Was sind Bildungslandschaften?

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Bildungslandschaften. Fast zauberhaft klingt dieser Begriff, der nicht als neue Phrase in aktuellen bildungspolitischen Kontroversen von Politikern genutzt wird, sondern sich seit dem Erscheinen des EDG-Bandes (eine der Handbuchreihen für Historiker schlechthin) „Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit“ von Anton Schindling vor fast zwei Jahrzehnten als ein Fachbegriff, ein Schlüsselwort in der Universitätsgeschichtsforschung etabliert hat..

Was bezeichnen Bildungslandschaften?

Schaut man sich das frühneuzeitliche Alte Reich/Europa hinsichtlich der Verteilung von Bildungseinrichtungen wie Schulen, Universitäten, später Ritterakademien etc. an, so fällt eine Konzentration dieser vormodernen Institutionen in bestimmten landschaftlichen Räumen auf, deren verbindendes Element nicht nur die geographische Verankerung, sondern auch konfessionelle, historisch-entstehungsgeschichtliche, kulturelle Faktoren sind. Als Beispiel für die Ausbildung einer Bildungslandschaft sei der mitteldeutsche Raum genannt. Geographisch läßt sich dieser als Gebiet zwischen dem Harz, dem Erzgebirge, der Oberlausitz bis an die Altmark im Norden beschreiben. Mit den Hochschulen in Erfurt (1392), Leipzig (1409), Wittenberg (1502) und Jena (1558) sowie der reformierten Hohen Schule im anhaltischen Zerbst (1582) und dem Gymnasium illustre im ernestinischen Coburg (1605) besteht eine hohe Dichte an Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen, ergänzt durch ein dichtes Netz an Latein- und deutschen Schulen. Zudem zeichnet sich diese Region mit ihren drei kursächsischen Fürstenschulen in Meißen, Schulpforta und Grimma besonders aus.

Zu dieser Häufung institutioneller Einrichtungen in einem festumrissenen geographischen Raum fügte Matthias Aschewenige Jahre später (1997) noch die Komponenten Verankerung und Kommunikationsverdichtung hinzu. Universitätsmitglieder einer Region sind Träger von Kulturkontakten und tragen so zu einer Verdichtung der Kommunikation innerhalb einer Bildungslandschaft bei. Wie ist das genau zu verstehen? An einem Beispiel möchte ich es verdeutlichen: Studenten schreiben sich an einer Universität in einer Bildungslandschaft ein, studieren dort, knüpfen Kontakte zu Kommilitonen bzw. zu ihren Lehrern und wechseln nach einigen Semestern Studium auf eine Lehrerstelle an einer Lateinschule in der Region. Sie tragen so Ideen, Vorstellungen, Lehrmeinungen von der Universität in die Region hinein. Oft besteht über das Studium hinaus Kontakte zur Alma mater. Ein dichtes Personen- und Kommunikationsnetzwerk webt sich so. Ähnlich verhält es sich mit den Wechseln an eine Nachbaruniversität (peregrinatio academica – akademische Wanderschaft).

In den letzten fünf Jahren wurde dieser Begriff, z. B. durch Thomas Töpfer, weiter präzisiert. Am Beispiel der Bildungslandschaft Mitteldeutschland weist er auf die Faktoren politische Desintegration (z. B. wettinische Teilung 1485 und die daraus resultierende Gründung der Leucorea in Wittenberg 1502 oder der Übergang der sächsischen Kurwürde von den Ernestinern auf die Albertiner 1547, der Verlust der Hochschule in Wittenberg und die Gründung der Salana in Jena 1548/58), den gemeinsamen konfessionellen und kulturellen Hintergrund hin.

Wohl könnte man auch noch enge wirtschaftliche Verbindungen innerhalb eines geographischen Gebietes als Klammer für eine Bildungslandschaft definieren, die diesen Raum nicht nur von Nachbargebieten unterscheidet, sondern auch nach bestimmten ausgebildeten Personen nachfragt.

Bildungslandschaften sind also von der Universitätsgeschichtsforschung bezeichnete geographisch festgelegte Räume mit einer bestimmten Konzentration an Bildungseinrichtungen, die einen gemeinsamen konfessionellen, kulturellen, politischen Hintergrund aufweisen und sich so von ihren Nachbarräumen abgrenzen.

Wozu braucht man den Forschungsbegriff Bildungslandschaft?

Wie ich am Beispiel Mitteldeutschlands kurz angerissen habe, fällt dem Bildungshistoriker eine bestimmte Anhäufung entsprechender Einrichtungen in einem Raum auf. Zunächst kann man dies als Zufall abtun, aber dann hätte man seine Profession wohl verfehlt. Es stellt sich also schnell die Frage, was ist das verbindende Element bei solch einer Konzentration? Wie entstand sie – zufällig oder bedingt aus bestimmten Ereignissen? Kann man diese Anhäufung so genau benennen, um sie von Nachbarregionen abgrenzen zu können? Gibt es besondere Eigenschaften dieser Institutionen und wie zeichnen sie sich aus?

Der Bildungshistoriker versucht also z. B. über Gemeinsamkeiten in Personennetzwerken, Lehrmeinungen, konfessionellen Faktoren ein Arbeitsbegriff zu definieren, mit dem er kurz und prägnant dieses Phänomen bezeichnen kann. Es geht also um mehr als nur die Einrichtungen. Es geht um gemeinsame Strukturen, die im Ergebnis auch für andere Bereiche der Geschichtswissenschaft (Kultur, Politik, Wirtschaft, Konfession) neue Erkenntnisse bringen. Dabei wird von den historischen Befunden in erster Linie ausgegangen, nicht von einem theoretischen Konstrukt (Annahme einer bestimmten Bildungslandschaft, hier Mitteldeutschland), das mit empirischen Beobachtungen (Gründung der Salana in Jena als Reaktion auf den Verlust der Leucorea durch die Ernestiner) belegt wird. Sondern genau anders herum.

Literaturempfehlungen zum Thema:

  • Matthias Asche: Von der reichen hansischen Bürgeruniversität zur armen mecklenburgischen Landeshochschule. Das regionale und soziale Besucherprofil der Universität Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit (1500–1800), 2. Aufl., Stuttgart 2010
  • Günter Mühlpfordt: Mitteldeutschland als Kulturherd der Frühneuzeit. Von der Wittenberger Reformation bis zur Weimarer Klassik, in: Historische Forschung in Sachsen-Anhalt. Ein Kolloquium anläßlich des 65. Geburtstages von Walter Zöllner, hrsg. von Heiner Lück und Werner Freitag, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 53–88.
  • Anton Schindling: Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650-1800, 2. Aufl., München 1999.
  • Thomas Töpfer: Die Leucorea am Scheideweg. Der Übergang von Universität und Stadt Wittenberg an das albertinische Kursachsen 1547/48. Eine Studie zur Entstehung der mitteldeutschen Bildungslandschaft, Leipzig 2004.
  • Thomas Töpfer: Gab es „Bildungslandschaften“ im Alten Reich? Dimensionen und Möglichkeiten einer aktuellen Kategorie der frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte am Beispiel Mitteldeutschlands, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 101–112.

Veröffentlicht von

digiwis.de/

Wenke Bönisch, 1981 in Dresden geboren, studierte Mittlere und Neuer Geschichte sowie Kunstgeschichte an der Universität Leipzig. Die Frühe Neuzeit, vor allem die Reformations- und Bildungsgeschichte, ist ihr historisches Steckenpferd. Zur Zeit promoviert sie an ihrer Hochschule über die Bildungslandschaft Mitteldeutschlands und arbeitet freiberuflich im Verlagswesen. Im Netz findet man sie auch unter den Namen „Digiwis“. Webseite: http://digiwis.de/ Blog: http://digiwis.de/blog/ Twitter: http://twitter.com/digiwis Facebook: http://www.facebook.com/Digiwis Google+: https://plus.google.com/109566937113021898689/posts

3 Kommentare

  1. Schön, danke!

    Bin gerade heute aus dem Südwesten einmal wieder nach Jena gefahren und spüre die Fernwirkung (den Neuanfang?) der besagten Bildungslandschaft. Und der Begriff gefällt mir deutlich besser als das neudeutsche ‘Cluster’…

    Aber die Frage dazu: Macht es Sinn, heute an gewachsenen BLen wieder anzuknüpfen – oder sind sie eher nur von historisch-touristischem Interesse?

  2. Anknüpfung möglich?

    @Michael Blume

    Ich glaube, eine Anknüpfung ist sehr wohl möglich. Solche Strukturen einer Bildungslandschaft bilden sich über Jahrhunderte aus einer eigenen geschichtlichen Entwicklung heraus und sind nicht politisch motiviert aufoktroyiert. So wurden die Gymnasien St. Afra in Meißen und St. Marien in Schulpforta nach der Wende als “Elitegymnasien” wiedergegründet. Es gibt ein Selbstbewußtsein bei den Mitgliedern der Institutionen, die noch heute bestehen, über ihre Geschichte und Verknüpfung mit den Nachbareinrichtungen. Als Beispiel sei hier auf den Verbund der Universitäten Leipzig, Halle-Wittenberg und Jena für die Studenten, an den anderen Hochschulen Seminare belegen zu können, verwiesen. Ebenso sind Mitglieder der Alma mater in Halle-Wittenberg Mitglieder der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Diese langen, über Jahrhunderte sich herausgebildeten Strukturen und das entsprechende Bewußtsein ist tief verankert und bietet heute den Bildungseinrichtungen gute Möglichkeiten, regional starke Kooperationen einzugehen. Weit weg von politisch motivierten, modischen Schlagwörtern wie Exzellenzinitiativen.

  3. Zustimmung!

    Auf eine solche Antwort hatte ich gehofft! 🙂 Ich würde auch annehmen, dass solche Narrative – wenn zutage gefördert – Identität und das Selbstverständnis auch heutiger Akteure positiv beeinflussen können. Danke für den guten Post und die Einschätzung!

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