Früher war der Umgang mit Tieren besser

BLOG: Vom Hai gebissen

Notizen aus dem Haifischbecken
Vom Hai gebissen

Diese Aussage entdeckte ich in Grandins Buch. Eine steile These, lese ich doch überall, dass die Themen Tierschutz und Tierwohl erst seit einigen Jahren eine größere Rolle spielten. Leider hatte sie genau dazu keine weitere Literatur angegeben. Sie erwähnte lediglich die Cattle Drives in den USA des 19. Jahrhunderts. Ich musste also selber recherchieren und es begann eine wunderbare Reise in die Zeit des echten Western – aber der Reihe nach.

Grandins Steckenpferd ist bekanntlich der vernünftige Umgang mit Tieren aller Art, Rinder haben es ihr allerdings am meisten angetan. Viele kleine Details wie Kleidungsstücke oder allgemein Gegenstände im Sichtfeld der Tiere, glitschige Böden oder schnelle Lichtwechsel irritieren Rinder und sorgen für Unruhe in der Herde. Behebt man diese Probleme, läuft alles weitgehend reibungslos. Jetzt werden Rinder allerdings nicht nur transportiert, sondern auch auf Weiden und wieder herunter getrieben und natürlich kann man auch hier wieder sehr viel falsch machen. Rinder mögen zum Beispiel kein lautes Geschrei. Werden sie bedrängt, brechen sie aus – eine besonders kritische Situation, wenn Mütter mit ihren Kälbern in der Herde sind. Und dann wäre da noch die Denkweise der Tiere, die etwas anders funktioniert als unsere.

Stellen wir uns mal kurz eine einzelne Kuh auf einer Weide vor. Sie grast friedlich – bis der Cowboy entscheidet, dass die Kuh auf einem anderen Weidestück grasen soll. Um die Sache schnell zu erledigen, nähert er sich dem Tier von hinten mit viel Geschrei, die Kuh erschrickt. Sie sieht ihn nicht, versucht sich zu drehen, wird aber weiter getrieben bis sie letztlich dort ist, wo der Cowboy sie haben möchte. Erledigt. Denkt er. Tatsächlich dauert es nicht lange und die Kuh steht wieder dort, wo sie vorher war und das Spiel beginnt von vorn.

Der ruppige Umgang mit der Kuh während des Weidewechsels war für sie purer Stress, den sie jetzt mit der neuen Weide verbindet. Das letzte Mal sicher fühlte sie sich auf der alten Weide – deshalb auch die Rückkehr.

Rinder haben eine Fluchtzone. So nennt man jenen Bereich zwischen Tier und bspw. einem Menschen, der toleriert wird. Überschreitet man diese Grenze jetzt, übt man (leichten) Druck auf das Tier aus, welches diesem nachgibt und seinen Standort verlässt. Indem man abwechselnd die Fluchtzone eines Tieres betritt und wieder verlässt, kann man es führen – ganz ohne Geschrei und massiven Stress. Was ich hier extrem kurz skizziert habe, nennt sich low stress handling oder auch Stockmanship.

Kommen wir nun zur These Grandins, dass der Umgang mit Rindern zu Zeiten der großen Viehtrecks besser gewesen sei als heute. Einige Abende der Recherche später war ich im Besitz des Buches von Andy Adams, was für mich gleich doppelt interessant war. Adams stammte nicht nur aus dieser Zeit, sondern war auch selbst Cattle Driver. Die ersten interessanten Hinweise ließen auch nicht lange auf sich warten:

Gebt den Rindern nie das Gefühl, dass sie geführt werden. Sie sollen alles freiwillig tun, das beginnt mit dem Aufstehen und endet und mit der Nachtruhe. Das ist das Geheimnis. (Seite 26)

Diese Worte hat Adams dem Foreman in den Mund gelegt, der während des Zuges nach Norden die Verantwortung für Mensch und Tier hatte.
Überhaupt fällt auf, dass Adams an vielen Stellen des Buches sehr verständnisvoll über die Tiere schreibt. Es gab immer ausreichend Zeit zu grasen, zu trinken und sich auszuruhen.

An anderer Stelle musste einer von vielen Flüssen überquert werden, was den Tieren aber Probleme bereitete. Es galt also die mutigeren Tiere als erste herüber zu bringen, um den Rest der Herde zu überzeugen.

Unsere Herde brauchte hier besondere Unterstützung, niemand sprach ein Wort, während wir sie an das andere Ufer brachten. (Seite 167)

An einem anderen Fluss schildert die Figur Flood eine weitere Strategie, um eine Brücke zu überqueren:

Führen wir die Tiere erst in einer Gruppe heran und dann in einem Bogen in Richtung Brücke. Das lässt sie glauben, es ginge zu den Ruheplätzen. Wir sollten sie dort aber nicht erst sammeln lassen, das regt sie nur auf, sondern direkt herüberführen. (Seite 168)

Man stelle sich vor, 3000 Tiere (das war meinen Informationen nach eine durchaus typische Größe für die Herden) entscheiden sich während der Nachtruhe kollektiv zur Umkehr dorthin, wo sie sich zuletzt gut fühlten – ein Albtraum. Zudem schwächt andauernder Stress durch unsachgemäßen Umgang das Immun-System und begünstigt damit den Ausbruch von Krankheiten. Hier stehen besonders Kälber im Fokus. Verlieren sie im Chaos ihre Mutter, werden sie derart gestresst, dass sie später an einer bovine respiratory disease erkranken. Ein anderer wichtiger Faktor ist “cattle shrink”, also schrumpfende Rinder.

Natürlich schrumpfen die Tiere nicht auf Schäferhund-Format, aber sie verlieren an Gewicht. Das kann verschiedene Gründe haben. Eine schlechte Versorgung mit Futter und Wasser wäre naheliegend, aber auch Stress durch falschen Umgang können Gewichts-Verluste begünstigen.

Bad handling is bad business – schon immer aktuell, allerdings mit der kleinen Einschränkung, dass Krankheiten Ende des 19. Jahrhunderts noch eine weitaus größere Hürde darstellten als heute, Antibiotika gab es noch nicht und Tierärzte waren während der Reise nicht dabei. Zudem wurden die Herden nicht auf gut Glück nach Norden getrieben, sondern auf Bestellung. Die Zahl der Tiere und das Gewicht waren vertraglich festgelegt – und kränkliche, ausgemergelte Rinder hatte sicher niemand bestellt. Es blieb den Cowboys also gar keine andere Wahl als sich an ihren Foreman zu halten, dessen Tipps sich wie eine Kopie des Buches von Steven Cote oder jenen Erläuterungen Grandins und Williams’ lesen (die allesamit später erschienen sind).

Auch, wenn es sich bei dieser Quelle um einen Roman handelt, denke ich, dass der geschilderte Umgang mit den Tieren durchaus realistisch ist. Zumindest deuten die Physiologie des Rindes und die vertraglichen Gegebenheiten auch unabhängig von den zitierten Textstellen darauf hin.

Spannend an dieser Geschichte ist für mich die Erkenntnis, dass das Wissen über einen möglichst angenehmen und stressfreien Umgang mit Tieren gar nicht so neu ist wie man glauben könnte, wenn man sich über moderne Tierhaltung informiert. Leider ist das Wissen in näherer Vergangenheit ein Stück weit in den Hintergrund geraten. Andernfalls wären Grandin und Williams nicht als jene Menschen bekannt und erfolgreich geworden, die sie heute sind.


Quellen

  • Temple Grandin “Animals make us human”
  • Andy Adams “The log of a cowboy”
  • Steve Cote “Stockmanship”

Veröffentlicht von

Wissenschafts- und Agrarblogger seit 2009 – eher zufällig, denn als „Stadtkind“ habe ich zur Landwirtschaft keine direkten Berührungspunkte. Erste Artikel über Temple Grandin und ihre Forschungen zum Thema Tierwohl wurden im Blog dann allerdings meiner überwiegend ebenfalls nicht landwirtschaftlichen Leserschaft derart positiv aufgenommen, dass der Entschluss zu einer stärkeren Beschäftigung mit der Landwirtschaft gefallen war. Auch spätere Besuche bei Wiesenhof und darauf folgende Artikel konnten die Stimmung nicht trüben. Seit 2015 schreibe ich auch gelegentlich für das DLG-Blog agrarblogger.de, teile meine Erfahrung in der Kommunikation als Referent und trage nebenbei fleißig weitere Literatur zum Thema Tierwohl zusammen. Auf Twitter bin ich unter twitter.com/roterhai unterwegs.

11 Kommentare

  1. Viehtrecks gab es früher auch bei uns. Z.B wurden auf der ´Ochsenstraße´ vom 14.-18.Jhdt. ungarische Ochsen von Ungarn bis Bayern (z.B. bis Ulm, Nürnberg, Augsburg) getrieben. Allein die damals türkische Zollstelle Waitzen zählte 1563/64 30000 Rinder innerhalb von 8 Monaten
    Aus: Bayern – Ungarn tausend Jahre, ISBN: 3-927233-78-1

  2. Hallo KRichard,

    das ist gut zu wissen, werde da vielleicht später mal nachhaken. Mir ging es natürlich nicht nur um die Geschichte oder Zahlen, sondern in erster Linie um Hinweise auf die Art des Umgangs und das Verständnis für die Tiere. Derlei Details kann/konnte nur jemand liefern, der dabei war. Aber Tierzahlen sind auch noch ein spannendes Thema, trage da auch schon eine Weile Daten zusammen.

    • Betreff ´nachhaken´: Ich habe vor Jahren ein enzyklopädisches Buch um das Thema Butter, Milchprodukte, Viewirtschaft gemacht und dazu eine geballte Fülle von interessanten Infos zusammengetragen. Ich verfolge dieses Projekt nicht weiter: Wenn sie interessiert sind, können Sie eine CD mit dem Text kostenlos erhalten. Sie müssen mir nur eine Adresse nennen, wohin ich sie senden soll.

      • Vielen Dank für das Angebot, ich habe schon einiges an Material zusammengetragen, das ich sichten werde. Sollte ich dann noch Bedarf haben, melde ich mich bei Ihnen!

  3. Sah in Europa auch nicht anders aus. Schon im Spätmittelalter wurden Ochsen von Schleswig-Holstein nach Holland exportiert. Per Schiff. Zu Tausenden. Denen ging es nicht besser als den Tieren heute, ganz sicher nicht.

    • Hallo Brigitta,

      in dem Fall bin ich mir auch nicht sicher, ob das optimal war, verfüge aber über keinerlei Details, um das beurteilen zu können. Ein Schiff ist aber allemal unnatürlicher als Weiden, Futter und Management dürften eine Katastrophe gewesen sein, aber wie gesagt: das ist mein spontaner Eindruck.

  4. Wo Du hier von „früher“ in Bezug auf cattle drive sprichst….

    Hast Du dich mal am Rande mit dem Nomadismus der im Altweltlichen Trockengürtel (Ausdehnung der Region in nord-südlicher Richtung: Kasachstan/Mongolei bis Pakistan, im Westen bis zur Türkei; Arabische Halbinsel; Nordafrika und Zentralafrika bis Kenia als südlichstem Staat) verbreitet ist befasst?

    Ich habe gehört, dass Ethnologen inzwischen herausgefunden haben, dass der Nomadismus keine primitive Vorstufe des sesshaften Bauerntums, sondern eine eigene Entwicklung darstellt. Man geht inzwischen davon aus, dass kulturgeschichtlich gesehen der Nomadismus nicht älter, sondern jünger als der Feldbau, auf den die Nomaden angewiesen sind, ist

    Vielleicht gibt’s da übersetzte Literatur von den Ethnologen. Du könntest einen viel längeren Zeitraum erfassen und hättest auch in der Breite (verschiedene Kulturen und Kontinente) mehr Material um deine Ausgangsfrage zu beantworten.

    • Hallo Joe,

      Deine Anstöße machen mir echt Spaß. Danke dafür! Ich hatte als nächstes eigentlich die Massai notiert, die auch Rinder halten und wollte mal wissen, wie die darüber denken. Animal Handling steht für mich natürlich immer im Fokus, wobei es mir schon um die größeren Herden geht. Erhielt vorhin den Hinweis, dass es diese Cattle Drives oder Trails auch heute noch in Australien gibt. Die Frage, die sich mir stellt: wie ich kann ich Deinen Vorschlag recherchieren ohne zum Nomaden-Experten zu werden?

  5. Als Kind und Jugendlicher sehr oft auf dem Bauernhof gewesen um dort auch zu arbeiten.
    Kühe treiben. Die Angst vor Hufen und Hörner. 5 Kühe waren für mich schon die Hölle, wenn es schlecht lief.
    Danke für diesen Artikel. Sehr toll.

    • Haha, das kenne ich gut. Bin auch schon viel rumgesprungen, weil ich einen Tritt auf den eigenen Fuß vermeiden wollte. Du hast recht, sogar eine widerwillige Kuh kann schon anstrengend sein. Andererseits: alles eine Art des Handlings 😉

      Freut mich, dass Dir der Artikel gefällt!

  6. Pingback:Hai im Gespräch – über Landwirtschaft und Zoos › Vom Hai gebissen › SciLogs - Wissenschaftsblogs

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