Doppel-Leben: „Digital Baby Twins“
“Am Anfang habe ich gedacht: Babys sind doch auch nur kleine Erwachsene, dann nehmen wir halt das gleiche Modell und ändern ein paar Parameter.” Dass die Dinge manchmal komplexer sind, als sie auf den ersten Blick scheinen – zum Beispiel wenn es darum geht, Medizin in Mathematik zu übersetzen – hat Elaine Zaunseder dann während ihrer Doktorarbeit gelernt. Dabei kam ihr nicht zuletzt ihre Fähigkeit zugute, den richtigen Personen die richtigen Fragen zu stellen. Doch dazu später mehr.
Am Anfang des Projekts „Digital Baby Twin“ stand da also dieses bereits existierende Stoffwechselmodell für Erwachsene als Blaupause, das es vor allem in der personalisierten Medizin schon seit geraumer Zeit gibt. Dabei handelt es sich gewöhnlich nicht um das Modell eines kompletten Menschen, sondern um die Darstellung einzelner Zellen oder Organe wie Herz oder Lunge oder von Krankheitszuständen wie Krebs oder Diabetes. Der digitale Zwilling dient Wissenschaftler*innen und Ärzt*innen dazu, Stoffwechselprozesse und damit verbundene Krankheiten systematisch zu erforschen, um so in Zukunft individualisierte Therapien zu erstellen oder Medikamente zu testen, indem man simuliert, wie sich die Wirkstoffe in der Blutbahn eines Menschen verhalten.
Das Ziel: Mit Mathematik medizinische Forschung unterstützen – und dabei Kosten sparen
Ziel dieser digitalen Zwillinge ist also zum einen, die medizinische Forschung an Stoffwechselerkrankungen zu unterstützen, um den Patienten und Patientinnen zukünftig unnötige oder unwirksame Behandlungen zu ersparen, indem man ihnen gleich die auf sie zugeschnittene Medikationen verabreicht. Zum anderen soll ihr Einsatz natürlich die Kosten senken, ein wichtiger Faktor im modernen Gesundheitswesen. Als Vorlage für die Modelle dienen im Allgemeinen Daten und Proben von Erwachsenen in einem – nun ja – relativ entspannten Zustand:
“Bei Harvey und Harvetta, so heißen die Stoffwechselmodelle für Erwachsene, ist der Energiehaushalt so modelliert, dass sie ein entspanntes Dasein als Couch Potatoes fristen. Das heißt, alle überlebenswichtigen Prozesse sind gewährleistet, während sie auf der Couch sitzen und keine Energie für Fortbewegung oder Denkprozesse aufwenden. ”
All diese Besonderheiten müssen natürlich in das Modell eines digitalen Zwillings für Neugeborene mit einbezogen werden, in dem besonders Wachstum simuliert wird. Dadurch wird das Modell wesentlich komplexer – eine Herausforderung für die Mathematikerin, die am Anfang ihrer Doktorarbeit lediglich biologische Grundkenntnisse besaß:
“Meine Motivation, dieses komplexe Problem überhaupt anzugehen, kam aus dem Neugeborenenscreening. Dort werden Blutproben auf lebensbedrohliche, seltene Stoffwechselkrankheiten untersucht. Um den Ärzten zu helfen, diese Krankheiten besser zu verstehen und behandeln zu können, ist es wichtig, dass unsere Modelle personalisiert werden können. Dadurch lässt sich der Stoffwechsel jedes einzelnen Neugeborenen im Computer darstellen.”
Der Weg zum Modell: eine interdisziplinäre Reise
Für Elaine Zaunseder, die am Engineering Mathematics and Computing Lab (EMCL) der Universität Heidelberg und in der Data Mining and Uncertainty Quantification Gruppe (DMQ) am HITS (beides unter der Leitung von Vincent Heuveline) forscht, war das Projekt der Ausgangspunkt einer interdisziplinären Reise – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne.
Zunächst einmal packte sie ihre Koffer, um mit den Kolleginnen und Kollegen an der School of Medicine der Universität Galway an der Westküste Irlands die Modellierung von menschlichen Stoffwechselprozessen zu besprechen. Im Gepäck hatte sie die Mathematik als universelle Sprache, logisch und strukturiert, mit deren Hilfe sie die biologischen Informationen Schritt für Schritt in mathematische Konzepte übersetzte, die dann wiederum in einem Modell dargestellt werden können:
“Bei interdisziplinären Projekten wie unserem ist es wichtig, alle Parteien von Anfang an einzubeziehen und sicherzustellen, dass alle das gleiche verstehen, wenn es um Fachwörter oder Abläufe geht, die dem einen vielleicht trivial erscheinen. Denn nur wenn man ein gemeinsames Verständnis davon hat, wie ein Problem aussieht, kann man es auch gemeinsam lösen.”
Im Laufe ihrer Zusammenarbeit kam es dann auch manchmal zu kuriosen Situationen, zum Beispiel, als die Energieverteilung im Modell einmal nicht richtig abgebildet wurde und die Babys nach ein paar Wochen plötzlich 10 Kilogramm oder mehr wogen. Elaine lacht, als sie an diesen Moment zurückdenkt:
„Da konnte man sehr gut den Unterschied zwischen den verschiedenen Disziplinen sehen. Für die Mediziner und Medizinerinnen war das eine Katastrophe, für uns Mathematiker lediglich ein Optimierungsproblem, bei dem die Bedingungen noch nicht stimmten.“
Das Mittel gegen Missverständnisse: „Die richtigen Fragen stellen.“
Doch wie überbrückt man diese Unterschiede in der Wahrnehmung? Für Elaine ist die Antwort klar. „Man muss die richtigen Fragen stellen. Das klingt zunächst wie eine Binsenweisheit, aber dahinter verbirgt sich die Fähigkeit, zuzuhören und herausfinden zu wollen, was den anderen wirklich hilft. Wie ist ihre Sicht auf die Dinge, was wollen sie erreichen? Für unsere Kolleginnen und Kollegen war dieser Fehler im System deshalb so gravierend, weil sie in diesem Fall einfach mehr in diesem Modell sahen als wir, konkret gesagt die kleinen Neugeborenen. Also mussten wir unsere mathematische Komfortzone verlassen und ihre Sichtweise einnehmen.“
Ein weiteres Beispiel für potentielle Missverständnisse – diesmal auf Seiten der Modellierer*innen – war das Geschlecht der Modelle: „Auf den ersten Blick sehen Außenstehende bei einem Baby unter Umständen ja nur an der Kleidung, ob es ein Mädchen oder Junge ist, aber natürlich unterscheiden sich die Geschlechter auch im Stoffwechsel. Deshalb war es so wichtig, dass wir zwei unterschiedliche Modelle für männliche und weibliche Babys erstellen, damit die Prozesse richtig dargestellt werden.“
Das Ergebnis: digitale Zwillinge für Neugeborene
Am Ende ihrer Reise – und ihrer Doktorarbeit – hatte Elaine mit den Modellierungsexpert*innen aus Galway und den Mediziner*innen am Uniklinikum in Heidelberg ein mathematisches Modell entwickelt, das die gesundheitliche Entwicklung von Neugeborenen in den kritischen ersten sechs Monaten umfangreich darstellen kann. Dazu gehört der organspezifische Stoffwechsel von weiblichen und männlichen Babys, der 20 Organe, sechs Zelltypen und mehr als 80.000 Stoffwechselreaktionen abbildet.
“In dieser ersten Studie haben wir gezeigt, dass wir mit Hilfe unserer Modelle erfolgreich Behandlungsstrategien für Babys mit seltenen Stoffwechselkrankheiten simulieren können. Somit sind wir unserem Ziel einen großen Schritt näher gekommen, das Neugeborenenscreening für diese Krankheiten zu unterstützen. In Zukunft werden personalisierte Behandlungen mit Hilfe unserer Modelle möglich sein.”
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Die DMQ-Gruppe am HITS arbeitet eng mit dem Engineering Mathematics and Computing Lab (EMCL) am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) an der Universität Heidelberg zusammen, das ebenfalls von Vincent Heuveline geleitet wird. Im Fokus der Forschungsarbeit steht ein zuverlässiger und strukturierter Erkenntnisgewinn aus großen und komplexen Datensätzen mit Schwerpunkt auf Computational Fluid Dynamics (CFD) und biomedizinischer Forschung. Beide Bereiche – Data Mining und Uncertainty Quantification – erfordern einen interdisziplinären Ansatz für mathematische Modellierung, numerische Simulation, hardwarenahe Programmierung, Hochleistungsrechnen und wissenschaftliche Visualisierung. Im Jahr 2023 hat die DMQ Gruppe besonders die Entwicklung robuster und effizienter maschineller Lernmethoden für UQ sowie die Analyse der erfassten Daten weiterentwickelt.
Die Grundlagenforschung von Elaine Zaunseder im ECML und in der DMQ-Gruppe wird auch weiterhin dazu beitragen, durch die Simulation therapeutischer Maßnahmen die Versorgung von schwer erkrankten Neugeborenen wesentlich zu verbessern und die Behandlungsmöglichkeiten zu präzisieren, gerade auch in Bezug auf seltene angeborene Stoffwechselerkrankungen.
Die Studie wurde in der Fachzeitschrift „Cell Metabolism“ unter dem Titel „Personalized metabolic whole-body models for newborns and infants predict growth and biomarkers of inherited metabolic diseases.“ Veröffentlicht: https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131%2824%2900182-7
Mehr zu den Digitalen Zwillingen unter https://www.h-its.org/de/2024/06/24/dmq-digitale-zwillinge/ und https://emcl.iwr.uni-heidelberg.de/news/archive/news-2024/news-2024-02.
Mehr über die Forschung der Gruppe „Data Mining and Uncertainty Quantification“ allgemein unter https://www.h-its.org/de/forschung/dmq/.
Wirkt wie Matrioschka – das Baby wird zum Gencode für seinen Zwilling. Im Wachstum müssen die Gene ja ähnliche Kommunikations- und Anpassungsprobleme lösen, und Stoffwechselstörungen und unregelmäßiges Wachstum sind auch bei Bioprodukten immer wieder ein Problem. Am Ende wirken wir alle ein wenig improvisiert. Das Konstrukt muss ja nur ein paar Jahrzehnte halten, kein Grund, sich Mühe zu geben. Die Evolution setzt auf Masse statt Klasse, alle Menschen sind billige Fälschungen von Menschen. Ob der Digital-Pinocchio irgendwann zu einem echten Jungen wird?
Die Antwort ist selbstverständlich ja. Gibt ja nix Besseres zu tun auf der Welt, als sich fortzupflanzen und dabei immer besser in dem zu werden, was man in sich für wichtig hält. Und Silikon und Fleisch sind bloß Materialien, außer bei Brustimplantaten ist der Unterschied irrelevant. Die ultimative Heilung des Menschen befreit ihn von den Gebrechen seines Körpers und seines Geistes, und das geschieht am Einfachsten, indem man beides durch Upgrades austauscht. Ein echtes Baby ist ja auch im Grunde ein Haufen Prothesen, auf das die Eltern ihre Daten und Programme mit sehr störungsanfälligen und unausgereiften Verfahren zu kopieren versuchen, bevor das alte Modell das Ende der Vertragslaufzeit erreicht hat. Wenn man Ihnen all Ihre individuellen Erinnerungen und Gewohnheiten nimmt, bleibt auch nur ein Standard-Baby übrig, ein fabrikneuer Computer mit einem DNA-Betriebssystem.
Unseren Geist kopieren wir ja schon länger auf Festplatte, zunächst mit Keilschrift. Zufall wird zur Absicht, wenn er keine Wahl hat, wie das Chaos der Wassermoleküle zum Wasserstrahl wird, wenn man sie durch eine Leitung pumpt. Und die Leitung der Evolution ist simpel: Was nicht überleben kann, stirbt. Was überleben kann, bestimmt das enge Korsett der Naturgesetze. Und ob man jetzt ein Baby in diese Form gießt, oder die Wissenschaftler, die ein Baby nachzubilden versuchen, es kommt was Ähnliches raus. Auch ähnliche Entstehungsprozesse.
Das heißt für das konkrete Thema hier: Beobachten Sie genau, was die Wissenschaftler untereinander machen und wie das Modell entsteht. Daraus können Sie dann zwar kaum direkte Rückschlüsse auf die echte Embryo-Entwicklung ziehen – aber zu neuen Erkenntnissen inspirieren wird es Sie schon. Sie sehen konvergente Evolution, und darin die Evolution, wie sie für alles und jeden gilt.