B wie Blutgerinnung – oder ein Faktor und sein Wert
„Ich wusste, es würde richtig gut werden“. Die Begeisterung für sein Forschungsprojekt ist Camilo Aponte-Santamaría auch über fünf Jahre nach Beendigung der Forschungsarbeiten, um die es in diesem Blogeintrag geht, noch immer deutlich anzumerken. Nun ist ja ein gewisses Maß an Begeisterungsfähigkeit für das, was man tut, generell kein Schaden, aber in diesem Fall kamen wohl mehrere Faktoren zusammen, die den Biophysiker so optimistisch machten: zum einen ein internationales, sehr interdisziplinär arbeitendes Forschungsteam aus Praktikern und Theoretikern – genauer gesagt ein vorwiegend aus klinischen Ärzten und Biophysikern bestehendes Netzwerk – und als Forschungsgebiet ein Protein, dessen Aufgaben im menschlichen Blut überaus vielfältig sind. So steht es unter anderem in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Reihe von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit der Todesursache Nummer eins in Deutschland.
Doch schauen wir uns zunächst den natürlichen Lebensraum des Von-Willebrand-Faktors – so heißt das Protein, um das es hier geht – genauer an. Dass Blut ein ganz besonderer Saft ist, wusste schon Goethe. Wie besonders, davon konnte sich der Herr Geheimrat mit den damaligen wissenschaftlichen Methoden allerdings im wahrsten Sinne des Wortes noch kein Bild machen, denn dies ist erst in den letzten Jahren durch die Fortschritte auf den Gebieten der Mikroskopie, der bildgebenden Verfahren und der Computersimulation möglich. Dank dieser neuen Technologien hat die Wissenschaft viel über Eigenschaften und Zusammensetzung des Blutes gelernt. Dabei stieß man irgendwann auch auf den für molekulare Verhältnisse ziemlich großen Von-Willebrand-Faktor, der maßgeblich an der Blutgerinnung beteiligt ist.
Bei einem gesunden Menschen schwimmt der VWF im Blut einfach so mit und fällt dabei gar nicht groß auf. Platzsparend zu einer Kugel zusammengerollt verhält er sich solange unauffällig, bis ein Ereignis eintritt, das sein sofortiges Handeln erforderlich macht, z.B. ein aufgeschürftes Knie, eine Schnittwunde oder die Verletzung eines inneren Blutgefäßes. Dann schlägt seine Stunde: Die im Blut umherschwimmende Proteinkugel bleibt an der Wunde kleben und entrollt sich dort, so dass die verschiedenen Enden des Proteinfadens sich wie ein Klebestreifen über Teile der Wunde legen, an denen dann Blutplättchen haften bleiben und die Wunde verschließen. Doch was zunächst lebensrettend ist, indem es die Blutung stillt, kann schnell lebensbedrohlich werden, denn die Fäden, zu denen sich die einzelnen VWF aufrollen und übereinanderlegen, können unter Umständen sehr lang sein, dadurch sehr viele Blutplättchen anziehen und so die Blutgefäße verstopfen. Deshalb hat die Natur vorgesorgt und in die Fäden lebensrettende Sollbruchstellen eingebaut, die sich von einem bestimmten Enzym wie mit einer Schere einfach durchschneiden lassen.
So weit die reibungslose und stark vereinfachte Theorie. Aber die Wirklichkeit ist dann doch etwas komplexer und damit auch fehleranfälliger. So fehlt z.B. bei manchen Menschen das Enzym, das die Fäden kürzt, die Folgen sind lebensgefährliche Thrombosen, Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Bei wieder anderen klappt die Blutgerinnung, wissenschaftlich auch Hämostase genannt, nicht, weil die Fäden zu schnell zerschnitten werden, was zu ebenfalls lebensbedrohlichen inneren Blutungen führen kann.
Und dann wären da noch die sogenannten Scherkräfte, die durch den Blutfluss in den Gefäßen entstehen und auf den VWF einwirken. Und genau da kommt Camilo Aponte ins Spiel. Zusammen mit klinischen Ärzten in Mannheim und Hamburg, Biophysikern in Linz und Berlin sowie seinen Teamkolleginnen und -kollegen in der Gruppe Molekulare Biomechanik am HITS untersuchte er, welche Auswirkungen diese mechanischen Kräfte, die durch den Blutfluss jeweils versetzt und parallel zueinander in entgegengesetzte Richtung auf das Protein einwirken und es so verformen, auf die Funktionsweise des VWF haben. Dazu erstellte er am Computer ein Modell des zusammengerollten Proteins und setzte es virtuellen Scherkräften aus. Bei dem Modell musste Aponte zunächst von hypothetischen Parametern ausgehen, wobei ihm das bereits eingangs erwähnte Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den unterschiedlichsten Disziplinen eine große Hilfe war. Diese Arbeitsumgebung hat er über die Jahre immer mehr zu schätzen gelernt.
“Bei unserem integrativen Ansatz haben wir Simulationen am Computer mit Experimenten im Labor kombiniert. So konnten wir zeigen, wie mechanische Kräfte, wie sie in fließendem Blut entstehen, den Von-Willebrand-Faktor aus einem Ruhezustand in einen aktiven Zustand versetzen, bei dem Blutplättchen sich an das verletzte Blutgefäß anlagern können.“
Nachdem Aponte und seine Kolleginnen und Kollegen ihre Ergebnisse in der Fachzeitschrift „Biophysical Journal“ im Mai 2015 veröffentlicht hatten, sollte es noch ein paar Jahre dauern, bis die Ergebnisse der Studie vollends bestätigt wurden und sich die Vorhersagen, auf denen die Modellrechnungen Apontes beruhen, als valide herausstellten. Und hatte die Studie zunächst vor allem die Aufmerksamkeit von Biophysikern auf sich gezogen, so waren es mittlerweile auch andere Fachgebiete, wie z.B. Mediziner, die sich für die klinischen Aspekte interessierten. Und mit den Medizinern kam das Interesse der breiten Öffentlichkeit. In Zusammenarbeit mit der Wissenschaftsjournalistin Pia Grzesiak entstand 2013 während der Forschungsarbeiten ein berührendes Video über ein Geschwisterpaar, das an der Thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura, kurz TTP, leidet, einer Krankheit, bei der das Blut aufgrund einer Fehlfunktion des VWF verklumpt. Dieses Projekt liegt Aponte nach wie vor sehr am Herzen: „Auf dieses Video bin ich besonders stolz, auch weil ich meinen Eltern anhand des Films zeigen konnte, was ich so mache und woran ich forsche.“
Das große Protein hat den Biophysiker seitdem nicht mehr los gelassen. Noch immer arbeitet er am VWF und die Ergebnisse seiner Computersimulationen, mit deren Hilfe er für seine praxisorientierten Kolleginnen und Kollegen Prozesse auf atomarer Ebene simulieren kann, die im Labor schlicht unmöglich sind, liefern weiterhin wichtige Puzzleteile für ein besseres Verständnis der äußerst komplexen Hämostase. Es bleibt für Aponte noch einiges zu tun, um den Prozess der Blutgerinnung zu entschlüsseln. Aber eins lässt sich jetzt schon über seine Forschung sagen: das, was bisher dabei herauskam, ist wirklich richtig gut geworden.
Weitere Informationen zum Thema:
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4423058/pdf/main.pdf
Der Von-Willebrand-Faktors ist eines von zehntausenden von Proteinen (20‘000 davon genetisch festgelegt, die dann Transformationen/Modifikationen während und nach der Expression unterliegen), die ein Mensch produziert und viele dieser Proteine interagieren miteinander wie das beim Von-Willebrand-Faktor zu beobachten ist, der sich an bestimmte Bindungsstellen anderer Proteine bindet und der von Enzymen zurechtgeschnitten wird, wobei diese Enzyme auch wieder verschieden aktiv sind.
Zehntausende Proteine also, von denen nun das Wissen über eines davon (und die mit ihm Verbandelten) davon durch die hier dargestellte Arbeit deutlich erweitert wurde wobei immer noch viel bis zum vollständigen Verständnis zu tun ist („ Es bleibt für Aponte noch einiges zu tun, um den Prozess der Blutgerinnung zu entschlüsseln.“)
Da stellt sich die Frage: Braucht es zehntausende von Forschern wie Aponte um schliesslich die Funktion aller Proteine des Menschen und ihre Interaktionen zu verstehen ? Und selbst wenn dieses Wissen erarbeitet wurde, wer behält dann den Überblick?
Mir scheint es braucht zusätzlich zur Forschung auf der Ebene des Einzelproteins (hier den Von Willebrand-Faktor) auch Forschung auf der Ebene des Gesamt-Proteoms, also Methoden um alle oder einen Grossteil der exprimierten Proteine eines bestimmten Zelltyps, eines Organs, Organismus oder Individuums zu bestimmen. Tatsächlich scheint es inzwischen derartige Methoden, die dies erlauben, zu geben, beispielsweise die Nanochromatographie, welche es erlaubt kleinste Proben in ihre Einzelproteine aufzuspalten.
Doch auch dann bleibt noch die Aufgabe all das erworbene Wissen zusammenzuführen und zugänglich zu machen. Ich stelle mir vor, dass es eines Tages eine Art Such- und Inferenzmaschine ( eine Art Google++) für Fragen des Proteoms oder der Wirkung bestimmter Proteine geben wird und dass irgendwann sogar Anfragen zu medizinischen Fragen und Problemen Ergebnisse aus einer solchen intelligenten Suchmaschine und Datenbank liefern könnten.