Agile Erziehung oder The Agile Education Manifesto

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Agil muss heute alles sein! Wenn Sie in der IT arbeiten, kennen Sie ja den ganzen Rummel, der immer höhere Wellen schlägt. Im Jahre 2001 schlugen Software-Entwickler das heute weltbekannte „Agile Manifesto“ an die Wand – wie Luther seine Thesen. Viele unterzeichneten das Manifest und in der Folge entstanden neue Softwareentwicklungsmethoden, die nicht mehr so starr und unbeweglich waren, dass man oft denken konnte, die Projektentwicklungsdokumentation wäre wichtiger als das Ergebnis des Projektes selbst. Sie kennen bestimmt die unsäglichen „Programme“ zur Fortbildung, Geschlechtergleichheit, Sicherheitsbelehrung oder zum Feuerschutz. Die „Ausbilder“ erklären uns lustlos die jeweils neuen Konventionen und sind dann aber nach dem Kurs hinter uns her: „Laufen Sie nicht weg. Sie müssen Ihre Teilnahme unterschreiben. Ohne Dokumentation gilt es nicht.“ Dann, wenn sie alle Unterschriften geerntet haben, leuchten endlich ihre Augen: Das Programm ist „erfolgreich gewesen“. Die Partizipationsquote lag über xy Prozent – höher als erwartet! Wundervoll! Schulterklopfen! Ob all die Leute überhaupt etwas gelernt oder mitgenommen haben, ist anscheinend zweitrangig.
Das will die agile Mission eben nicht – bitte andersherum! Hier der Wortlaut von der Seite agilemanifesto.org, auf der Sie den Text in allen Sprachen finden können, mit den Namen vieler Unterzeichner.

 

Manifest für Agile Softwareentwicklung

 

Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln,
indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen.
Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:

 

Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung
Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans

 

Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden,
schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.

 

Könnten wir das für die Erziehung nicht auch einmal proklamieren? Dass es ja schön und gut ist, Klasse für Klasse versetzt zu werden, eine Abiturdokumentation in der Hand zu halten und damit Berechtigungen für das weitere Leben zu erhalten – dass es aber doch eigentlich darum ging, eine gebildete Persönlichkeit zu entwickeln, die mit einem starken Selbst und großem Herz ins Leben tritt?

Ich schlage für 2016 an die Wand:

 

Manifest für Agile Erziehung

 

Wir erschließen bessere Wege, Menschen zu entwickeln,
indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen.
Während dieser Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:

 

Individuelle Menschenentwicklung über Versetzung nach Standardstufen und Klassen

Aktivierung von Selbstwirksamkeitsgefühl über Prüfungs- und Zeugnisdokumentation

Folgen von gewecktem Interesse über Befolgung von Lehrplänen

Zukunftsfähigkeit der Bildung über Bewahren klassischer Vorstellungen

 

Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden,
schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.

 

Den Abspann lasse ich so. Er soll versöhnlich klingen, überhaupt ist alles versöhnlich gemeint. Es geht der Agilen Erziehung nicht darum, andere Methoden zu propagieren, sondern die jungen Menschen besser zu entwickeln. Das Ergebnis soll stärker in den Vordergrund treten.

So würde ich es selbst unterschreiben. Sie auch? Es müsste ein Internet-Tool geben, wo man sich eintragen kann…

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Veröffentlicht von

www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

14 Kommentare

  1. Hallo Gunter Dueck
    Vorweg: es gibt genügend Seiten, wo man Petitionen zum unterschreiben verbreiten kann.

    Nein, ich würde nicht unterschreiben.
    Mir gefällt die prinzipielle Gleichsetzung von Software und Menschen/Kindern nicht.

    Agile Softwareentwicklung will effektiver Software entwickeln. Okay.
    Die Forderung, auch die Kinder effektiver zu entwickeln – an die Bedingungen insbesondere unseres Wirtschaftssystem anzupassen – sind alt.

    Dies als eine Errungenschaft darzustellen, scheint mir unangemessen. Die von Ihnen genannten Punkte sind doch längst im Kanon der Pädagogik angekommen.

    ‘Bewahren von alten Vorstellungen’ ist einfach ein Anachronismus

    Soweit mein erster spontaner Einfall zu Ihrer Anfrage

    Viele Grüße

    Ingo D

  2. Auch wenn’s Off-Topic ist: so rosig ist das Agile Manifesto nicht:

    “Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation”
    …ist für viele Entwickler eine Ausrede, um unsäglich schlechten Code zu fabrizieren (“hauptsache, läuft!”).
    Guter Code erklärt sich selbst, keine Frage, man muss auch nicht Banalitäten, wie z.B. Getter oder Setter dokumentieren; Dokumentation ist aber trotzdem wichtig, insbesondere, um die Idee hinter einem Lösungsansatz zu erklären, oder um schwer zu lesende Bereiche zu erklären.
    Gerade in kleineren/mittelständischen Betrieben habe ich die Feststellung gemacht, dass fehlende Dokumentation dazu führt, dass sich jemand seinen Posten sichert, weil niemand sonst in angemessener Zeit Einblick in die Funktionsweise eines Codes bekommt.

    “Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans”
    Ohne Pflichtenheft geht gar nichts mehr. “Können Sie mal schnell…”, “kann man hier nicht einfach…” und so weiter sind Garanten dafür, dass man ruck zuck eine Menge Baustellen im Programm hat und die Kalkulation/das Budget überschreitet.

    “Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge”
    Es gibt Prozesse, insbesondere auch Werkzeuge, die ziehe ich der Interaktion mit gewissen Individuen eindeutig vor (aber das ist was ganz persönliches).

    “Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung”
    Scrum ist ein gutes Werkzeug.

  3. Besondere “Agility” mag Sinn machen, wenn in (bevorzugt: kleineren) Unternehmen Software entwickelt und gepflegt (“weiterentwickelt”) wird, wenn wirtschaftliche Not sozusagen bestimmend wird.

    Für hoch-qualitative Software, die als sogenannte Standard-Software unternehmens-übergreifend eingesetzt wird, kann dieser Ansatz nicht funktionieren und nur den unternehmerischen Exitus bedeuten.

    Den pädagogischen Vergleich fand der Schreiber dieser Zeilen jetzt nicht so-o gut.

    MFG
    Dr. W

    • ‘Besondere “Agility” mag Sinn machen, wenn in (bevorzugt: kleineren) Unternehmen Software entwickelt

      , kann dieser Ansatz nicht funktionieren und nur den unternehmerischen Exitus bedeuten.’

      So pauschal kann man das nicht sagen. Auch in grossen Unternehmen funktionieren agile Methoden sehr gut, wie z.B. Scrum. Dort gibt es oft auch jemanden, der “auf Zuruf” Erweiterungen schreibt, ausserhalb eines Teams. Wichtig sind Coding Conventions und gegenseitige Revision. Bei einem früheren Arbeitgeber *musste* man in der ersten Stunde morgens den Code der Kollegen, der am Vortag eingecheckt wurde, lesen und ggf. optimieren. In dieser Firma gab es wenig Dokumentation, dafür aber Coding Conventions, alles ging auf Zuruf. Ich habe seither nicht mehr so ein gut funktionierendes und leicht zu lesendes ERP/CRM System gesehen. Was wohl auch daran lag, dass alle Entscheidungen über das technische Design das Ergebnis von Beratung innerhalb Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung waren (es gab keine Freelancer, alle waren fest angestellt).

      • @ Herr Ellmann :

        Vielen Dank für Ihre Einschätzung! – Sicherlich ist Ihr Kommentatorenfreund hier ein wenig Old School, wenn er “Hey Joe!”-Software-Entwicklung dort, wo qualitativ hochwertige Software, gar sogenannte Standardsoftware entstehen soll, verdammt.
        Hoch dynamische Anforderungslagen sind im genannten Bereich jedenfalls schwer zu bearbeiten, zumal ja immer auch zeitnah umgesetzt werden soll, aber wenn Sie schreiben, dass Sie hier brauchbar gute Erfahrungen gemacht haben, wird dies gerne zur Kenntnis genommen.
        Ischt auf jeden Fall spannend, moderne webbasierte Anwendungsumgebungen laden ja auch heutzutage zum fortgesetzten Tüfteln am Front- wie am Back-End sozusagen ein.

        MFG
        Dr. Webbaer

        • “Sicherlich ist Ihr Kommentatorenfreund hier ein wenig Old School, wenn er “Hey Joe!”-Software-Entwicklung”

          Ich stehe ernsthaft auf dem Schlauch: Wen meinen Sie mit ‘Kommentatorenfreund’ und was meinen Sie mit ‘Hey-Joe-Softwareentwicklung’?

          • @ Herr Ellmann :

            Das eine versucht das Personalpronomen der ersten Person Singular zu meiden, das andere meint scherzhaft besonders dynamische Anforderungslagen, denen folgend Software-Entwicklung tatsächlich auf Zuruf erfolgt – so wie oft in der Autoreparatur-Werkstatt.

            MFG
            Dr, Webbaer

  4. Bitte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Bitte keine zukunftsfähigen Experten ausbilden, die zwar Python und PHP beherrschen, aber kein Verständnis von Geschichte, Religion, Literatur oder Philosophie mitbringen. Wir brauchen politische Bürger, keine Techniksklaven.

    • Ganz sicher brauchen wir keine politischen Bürger.

      Das Problem der Überpolitisierung in den neunzigern und nuller Jahre ist dir wohl nicht aufgefallen?
      Es begann wohl mit der populistischen Ausbildungsinitiative und ging dann mit den ganzen Reformen und Arbeitsförderungsgesetzen weiter.

      Dabei ist zwar das Subjekt gar nicht angesprochen worden – hat aber gemerkt, dass es um es selbst ging, aber nicht gefragt wurde. Das war der Auslöser für eine subtil politisierte Generation.

      Das heisst, dass die Politisierung von allein vonstatten geht – nämlich dann, wenn man über deren Köpfe hinweg deren Leben und Zukunft zu bauen pflegt.

      Jetzt könnte man es so machen:
      Indem man Politisierungsbestrebungen über eine Generation ergehen lässt, wird dieselbe dann eben gerade nicht “politisch”. Weil sie davon genervt sein wird.

      Somit wäre dein Plan in die Hose gegangen. Was wäre damit gewonnen? Eben…

    • Sätze wie diese – ‘Agile to me is really just a form of mob rule. The majority of people in the field, consisting primarily of undisciplined programmers and non-technical managers, have legitimized themselves by simply putting a name on what they already just happen to prefer to do.’ – kommen hier natürlich gut an.
      Auch, weil es so gelernt worden ist.
      Etymologisch stehen hier das ‘Goal’ (vgl. auch ‘geil’) und eben die Agilitas (“Beweglichkeit”, kommt von ‘agere’, das ‘Handeln’ oder ‘Tun’ sind gemeint) im Hintergrund.

      Das Planen, und darum geht es hier nicht nur hintergründig, die Projektionsfläche “Software-Entwicklung” kann natürlich nicht durch Tageseinfälle (von Managern oder anderen) entscheidend beeinflusst werden, wie gemeint werden könnte.

      Oder vielleicht doch, wirtschaftlicher Notwendigkeit geschuldet, es gibt hier eine Ambiguität, die es zu verwalten gilt.
      Software bzw. die Entwicklung derselben dient immer Vorhaben, die sozialer Art sind, Geschäftsmodellen folgend.
      Langfristigkeit und Nachhaltigkeit haben vor diesem Hintergrund immer mit Mittelfristigkeit und gar Kurzfristigkeit zu konkurrieren.
      Entscheidend ist immer die Verständigkeit und generelle ‘Manifest[e] für Agile Softwareentwicklung’ kann es eigentlich nicht geben.

      MFG
      Dr. Webbaer

  5. Gunter Dueck schrieb (20. Januar 2016):
    > Wir erschließen bessere Wege […]

    Wir erschließen bessere Wege, Wissen zu sammeln und weiterzugeben,
    indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen.
    Durch diese Tätigkeit haben wir bestimmte Werte mehr zu schätzen gelernt als andere:

    Individualisierbarkeit der Darstellung mehr als Konsensus,
    Nachvollziehbarkeit durch inneren Zusammenhang mehr als durch äußere Quellen,
    Zugang zur Gesamtheit des Wissens mehr als wahlweise thematische Gliederung,
    Mehrung des Wissens mehr als dessen wahlweise Konsolidierung.
    Was Wikipedia noch nicht sein konnte mehr als was Wikipedia nicht gewesen sein soll.

    (Schön, dass zumindest einige SciLogs die Anregung und die Möglichkeit geben, wenn auch bislang leider immer noch ohne ausdrückliche Vorschau, Manifeste manifest werden zu lassen … )