Der Oberschicht-Code

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Die Chancen eines Kindes hängen sehr stark vom Elternhaus ab. Das zeigen alle Statistiken, die danach fragen. Oberschichtkinder schaffen fast alle das Abitur und sehr viele von ihnen studieren. Selbst wenn man vergleicht, wie sich junge Leute nach einem mit gleicher Note bestandenem Studium entwickeln, schneiden Oberschichtkinder viel besser ab. Pfui, schimpfen alle! Gebt den anderen eine Chance! Dazu müsste man aber doch einmal nachdenken, was jeweils richtig oder falsch läuft, oder?

Die Oberschichtkinder haben angeblich ach so irrwitzig viele Verbindungen, sie sind in gegenseitig unterstützenden Zirkeln organisiert, sie kennen Einflussreiche, benehmen sich gewandter, können schön daher reden. Die Eltern vermitteln ihnen gute Arbeitsstellen und kungeln für ihre Kids. Es muss bestimmt einen Oberschicht-Code geben, so könnte man meinen. Dieser Code gibt Zugang, der den anderen verwehrt wird. In meiner Jugend gab es wilde Gerüchte, wonach Personalmanager bei Einstellungen achten würden. Man dürfe keinen Bart tragen (zeigt linke Gesinnung, wenigstens Nonkonformismus) und man werde gefragt, welchen Wein man gerne trinke: „Lieber St. Julien oder St. Estèphe? Wie beurteilen Sie die Unterschiede?“ An solchen kleinen Zeichen wittere man, ob wir für eine Einstellung geeignet wären. Und dann geistert natürlich auch noch eine These aus der Soziolinguistik herum, die schon fünfzig Jahre auf dem Buckel hat, nämlich die Bernsteinhypothese. Sie lautet (aus Wikipedia):

„Die Angehörigen der sozialen Mittel- und Oberschicht einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft verwenden eine Variante der gemeinsamen Einheitssprache, die sich sehr von der Variante der sozialen Unterschicht (Arbeiterklasse) unterscheidet. Die Mittel- und Oberschicht bedienen sich eines elaborierten (formal language), die Unterschicht eines restringierten Codes (public language). Da beide Codes als unterschiedlich leistungsfähig angesehen werden, wird auch ein Unterschied beider Gesellschaftsschichten hinsichtlich ihrer Wahrnehmung und ihres Denkens unterstellt.“

Da wird doch alles klar? Die Oberschichtkinder bekommen bestimmt eine andere Geheimsprache eingetrichtert, mit der man besser denken und arbeiten kann – und die bei der Einstellung ausschlaggebendes Kriterium ist!

Huh, da schüttele ich mich! Ich fürchte, keiner von denen, die da forschen oder so etwas wissen, hat je Einstellungsgespräche geführt oder Bewerbungsakten gelesen (in denen der Beruf des Vaters ja nicht wirklich vorkommt). Bei Einstellungen schaut man hauptsächlich, ob der Bewerber den Eindruck vermittelt, dass er seinen Job eigenverantwortlich locker hinbekommt, ohne dass man als Chef dauernd eingreifen und helfen muss. Und die neuen Mitarbeiter sollen bitte nicht herumzicken und Probleme bei der Arbeit und im Team vernünftig selbst regeln, am besten so, dass gar keine Probleme entstehen oder gar auftreten. Die Arbeit soll einfach wie von selbst laufen! Ja, liebe Leute, wonach stellen Sie denn ein?

Können wir auf dieser Basis einmal nachdenken, warum Oberschichtkinder bevorzugt werden? Der Schlüssel muss doch mehr im Bereich „Teamarbeit, Eigenverantwortlichkeit, Herumzicken, im Ganzen denken und arbeiten, zum Gelingen beitragen“ liegen – oder? Wer in solchen Rubriken im Elternhaus die richtige Haltung beigebracht bekommt, wird bevorzugt – und irgendwo zu Recht, weil diese Arbeitshaltungen zu wesentlich besseren Arbeitsergebnissen führen. Wer aber im Elternhaus nicht diese positive Grundhaltung des Beitragens und Gelingens mitbekam, hat schlechte Karten – zu Recht irgendwie. Das Problem ist doch, wie wir es schaffen, allen Kindern bis zum Schulabschluss diese professionelle Grundhaltung als Prägung mitzugeben. Nichts wäre den Einstellenden lieber, als wenn alle jungen Leute konzentriert am Gelingen interessiert wären, sich selbst verantwortlich kümmern und mit allen Mitmenschen auskommen.

Die positive Einstellung und Haltung zum Leben haben sicher alle „da oben“ und sie fehlt eher „da unten“. Also ist DORT die Baustelle. Das Problem liegt nicht in einem mysteriösen Geheimcode, schon gar nicht in der Kenntnis bester Bordeaux-Lagen.
Nein, es geht einfach um gutes Arbeiten in Berufen der Zukunft. Wer kann an dieser Baustelle arbeiten? Man kann diejenigen Eltern aktivieren und wachrütteln, die sich bisher nicht so stark um ihre Kinder gekümmert haben. Die sagen leider oft: „Dafür ist die Schule da.“ Und dann fühlen sie sich nicht verantwortlich. Die Schule kann im Prinzip zu einer vernünftigen Arbeitseinstellung erziehen, sie sieht aber generell die Eltern in der Pflicht. „Wir erwarten Lernbereitschaft, Neugier, Interesse und Fleiß von unseren Schülern. Diese Grundvoraussetzungen müssen fertig mitgebracht werden.“ Die benachteiligten Schüler aber kommen oft ohne einen Sinn für „Neugier, Interesse und brennendem Lernwunsch“ in den Klassenraum. Genauso werden sie später genau diese Haltungen auch nicht zum ersten Arbeitgeber mitbringen. DAS ist das Problem.

Unser ganzes Verständnis von Erziehung, Persönlichkeitsentwicklung, Mitarbeiterentwicklung, Führung und Ausbildung muss die positive eigenverantwortliche Grundhaltung stärker ins Zentrum rücken. Die neuen Berufe des Wissenszeitalters brauchen nicht mehr vorrangig Arbeitsdrohnen, die im Fließbandtakt funktionieren. Sie brauchen den voll erblühten Menschen. Unsere Schulen aber produzieren tendenziell Funktionsmenschen, die vorgeschriebene und eher dienende Rollen ausfüllen. Das kommt besonders gut in den Kopfnoten der Zeugnisse zum Ausdruck. Die werden immer wieder einmal verändert, aber der Geist der Schule hat immer noch diese Rubriken im Sinn:

•    Betragen
•    Fleiß
•    Mitarbeit
•    Ordnung
•    Zuverlässigkeit/Sorgfalt
•    Sozialverhalten

Diese Wörter sind nicht mehr der richtige „Code“ für die neue Arbeitswelt. Sie sind nicht (mehr) die Zauberwörter für den Menschen, der die besten Chancen hat. Wie wären folgende Kopfnoten in der Schule?

•    Kreativität, Originalität, Sinn für Humor
•    Konstruktiver, freudiger Wille
•    Initiative, die auf andere ausstrahlt
•    Gemeinschaftssinn, der auch andere aktiviert
•    Gewinnendes Erscheinungsbild und Offenheit
•    Ausgewogenes Selbstbewusstsein
•    Vorfreude auf eine gute eigene Zukunft
•    Auch andere inspirierende Neugier
•    Positive Haltung zur Vielfalt des Lebens 
•    Liebende Grundhaltung zu Menschen

Wenn es einen „Code“ gibt, dann könnte es solch einer sein. Und dann sollten wir unser Verständnis von „guten Kindern“ neu ausrichten und nicht immer über Chancenungleichheit jammern nichts tun und paranoide Zugangsbeschränkungstheorien verschwörerisch diskutieren.
Lassen Sie uns Zeichen setzen! Ändern wir die Kopfnoten, die das neue Menschenverständnis ausdrücken! Ich meine wirklich ändern, nicht feige weglassen.

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Veröffentlicht von

www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

17 Kommentare

  1. Wie unterscheiden

    Sie bei der Einstellung zwischen Blendern und Kompetenten? Das zeigt sich meiner Meinung nach erst nach der Probezeit.

  2. D ist gut in der Sozialen Reproduktion

    Die Chancen eines Kindes hängen sehr stark vom Elternhaus ab schreibt Gunter Dueck in einer universellen Bestandsaufnahme. Richtig müsste es heissen: Die Chancen eines deutschen Kindes hängen sehr stark vom Elternhaus ab, denn in Skandinavien ist die soziale Durchlässigkeit wesentlich grösser, wie auch im Wikipedia-Artikel Soziale Reproduktion festgestellt wird:


    Insbesondere die PISA-Studie zeigt, dass im internationalen Vergleich die soziale Durchlässigkeit im deutschen Bildungswesen sehr gering ist. Ein PISA-Ländervergleich von 2003 hat ergeben, dass in Bayern Akademikerkinder gegenüber Facharbeiterkindern bei gleicher Lesekompetenz und Mathematikkompetenz eine knapp 7-fach höhere Chance eines Gymnasialbesuchs hat

    Ob man das einfach durch eine andere Notengebung ändern kann, wie von Günter Dück ausgedacht, bezweifle ich. Warum es solch deutliche Unterschiede in der sozialen Durchlässigkeit zwischen Deutschland und Skandinavien gibt, ist mir nicht ganz klar. Klar ist nur, dass in Deutschland selbst immer wieder das Schulsystem dafür verantwortlich gemacht wird.

  3. Zu kurz gesprungen

    Sorry, aber das stimmt so nicht. Es ist zum einen tatsächlich so, dass Kinder der Mittelschicht anders sprechen als Kinder aus der Unterschicht: größerer Wortschatz, gewandterer Ausdruck usw. Was der Autor im ersten Teil beschreibt nennt man auch klassenspeziifischen Habitus, nachzulesen etwa bei Michael Hartmann http://www.bpb.de/…0,Eliten_in_Deutschland.html.
    Oder profan Stallgeruch
    Außerdem werden meines Wissens nach rund 80 Prozent aller Stellen nicht über Bewerbungen, sondern über Kontakte vergeben, die Zahl habe ich von jemandem in der Arbeitsagentur, der sich auskennt. Und wer hat bessere Kontakte sagen wir zur Justizcommunity als ein Anwalt, ein Richter etc.?

    Im übrigen wehre ich mich gegen die unterstellung, meine Klasse wäre nicht leistungswillig, kreativ oder sonstwas. Solche Dinge an der Schichtherkunft festzumachen ist Nonsens. Mag sein, das Dück bevorzugt Leute aus der oberen Schicht einstellt, weil er glaubt, dem sei so, aber dann ist er auf mindestens einem Auge blind. Warum wehrt sich sonst die deutsche Wirtschaft so hartnäckig gegen anonyme Bewerbungen?

  4. Elterninteresse

    Als Vater von zwei schulpflichtigen Kindern und ehemaligem Elternbeirat kann ich dem grundsätzlich zustimmen. Der Schulerfolg hängt deutlich vom Elterhaus ab.
    Nicht allerdings von dessen finanzieller Situation, wie oft behauptet wird, sondern von dem jeweiligen Erziehungs-Engagement.
    In der hiesigen Grundschule (Bayern) hat sich das gut beobachten lassen: in Klassen mit rund 25 Kindern schaffen regelmäßig ziemlich genau ein Drittel den Übertritt zum Gymnasium. Im Jahrgang meines Sohnes gab es eine Besonderheit: In einer von fünf Parallelklassen waren fast ausnahmslos Kindern von Eltern konzentriert, die uns durch Ehrenämter und Engagements in diversen Vereinen bekannt waren. Purer Zufall aber hier schafften es nur drei Kinder NICHT aufs Gymnasium!
    An Elternsprechtagen beklagen Lehrer regelmäßig, dass gerade die Eltern von Schülern mit schlechten Noten am seltensten anzutreffen sind. Diese und deren Kinder trifft man auch sonst selten. Nicht in der (kostenlosen) Bibliothek, nicht im (für Kinder kostenlosen) lokalen Museum, nicht im Sportverein etc.
    Das ist eine Frage des Interesses, nicht des Geldbeutels.

    Ich erinnere mich, vor Jahren eine Studie gelesen zu haben nach welcher sich 17% aller Kinder von Eltern die beide berufstätig sind, vernachlässigt fühlen, aber 33% der Kinder in Haushalten mit arbeitslosen Eltern. D.h. die Eltern, die prinzipiell weniger Zeit haben, nehmen sich trotzdem mehr davon für ihre Kinder.
    Was spricht denn dagegen, dass auch in einem Hartz IV-Haushalt Hausaufgaben kontrolliert werden, Vokabeln abgehört, gemeinsam Mahlzeiten eingenommen, Schulranzen gepackt…?

  5. Schule?

    Es geht doch nicht so sehr um die Schule. In der Schule verlernen die Kinder eher das, was sie mal können sollten. Reines Faktenwissen reicht längst nicht mehr und gerade darum ist das Elternhaus heute umso wichtiger. Wenn man noch die frühkindliche Entwicklung beachtet, versinkt das heutige Schulsystem vollends in der Irrelevanz.

  6. Die Meinung der Herrschenden

    Ja, so sieht man in der Oberschicht, zumindest da, wo sie ihr Personal einstellt, die Welt: Die Sicht ist hochgradig naiv, aber tauglich, den, der sie hat, mit einem guten Gewissen auszustatten und alles weiterhin so funktionieren zu lassen wie bisher. Ich dachte, ich wäre im Alter wie üblich konservativ geworden. Aber wenn ich so etwas lese, bin ich in Versuchung, wieder die Parolen meiner Jugend rauszukramen.

  7. Ich schließe mich Tomasius an…

    …und verbitte mir die Unterstellung, dass es uns Leuten aus der “sozialen Unterschicht” generell an Neugier, Interesse und Lernwunsch fehlt. Ihr Artikel hat den Beigeschmack, dass Arbeiterkinder generell schon geistig minderbemittelt auf die Schule losgelassen werden, während der Nachwuchs der Oberschicht allerlei gesunde Eigenschaften mit sich bringt, die einen erfolgreichen Lebensweg kennzeichnen. Ich gehe davon aus, dass Sie zur Oberschicht gehören… Aber die von Ihnen gewünschten Charaktereigenschaften sind mindestens ebenso selten bei Oberschichtenkindern festzustellen, v. a. bei denen, die von ihren wohlhabenden Eltern gelernt haben, dass ihnen sowieso alles zufliegt und sie es nicht nötig haben, sich für irgendetwas zu bemühen.

    Ich habe Eltern, die keine erwähnenswerte Schulbildung genossen haben. Sie konnten mich bereits nach der Grundschule nicht mehr unterstützten bei den Hausaufgaben, da das Wissen fehlte. Nachhilfeunterricht war zu meiner Zeit noch nicht gang und gebe, und man hätte es sich sowieso nicht leisten können. Trotzdem waren und sind sie die anständigsten, ehrlichsten und fleißigsten Menschen, die ich kenne, und sie haben ihre Kinder zu rechtschaffenen, höflichen, rücksichtsvollen und bescheidenen Menschen erzogen. Allein, es wurde nie erwartet, dass der Nachwuchs eine große Karriere anstrebt, denn man war ja schon im Kleinen zufrieden und kannte es nicht anders. Man war damit zufrieden, dass man eine ordentliche Arbeit und genug zu essen auf dem Tisch hatte. Dafür muss man nunmal keine akademische Karriere anstreben. Als ich trotz exzellenter Noten nicht aufs Gymnasium wollte, wurde ich nicht gezwungen. Ein Fehler meiner Eltern? Vielleicht, dann hätte ich jetzt einen sauberen Lebenslauf ohne Umweg gehabt, doch man wollte das Kind zu nichts zwingen.

    Trotzdem habe ich aus eigenem Antrieb gute Noten geschrieben, habe nach der Realschule eine solide, anspruchsvolle Berufsausbildung abgeschlossen, etwas Geld verdient und dann nochmal das Abitur nachgemacht, um studieren zu können. Mittlerweile habe ich die Universität abgeschlossen. Bereits in der Universität habe ich festgestellt: Man hat es definitiv als Kind der Mittel- oder gar Oberschicht leichter! Keine Geldsorgen, die Möglichkeit, unbezahlte Praktika zu machen in allen Teilen der Welt, wo man dann schon die richtigen Kontakte für die weitere Karriere knüpft,… Als die Studiengebühren eingeführt wurden, verzweifelten die wenigen Arbeiterkinder, die ich an der Uni antraf (meine Wenigkeit inklusive!), während die anderen Studenten nur gleichgültig mit der Schulter zuckten, das Geld ginge ja eh vom Konto der Eltern ab und denen seien 90 € mehr im Monat auch egal. 90 € im Monat – eine lachhafte Summe für Menschen wie Sie, eine Katastrophe für junge Menschen ohne (nennenswertes) Einkommen und finanziellen Rückhalt, die sich eigentlich auf die Uni konzentrieren sollten und das Geld nun zusätzlich erwirtschaften müssen.

    Nun bin ich schon seit einem Jahr in der unerfreulichen Situation, keine Arbeitsstelle zu finden, und nein, ich bin weder unterqualifiziert noch unflexibel und bewerbe mich in ganz Deutschland auf allerlei Stellen, teils unter meinem Niveau, teils über meinem Nivau, teils erfülle ich das Anforderungsprofil zu 100% – alles dabei. Natürlich, WENN man es denn mal geschafft hat, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, hat man – so denke ich naiverweise – die gleichen Chancen vor dem Personaler wie jemand aus einer anderen Gesellschaftsschicht. Allein, trotz zwei berufsqualifizierender Abschlüsse wurde ich noch kein einziges Mal eingeladen innerhalb eines Jahres. Wenn man mal von einer 50%-Stelle im Büro meines ehemaligen Professors absieht, die dann aber doch eine Freundin von ihm bekam… Das Zauberwort heißt “Vitamin B”. Ohne läuft am deutschen Arbeitsmarkt so gut wie gar nichts mehr. Ich frage mich, wie es in diesem schönen Land dazu kommen konnte? Und solche Kontakte fehlen Arbeiterkindern nunmal aus den o. g. Gründen häufiger als Kindern, deren Eltern im akademischen Bereich tätig sind und dementsprechend Leute kennen. Dieses Geklüngel ist nunmal nicht von der Hand zu weisen, da ich mich hier nicht nur auf meine eigene Erfahrung stütze, sondern dies regelmäßig von allen Seiten bestätigt bekomme, sowohl von Arbeitssuchenden als auch von Personalern! Immerhin – man kann auch aus der Oberschicht stammen, so sehr man will, aber ohne Kontakte geht trotzdem nichts. Wie es in anderen Ländern ist, vermag ich nicht zu beurteilen, aber in Deutschland ist es wirklich mittlerweile extrem schlimm geworden mit dem Vergeben von Stellen unter der Hand. Da fragt man sich, wozu man sich so abgerackert hat, um einen guten Abschluss zu machen…

    Trauriges Fazit: Hätte ich einfach ab 16 in einem Ausbildungsberuf gearbeitet, hätte ich nun fast mein halbes Leben Geld verdiene und schon ein ordentliches Sümmchen bei Seite gelegt. Stattdessen strebte ich nach Höherem, und nun schlage ich mich nach dem Studium mit Hilfsjobs durch und habe Schulden, da ich mir ohne einen Kredit das Studium nicht hätte leisten können. Wenn man es so sieht – ja, wieso habe ich mich eigentlich so angestrengt?

    Verzeihen Sie mir diesen halben Roman, aber um es mal in der Sprache meiner unteren Schicht zu sagen: Es kotzt mich an, dass Leute aus der oberen Schicht davon ausgehen, dass “wir” generell träge und unterbelichtet sind und keinerlei Interesse an Bildung haben. Oder dass unsere Eltern kein Interesse an uns und unserem Lebensweg haben. Es mag sein, dass dies in größerem Maße in unserer Schicht auftritt als in Ihrer, aber es liegt nicht immer nur an der Herkunft, sondern auch am Ist-Zustand der Gesellschaft. Kinder und Jugendliche sind nicht blöde und kriegen ganz genau mit, was um sie herum geschieht. Und wenn ihnen von Vornherein eingeprügelt wird, dass sie dank ihrer Herkunft sowieso keine Chance im Leben haben, wundert es mich nicht, dass sie aufgeben und auch von Anderen aufgegeben werden.

  8. @Ellen

    Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der obige Artikel unwürdig ist, in scilogs veröffentlicht zu werden.

  9. Definiere!

    Ich glaube, dass oftmals auch von ganz falschen Definitionen ausgegangen wird. In meinem Umfeld waren es gerade die Kinder von Handwerkern, die in ihrem Job sehr weit gekommen sind. Der Vater Mechaniker, die Mutter Hausfrau und Sohnemann wird dennoch (oder gerade deshalb) Manager in einem Pharmakonzern? Nun, ich gehe nicht davon aus, dass er aus der Unterschicht entstammt, sondern aus der Mittelschicht. Zumindest aus der sozialen Mittelschicht und das ist in diesem Zusammenhang doch das Wichtigste. Denken sie bei “Unterschicht” bitte doch lieber mal wirklich an jene, die seit frühester Kindheit ein verpatztes Leben haben (schlechte Ernährung, wenig Zuwendung, Gewalt, usw). Das ist unsere Unterschicht und davon gibt es leider Millionen.
    Vetternwirtschaft gibt es natürlich, aber nicht in dem Ausmaß, in dem es landläufig angenommen wird. So bekommen sie nämlich nie und nimmer die 90 tsd. Mitarbeiter zusammen, die heute große Unternehmen so haben. Es ist ein geringer Anteil, vielleicht 10% und da auch nur in der absoluten Oberoberschicht des Topmanagements oder in Politik-nahmen Bereichen (da überall).
    Vielleicht sollte man auch nicht, wie ich schon schrieb, sich so stark auf die Ausbildung konzentrieren. Gute Bewerbungsgespräche fangen meines Erachtens so an: “Welche Projekte haben sie in letzter Zeit betreut und was haben sie dazu zu sagen?”.
    Was man bei Vetternwirtschaft nie vergessen sollte: Wer viele Freunde hat, hat auch viele Feinde.

  10. @ Ch.

    Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der obige Artikel unwürdig ist, in scilogs veröffentlicht zu werden.

    Wenn man sonst nicht zu sagen hat, dann kommt wohl so etwas. Viel lieber lese ich solche Kommentare von Ellen.

  11. @Ellen

    Wen ich mir überlege wie händeringend bei uns Ingenieure und Facharbeiter gesucht werden…
    Ja, da wird Vitamin B auch benutzt, aber dazu um auch an Kandidaten ranzukommen, die auf dem üblichen Weg (Annoncen, Arbeitsamt etc.) nicht zu bekommen waren, denn diese Wege reichen oft nicht aus, den Bedarf zu decken.

  12. Studiengebühren @Ellen

    Ich muss Ellen in einigen Punkten widersprechen.

    Ich komme aus einem nicht-Akademiker Elternhaus. Beide sind berufstätig in soliden Positionen innerhalb (ich nenne es mal so) des Mittelbaus.

    Studiengebühren (in meinem Fall in NRW) haben ganz besonders die Studierenden aus der Mittelschicht getroffen. Denn das sind diejenigen, die regelmäßig keinen Anspruch auf BAFöG haben, aber trotzdem das Geld nicht mal eben so ausgeben können.
    Bei Eltern mit geringen Einkommen steht im Falle des BAFöG-Höchstsatzes ein stattliches Einkommen zur Verfügung, dass durch verschiedene andere Vorteile (GEZ-Befreiung, günstiges Darlehen für Studienkredite) ergänzt wird.

    Meine Eltern haben mich immer unterstützt aber ihre Mittel sind auch begrenzt gewesen. Der Nebenjob ist selbstverständlich.

    Ich sage nicht, dass es einfach ist. Ich sage auch nicht, dass es alle schaffen werden. Aber in D hat man, was das Studium angeht, allerbeste Möglichkeiten.

    Ich kenne es auch anders. Zur Zeit bin ich in den USA an einer staatl. Uniniversität. HIER spielt die Herkunft TATSÄCHLICH die Entscheidende Rolle. Denn hier kann auch der letzte Idiot studieren, wenn die Eltern genug Kohle haben oder man besonders gut mit einem Ei in der Hand andere Leute umrennen kann.

    Ich bin an diese Stelle (Gradstudent) nicht durch Kungelei heran gekommen. Meine Herkunft hat keinen Interessiert. Gefragt hat man mich nach Fähigkeiten und Leistung.

    Eingestellt wurde ich nach einem persönlichen Treffen. Meinen Lebenslauf hat sich der Chef gar nicht angesehen.

    Und genau diese Einstellung habe ich zumindest im Naturwissenschaftlichen Bereich auch an deutschen Unis so kennen gelernt.

    Wer Einsatz zeigt – gerne auch mal außerhalb des Curriculums – hat besten Chancen.

  13. Stallgeruch

    Es ist aber wirklich der Stallgeruch, nach dem entschieden wird.
    Ich habe eine Bekannte, die trägt als promovierte Biologin Zeitungen aus! Sie hat diesen Job nur deshalb angenommen, weil die Arbeitsagentur sie unter Druck gesetzt hat. Als Hochqualifizierte sollte es nach Meinung der Agentur problemlos möglich sein, einen Job zu finden.
    Ich hatte früher auf meine Bewerbungen häufig die Antwort bekommen, daß ich für den Job überqualifiziert sei!

    Meine Reaktion darauf war, daß ich mich selbständig gemacht habe. Als Chef hatte ich übrigens mit Menschen, die keine Einser waren und aus deren Eltern keine Akademiker waren, sehr gute Erfahrungen gemacht. Meiner Ansicht nach werden heute bei den Einstellungen vor allem Risiken begrenzt. Bei jemanden der aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht kommt, kann man eben die Leistungsfähigkeit leichter einschätzen – bwz. man glaubt es. Es ist nun mal so, daß der Habitus von Arbeitern und Bürgern des Großbürgertums sich für Eingeweihte deutlich unterscheidet. Warum wohl kommen der größte Teil der Spitzenmanager in Deutschland aus einer kleinen Schicht?

    Ellen kann ich nur empfehlen, sich selbständig zu machen. Das mag zwar erst ein großes Risiko sein, aber so ist es leichter, andere Menschen von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Ich habe beispielsweise studiert, aber keinen Abschluß. Wenn ich Aufträge erhalte, fragt mich keiner meiner Kunden nach meinem Studium, ihnen reichen meine Referenzen. Mein Tip also: “Gründe eine Firma, schaffe dir Referenzen, tritt professionell auf und mache einfach einen guten Job”. Vergiß das sichere Angestelltenverhältnis!

  14. Danke!

    Gerade als Kind aus dem Kinderheim, das dennoch studiert hat und “da oben angekommen” ist, empfinde ich Ihre Meinung als befreiend.

    Es gibt Nichts, was diejenigen mehr demotiviert, die die von Ihnen aufgezählten Eigenschaften vom Elternhaus/Pflegeelternhaus mitbekommen haben.

    Leider kann das Schule nicht vermitteln, die Gesellschaft müsste aber daran arbeiten, dass auch Kinder aus prekären Schichten Zugang zu Mentoren erhalten, die ihnen diese Geisteshaltung vermitteln, Vorbild sind.

    Schule kann das leider nicht leisten und auch keine Kindekrippe. Wer könnte das also?