine ganz radikal neue, aber gleich eine bessere. Und damit nicht dieselben Fehler wie bei der gegenwärtigen gemacht werden, wechseln wir die gesamte Führungsmannschaft / das Kabinett aus. Die Neuen und wilden Jungen haben noch keine Leichen im Keller und gehen an diese noch nie gut gelöste Aufgabe mit ihrem frischen, völlig unbelasteten Hirn heran, das noch durch keinerlei Lebenserfahrung korrumpiert ist.  

Ach ja. Und Sie, liebe Leser, deren Blut ich in Wallung bringe, fragen mich immer banger: Wie aber sollen wir es tun? Antwort: Konstruieren Sie denn zuhause Leichen? Sie bekommen doch Babys und ziehen die mit aller Geduld heran. Diese strotzen bald vor Kraft, wachsen mal in die Länge und in die Breite, entwickeln sich von einem Prototypen zu einem ausgewachsenen Glück. Und? Warum nicht so? Weil Sie zuhause Zeit und Geduld aufbringen. Die aber gibt es in Politik und Wirtschaft fast nicht mehr. Es fehlen das Herzblut und der lange Atem. Und die Führenden päppeln nicht ihre Babys auf und herzen sie („google google du!“, „yahoo, du kleine Amazone“). Sie wollen nicht heranziehen, nicht das Kleine anlächeln. Nein, Frankenstein ist der Protagonist fast aller Gedanken.

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

1 Kommentar

  1. Nach dem ersten Lesen dieses Daily Dueck habe ich mich gefragt, ob dieser Beitrag kommentiert werden würde. Mein Bauchgefühl hielt die Wahrscheinlichkeit für eher gering. So entschloss ich mich abzuwarten.

    Was löst diese Sprachlosigkeit aus? Weil es Ihren Worten (gefühlt) nichts mehr hinzu zu fügen gibt? Weil “Frankenstein” Angst auslöst und ggf. an die eigene Hilflosigkeit erinnert? Weil man hofft, es sei vielleicht nicht so schlimm? Weil der Verstand versucht, den Körper vor Missempfindungen zu schützen? Weil eine geschriebene Zustimmung an diesem Ort vielleicht die Befürchtung auslöst, von außen als “Spinner” oder als “zu sensibel” gebrandmarkt zu werden? Oder man glaubt nicht “objektiv” und “rational” genug zu erscheinen?

    Oft möchte ich schreien: “Habt Ihr vergessen, dass Menschen auch subjektiv fühlende Lebewesen sind?” Doch dann ertappe ich mich dabei, wie ich mich einigele und auf bessere Zeiten warte/hoffe.

    Es ist deprimierend diese Seite der Wahrheit wahrzunehmen. Doch Ihr Beitrag macht mir auch ein wenig Mut und Hoffnung. Denn es tut gut, meine eigene Wahrnehmung in Ihren Worten wiederzufinden. Sie (für mich) so treffend in Worte gekleidet vorzufinden. Worte, die ich so bisher selbst nicht “gefunden” habe.