Wie unterscheidet sich »Geschichte« von »Vergangenheit«?

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Die Diskussion über das Wesen der Geschichte möchte ich mit einer Differenzierung beginnen, die vielen Missverständnissen vorzubeugen vermag. Im heutigen wie auch dem früheren Sprachgebrauch wird das Wort »Geschichte« sehr oft als identisch mit »Vergangenheit« benutzt; doch auch wenn zwischen beidem eine nachvollziehbare Nähe besteht, sind sie keineswegs identisch, wie Hegel anmerkte:

»Die Geschichte verbindet in unserer Sprache sowohl die objektive als auch die subjektive Seite. Sie meint die res gestae (das Geschehene) und die historia rerum gestarum (die Erzählung des Geschehenen).«

Dass die beiden Wörter eng miteinander zusammenhängen, mag die nicht nur unter Deutschsprachigen verbreitete Verwirrung erklären, aber nicht rechtfertigen. Im Gegenteil, es macht eine vorsichtige Differenzierung notwendig.

Es liegt auf der Hand, dass Geschichte etwas ist, was dem Menschen eigentümlich ist, Vergangenheit hingegen nicht. Auch andere Tierarten haben Vergangenheit (zumindest im theoretischen Sinne, auch wenn sie in der Praxis nicht darüber verfügen können), aber keine außer dem Menschen hat Geschichte. Denn Geschichte ist bewusste bzw. bewusst gemachte Vergangenheit, eine absichtlich, d. h. aus bestimmten Gründen und zu bestimmen Zwecken in Erinnerung gerufene und erhaltene Vergangenheit. Reden wir über Geschichte, so reden wir über Bewusstsein, das sehr weit über das eigene Gedächtnis hinaus- bzw. zurückgeht und viele Generationen umfasst, ganz im Gegensatz zu jedem anderen Lebewesen auf diesem Planeten.

Ist die Vergangenheit das, was einst war (und verging), so bedeutet das, dass Geschichte eben etwas anderes ist, das nicht vergeht, sondern noch da ist; etwas, das zwar in einem bestimmten Verhältnis zur Vergangenheit steht, aber mit dieser dennoch nicht identisch ist. Denken wir etwa an das Jahr 1922: In diesem Jahr wurden viele Menschen von anderen umgebracht – das ist alles Vergangenheit, aber nicht unbedingt Geschichte.

Genauer gesagt: Die allermeisten Mordfälle sind nicht Geschichte, weil sie seitdem keinem Historiker wichtig genug erschienen, um sie bewusst zu machen, d. h. aufzuarbeiten und – hier kommen wir auf den Punkt – in Geschichte zu verwandeln. Eine der Ausnahmen ist der Tod bzw. der Mord an Walter Rathenau. Dieser Fall ist nicht nur Vergangenheit, sondern auch Geschichte.

Ist der Mord an Rathenau »von sich aus« Geschichte, d.h. war er das schon an dem Tag des Geschehens? Dass dem Mord damals eine öffentliche, politische Bedeutung zukam, war eine natürliche Entwicklung, aber noch nicht »Geschichte«, nicht einmal, als er noch aktuell war, »Vergangenheit«. Vielmehr erklärt die politische Bedeutung von damals, warum er uns im Gegensatz zu den allermeisten Mordfällen des Jahres 1922 noch erhalten bleibt. Aber nur deswegen, weil er uns erhalten bleibt, ist es Geschichte. Denn nichts ist von sich aus »Geschichte«, zu Geschichte wird etwas gemacht, indem es dem natürlich Gang der Dinge entrissen und vor der Vergessenheit bewahrt wird.

Es gibt viele Wege, Vergangenes im Bewusstsein zu behalten; die professionelle Geschichtsschreibung und ihr typisches Ergebnis in Gestalt eines wissenschaftlichen Textes sind eine sehr späte Entwicklung. Begonnen hat alles mit der Sprache und den Anfängen menschlicher Sprachfertigkeit vor ca. 70.000 Jahren. Seitdem geben Menschen Erinnerungen an Vergangenes von der einen Generation zur nächsten weiter und machen die Vergangenheit somit auf verschiedenen Wegen zu etwas anderes, das gerade nicht vergeht, nämlich zu Geschichte: Dichtung, Belletristik und neulich auch Filme sind nur einige Beispiele für diese dem Menschen eigentümliche Eigenschaft. Aber nicht nur Texte, ob schriftlich oder mündlich überliefert, sondern auch die bildenden Künste können Geschichte vermitteln, etwa in Form eines modernen Kriegsdenkmals oder eines antiken Siegestores. Schließlich ist auch der wissenschaftliche Text nur ein Ausdruck von historischem Bewusstsein, ein Träger bzw. Medium von Geschichte.

Wie nah sind also Geschichte und Vergangenheit zueinander? So nah wie nötig, so fern wie möglich – möchte ich sagen. Geschichte handelt von Vergangenem; sie bezieht sich darauf. Sie steht immer, per definitionem, in Relation zu der Vergangenheit, die sie darstellt und interpretiert. Das macht sie folglich relativ, denn erst aus dieser Relation entsteht ihre Bedeutung; nie kann sie sich verselbstständigen oder einen archimedischen Punkt erreichen, der ihr eine absolute, von jedwedem Zusammenhang befreite und an sich gültige Bedeutung verleihen würde.

Diese Relation, dieses unüberwindbare Verhältnis zwischen Vergangenheit und Geschichte bildet den epistemologischen Abstand, der es unmöglich macht, dass beides miteinander identisch wäre. Dieses Verhältnis ist auch der Grund, weshalb eine Differenzierung zwischen beiden so sehr Not tut.

Geschichte verhält sich zu Vergangenem wie zu einem Objekt, welches sie verarbeitet, oder, noch genauer, in ihr verarbeitet wird. Wäre der Historiker ein Töpfer, so wäre die Geschichte nicht der Ton, aus dem er seine Töpfe schafft, sondern der Topf. Behalten wir bitte diese Metapher im Kopf – wir können sie auch in den nächsten Beiträgen gut gebrauchen.

Doch so wichtig eine theoretische Differenzierung auch ist, gestaltet sich die Praxis oft anders. Aus der rein theoretischen Perspektive zeigt sich die Vergangenheit als etwas Natürliches, das – im Gegensatz zur künstlich bzw. bewusst konstruierten Geschichte – auch ohne eigene Mitwirkung und ohne das entsprechende Bewusstsein wie von selbst entsteht: Vergangenheit ergibt sich einfach, während Geschichte von Menschen gemacht werden muss.

Gegenüber dem subjektiven, weil menschlichen Charakter von Geschichte, scheint also die Vergangenheit eher objektiv zu sein. Dass dies trotzdem nicht so ist, werde ich noch erklären. Denn die Frage danach, wie Geschichte sich von Vergangenheit unterscheidet, ist keine, die mit einer einzigen Antwort abgetan werden kann; sie wird uns also noch weiter begleiten.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

16 Kommentare

  1. Das ist eine interessante Reihe, die Du beginnst.

    Hegel:
    »Die Geschichte verbindet in unserer Sprache sowohl die objektive als auch die subjektive Seite. Sie meint die res gestae (das Geschehene) und die historia rerum gestarum (die Erzählung des Geschehenen).«

    Hegels Bestimmung finde ich problematisch, sollte man nicht klarer zwischen Geschichte (das von Menschen gestaltete (!) Geschehen) und zwischen Geschichtsschreibung, dem Produkt des Historiker, unterscheiden? Dass im Deutschen für beides in der Regel dasselbe Wort benutzt wird (und dann auch noch als Bezeichnung für das wissenschaftliche Fach), ist ja kein verhängtes Schicksal.

    Das Material des Historikers sind die sog. Quellen, sein Werk, die Geschichtsschreibung, ist wie ein mehr oder grobes Mosaik und Geschichte, das von Menschen gestaltete, gemachte Geschehen, ist stets nur durch Interpretation zu ermitteln. Man schafft ein Mosaik mit einem Bild, ohne das “wahre” Bild wirklich kennen zu können. Dieses Bild ist aber nicht beliebig, man weiß, dass manche Steinchen, manche Motive “irgendwie” stimmen müssen, die sog. Fakten.

  2. Nur ergänzend:
    ‘Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.’ (Wittgenstein)

    BTW, gibt es ‘Vergangenheit’ wie genau?

    MFG
    Dr. W

    • Ich komme noch dazu… Aber ja, die Vergangenheit existiert vor allem als ein theoretisches Konstrukt, weniger in der Praxis (wäre ja auch ein Widerspruch in sich).

      • Die Vergangenheit existiert als ein theoretisches Konstrukt… selten solch einen Blödsinn gelesen… Was gestern war ist Geschichte… Punkt… ganz praktisch…

        Keine Ahnung was Historiker in ihrem Kopf haben… eine Runde Steineklopfen und ab ins Handwerk würde vielleicht auch diesen Menschen nicht schaden…

        Und noch mal zur eigenen Biographie:

        Ich stamme aus einer multi-kulti-Familie mit jüdischen Wurzeln…. Mein Vater ist Büromaschinen-Menchaniker-Meister und war mal bis zu seiner Rente Gebäudemanger für eine amerikanische IT-Firma. Meine Mutter ist eine liebe Hausfrau…

        Nur: Die Tatsche, dass meine Vorfahren Deutsche, jüdischen Glaubens waren, scheint heut zu Tage im Zuge der Deutung, dass das Judentum keine Religion sei (sic! Rassegesetze des deutschen Reichs) niemanden mehr zu interessieren….

        Ich rate deshalb nur jedem Juden (sic! nationaler Überzeugung), der anderer Meinung ist… nach Israel auszuwandern… Dann muss ich mir nicht mehr solch einen Blödsinn von einem (sic!) polnischen Juden anhören bzw. lesen…

        http://utaliquidfiat.blogspot.de/

        Gute Nacht schönes Abendland…

        S. Happ

        • Die Vergangenheit existiert als ein theoretisches Konstrukt… selten solch einen Blödsinn gelesen… Was gestern war ist Geschichte… Punkt… ganz praktisch…

          @ Stephan

          Die Geschichte, oder vielleicht besser, die Geschichtsschreibung oder Geschichtserzählung kann nicht ohne Deutung auskommen. Ein Kommunist erzählt die Geschichte völlig anders als ein Libertärer. Und doch beziehen sich beide auf die genau gleiche Vergangenheit, denn es gibt ja nur die eine. Ganz so einfach ist die Sache nun doch nicht. Jede Epoche erzählt oder schreibt die Geschichte neu.

  3. Ich komme noch dazu… Aber ja, die Vergangenheit existiert vor allem als ein theoretisches Konstrukt …

    Aber nicht nur, denn wir, d.h unsere Körper und unsere Gedanken, sind im Wesentlichen ein Produkt der Vergangenheit.

    Ernst Nolte nannte übrigens in seinem Buch “Historische Existenz” das Judentum als das Paradigma der historischen Existenz.

      • ‘Gar nicht mehr’ oder die Präfix ‘Pseudo’ gerne weglassen,
        MFG
        Dr. W (der auch gerne auf Deutschen herumhackt, auf diesem weitgehend wehrlosen und intellektuell unbedarftem Volk)

        • PS:
          ‘Pseudo’ wäre wegzulassen, ansonsten wussten Sie auch Ihren Kommentatorenfreund zu irritieren.
          Auch ‘dieses Niveau’ meinend, das ja schon ein wenig negativ konnotiert sein könnte, aber nicht sein muss.
          MFG
          Dr. W (der aber Ernst Nolte nicht direkt beizuspringen dachte)

          • Drücken Sie sich doch nicht immer so diplomatisch aus Hr. Dr. Sie vermittlen den Eindruck, alles auf eine Metaebene hieven zu wollen, um ja keinem deutlich seine Meinung zu sagen…. Wissenschaft ist auch eine Art der Aus- und Abgrenzung vom gemeinen (dummen) Bürger, mit freundlicher Unterstützung des (dummen) Steuerzahlers… Typisch deutsch halt!!!

            Gute Nacht

            S.Happ

    • “Aber nicht nur, denn wir, d.h unsere Körper und unsere Gedanken, sind im Wesentlichen ein Produkt der Vergangenheit.”

      Blödsinn, unsere Körper und Gedanken sind ein Produkt der Bewußtseinsentwicklung, die Mensch im geistigen Stillstand zur kreislaufend-konfusionierten Bewußtseinsbetäubung umfunktioniert!

  4. Und damit das auch einem Yoav klar wird und allen anderen, die sich auf irgend eine Herkunft berufen:

    Die Tatsache, dass ein Großteil meiner Familie jüdischen Glaubens in der Gaskammer verschwunden ist, hat dazu beigetragen, dass in meiner Familie das Thema Herkunft ein absolutes Tabuthema ist/ war….. Denn genau das, was die Nazis getan haben, scheinen einige jüdischen Nachkommen aus anderen Ländern nicht zu verstehen… Dass nämlich die Herkunft in unserem Nachkriegsdeutschland nie mehr eine Rolle spielen darf und wird… Das hat uns die Geschichte gelehrt… Und wenn sich ein Jude hinstellt und mit seiner Herkunft aus dem gelobten Land argumentiert, dann reihe ich ihn ein in die Reihe übelster Rassisten seit Hitlers Zeiten…

    Freundliche Grüße

    S.Happ

  5. Pingback:Die Schichtung der Geschichte › un/zugehörig › SciLogs - Wissenschaftsblogs

  6. Die Geschichte wird immer von Siegern geschrieben.

    Im Übrigen glaube ich persönlich an die einzige Wahrheit (die sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Vergangenheit erstreckt).

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