Zurück vor den Urknall (Buchrezension)

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Urlaubszeit, Lesezeit – letzteres in diesem Jahr dank der gut ausgestatteten Inselbücherei in Wyk auf Föhr, wo ich die Gelegenheit genutzt und ein paar Bücher zur Hand genommen habe, die ich immer schon einmal hatte lesen wollen. Zu Ernst Peter Fischers “Die andere Bildung”, einem dieser Bücher, hatte ich ja bereits im letzten Eintrag etwas geschrieben.

Ein weiteres Buch war Martin Bojowalds “Zurück vor den Urknall. Die ganze Geschichte des Universums”, erschienen 2008 im Verlag S. Fischer. Martin kenne ich, weil wir zur gleichen Zeit am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, dem Albert-Einstein-Institut in Potsdam waren. Auch für Einstein Online hat er damals zwei Beiträge über seine Arbeit geschrieben: Den Urknall überspringen und Die gebändigte Dichte. Entsprechend habe ich natürlich aufgehorcht, als ich mitbekam, dass er ein allgemeinverständliches Buch über seine Arbeit veröffentlicht hat, zudem ein offenbar durchaus erfolgreiches. Jetzt bin ich auch dazu gekommen, das Buch zu lesen (anders gesagt: dies war offenbar seit 2008 mein erster Urlaub mit einer öffentlichen Bücherhalle in Reichweite).

Wie eine Theorie der Quantengravitation aussieht, die Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie (die beste Gravitationstheorie, die wir haben) mit der Quantentheorie verbindet (der besten Theorie für das Reich der Atome und noch kleinerer Größenskalen, die wir haben), ist seit mittlerweile mehr als 60 Jahren eine der großen offenen Fragen der Physik. Eine große Schwierigkeit liegt darin, dass diejenigen Regionen, in denen Quantengravitationseffekte zu erwarten sind, weit jenseits unseres direkten experimentellen Zugriffs liegen: Für die frühesten Momente der Urknallphase und die innersten Bereiche Schwarzer Löcher sollten derartige Effekte eine Rolle spielen; in weniger extremen Situationen ist zu erwarten, dass ihr Einfluss und dass die Abweichung von der “klassischen” (sprich: Quanteneffekte vernachlässigenden) Allgemeinen Relativitätstheorie unmessbar klein ist.

Die verschiedenen Ansätze, eine Theorie der Quantengravitation zu entwickeln, haben daher leider keine so deutlichen experimentellen Leitplanken wie z.B. bei der Entwicklung der Quantentheorie selbst. Sie müssen sich daher bislang vor allem entlang der theoretischen Rahmenbedingungen hangeln: Wir wissen, dass Quantentheorie und Allgemeine Relativitätstheorie jeweils in ihrem Zuständigkeitsgebiet (die Quantentheorie, wie gesagt, beim sehr Kleinen; die Allgemeine Relativitätstheorie in Bereichen starker Gravitation) sehr gut mit den Beobachtungen und Messungen übereinstimmen. Eine erfolgreiche Theorie der Quantengravitation sollte diese beiden Teiltheorien also tunlichst als Grenzfälle enthalten. Bereits das stellt eine beachtliche Einschränkung dar; bereits an dieser Aufgabe kann eine Kandidatentheorie der Quantengravitation spektakulär scheitern.

Je nach den Vorhersagen der verschiedenen Kandidaten für die Quantengravitation könnte es darüber hinaus übrigens durchaus Möglichkeiten für indirekte Tests geben. Subtile Muster in der kosmischen Hintergrundstrahlung, des “Nachhalls” der Urknallphase, wie sie vom Planck-Satelliten oder Nachfolgemissionen nachgewiesen werden könnten, sind eine Möglichkeit dafür. Dass sich hochenergetisches Licht aus fernen Regionen des Kosmos etwas anders fortpflanzt, als von der Allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagt, wäre eine andere Möglichkeit für einen indirekten Nachweis (hier eine ganz aktuelle Meldung dazu); auch nach diesem Effekt ist, motiviert durch die Schleifen-Quantengravitation, die uns gleich noch begegnen wird, gesucht worden.

Bislang gibt es allerdings keine experimentellen Befunde, die einen der Kandidaten für eine Theorie der Quantengravitation deutlich vor den anderen auszeichnen würden. Welchem Ansatz man als Wissenschaftler nachgeht, ist daher vor allem eine Frage der persönlichen Einschätzung – welche Eigenschaften einer Kandidatentheorie findet man besonders wichtig? Welchen Ansatz erachtet man, davon ausgehend, für besonders vielversprechend?

Die wissenschaftliche Entsprechung der “Abstimmung mit den Füßen” ist bei den an der Forschung zur Quantengravitation Beteiligten die “Abstimmung mit der investierten Arbeitszeit” – derjenige Ansatz, den man für besonders vielversprechend hält, wird dann auch derjenige sein, den man selbst weiterverfolgt. Gewinner dieser Abstimmung ist derzeit mit größerem Abstand die Stringtheorie. Dieser Ansatz erweitert die übliche Quantentheorie punktartiger Elementarteilchen zu einer Quantentheorie winziger, schwingender Fädchen. So lassen sich Probleme lösen, die auftreten, wenn man die Gravitation in der gleichen Weise in eine Quantentheorie zu überführen versucht, wie es die Teilchenphysiker bereits mit mit den anderen Grundkräften der modernen Physik (Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft) getan haben. Wissenschaftler, die von der Teilchenphysik aus zur Quantengravitation kommen, landen typischerweise bei der Stringtheorie.

Auf Platz zwei der Beliebtheitsskala liegt die Schleifen-Quantengravitation. Ihr Ansatz besteht darin, ausgehend von einer bestimmten geometrischen Umformulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie Regeln für den Übergang zu einer Quantentheorie anzuwenden. Wissenschaftler, die von der Geometrie der Allgemeinen Relativitätstheorie zum Forschungsgebiet Quantengravitation kommen, landen typischerweise bei der Schleifen-Quantengravitation.

Eine Reihe weiterer Ansätze, die freilich von jeweils deutlich weniger Wissenschaftlern verfolgt werden (z.T. nur einer Handvoll!), runden das Bild ab. Die Vertreter der unterschiedlichen Ansätze tauschen sich dabei vornehmlich untereinander aus; Gespräche über die Ansatzgrenzen hinweg sind vergleichsweise selten. Die Gruppe von Hermann Nicolai am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, in der ich (im Dunstkreis der Stringtheorie) meinen Doktor habe und in der zwischenzeitlich auch Bojowald gearbeitet hat, war in dieser Hinsicht eher ungewöhnlich – dort gab es zum einen Kollegen, die direkt an der Stringtheorie arbeiteten, andererseits eine starke Schleifen-Quantengravitationsgruppe und immer einmal wieder Postdocs, die einen der anderen Ansätze verfolgten. Eine gesunde Vielfalt, für die aber einiges zusammenkommen muss – in diesem Falle das gute Forschungsumfeld, wie es ein Max-Planck-Institut bieten kann, und ein Direktor, der das Nebeneinander der unterschiedlichen Ansätze bewusst fördert.

Quantengravitation als fundamentale Frage mit direktem Draht zum Urknall und zu den Schwarzen Löchern fasziniert auch viele Nicht-Physiker. Bei der Stringtheorie ist es seit einigen Jahren einfach, weitergehend Interessierte auf die Literatur zu verweisen; zu deren Themen gibt es die Bücher von Brian Greene (meinem Ex-Chef beim World Science Festival), Lisa Randall und anderen – recht neu ist ein Buch von Dieter Lüst, das ich in meinem Blog später auch noch besprechen möchte. Bei der Schleifen-Quantengravitation sah es bislang deutlich dünner aus, und allein schon vor diesem Hintergrund ist Bojowalds Buch ein echter Gewinn. 

Damit zum Buch selbst: Nach den obligatorischen Einführungskapiteln zu Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantentheorie und allgemeineren Betrachtungen zur Rolle der Mathematik, erzählt Bojowald die Geschichte der Quantengravitation, angefangen mit der Vorgeschichte – Paul Diracs Arbeit an einer Quantentheorie im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie. Dann werden die Stringtheorie einerseits und die Schleifen-Quantengravitation andererseits vorgestellt, bevor wir das Titelthema des Buches erreichen: auf der Schleifen-Quantengravitation basierende kosmologische Modelle, die Bojowald entwickelt hat und die eine Möglichkeit bieten, die Frühgeschichte des Universums zumindest in vereinfachter Form so zu modellieren, dass man die entscheidende Frage stellen kann: Was passiert in jener frühesten Phase, wo es in den herkömmlichen Urknallmodellen haarig wird, sprich: wo eine Singularität auftritt, bei der die Energiedichte völlig unphysikalisch gegen Unendlich geht? Dort benehmen sich Bojowalds Modelle in der Tat so, wie es sich die Physiker von einer Quantenversion der Kosmologie seit langem erhoffen: sie lassen es zu, die Evolution des Kosmos Zeitschritt für (endlich langen) Zeitschritt immer weiter in die Vergangenheit fortzusetzen. Vor der Expansionsphase gab es in diesen Modellen eine Phase mit ebenso langem Kollaps, und die kosmische Geschichte ist also ganz grob gesprochen: Kollaps – Urknall-“Flaschenhals” – Expansion.

Diese neue Evolution ersetzt zwar nicht die Urknallphase, sprich: die frühe, heiße Phase in der die Grundlagen unserer heutigen kosmischen Struktur gelegt, die ersten leichten chemischen Elemente gebildet und zu deren Ende die sogenannte kosmische Hintergrundstrahlung freigesetzt wurde. Der, sagen wir mal diplomatisch: leicht übertriebene Klappentext “Es gab keinen Urknall” ist in dieser Hinsicht irreführend – warum auch immer ein eigentlich seriöser Verlag so etwas nötig zu haben glaubt. Aber mit ihr werden die Physiker die höchst problematische Urknallsingularität los.

Dieses Modell dürfte Bojowalds bekanntestes Forschungsergebnis sein. Das Buch ist an dieser Stelle aber beileibe noch nicht zuende. In den nachfolgenden Kapiteln werden eine Reihe bereits angeschnittener Themen weiter ausgebaut. Den Anfang macht die beobachtende Kosmologie. Hier widmet sich Bojowald, nachdem er die wichtigsten Belege für die Urknallphase hat Revue passieren lassen, der schon erwähnten Frage, ob es in der kosmischen Hintergrundstrahlung Spuren vorangegangener Quantengravitationsphasen geben könnte.

Schwarze Löcher, die eine eigene Art von Singularität in sich tragen, haben anschließend auch ihr eigenes Kapitel. Es bietet eine schöne Darstellung der Newman-Penrose-Diagramme, mit deren Hilfe sich die globale Geometrie Schwarzer Löcher darstellen lässt, und behandelt natürlich die Frage, wieweit die Versuche gediehen sind, der Schwarzloch-Singularität mit Hilfe der Quantengravitation Herr zu werden.

Dem Zeitpfeil und kosmogonischen Modellen von Mythen bis zur modernen Physik sind weitere Kapitel gewidmet; der quantentheoretischen Interpretation eines ganzen Universums und der Frage, ob es so etwas wie eine Weltformel geben kann, die beiden letzten.

Das ganze Buch hindurch wird deutlich, dass Bojowald nicht nur sehr gut weiss, wovon er da schreibt (auch wenn ich nicht alle Einzelheiten seiner Schilderung der Allgemeinen Relativitätstheorie unterschreiben würde), und dass er gut und verständlich beschreiben kann, was er da weiß. Das Buch profitiert zudem an vielen Stellen davon, dass Bojowalds Interessen breit gestreut sind: zum einen von den philosophischen Betrachtungen, um die man bei Fragestellungen, die so grundlegend sind wie die der Quantengravitation, nicht herumkommt und die Bojowald in einen weiteren Rahmen einzuordnen vermag; zum anderen bei Ausflügen in die Literatur und die moderne Kunst, die Bojowalds allgemeinverständlichen Erklärungen ergänzende Facetten hinzufügen.

Der vorläufige Zustand der Kandidatentheorien erschwert allgemeinverständliche Darstellungen ungemein – verständlich machen kann man typischerweise am besten, was auch fachlich gut erforscht und verstanden ist, und von einem umfassenden Verständnis ist die Quantengravitationsforschung als Ganzes noch weit entfernt. Entsprechend verfolgen die Forscher verschiedene Fäden, setzen unterschiedliche Schwerpunkte und Prioritäten; dass sich diese Vielfalt auch in den populärwissenschaftlichen Darstellungen spiegelt, ist nur folgerichtig. Bojowalds Buch ist ein wichtiger Beitrag dazu.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

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