Wer darf Volk sein? Über nationale Minderheiten in Deutschland

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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"Sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Geschichte, also eigene Identität": So lautet eines von fünf Kriterien, die Menschengruppen in Deutschland erfüllen müssen, um die staatliche Anerkennung als nationale Minderheit erlangen zu können.

Diesem Satz bin ich während eines viertägigen Studienseminars begegnet, das vom Bundestag kürzlich für die IPS-Teilnehmer veranstaltet worden ist. Das Seminar hat in der Europäischen Akademie Schleswig-Holstein im süd- bzw. (eigentlich) mittelschleswigen Sankelmark, mithin nahe an der heutigen Grenze zu Dänemark. Denn in Schleswig-Holstein leben die meisten Menschengruppen, die hierzulande als nationale Minderheiten anerkannt sind: Drei von insgesamt vier Minderheiten sind in diesem Bundesland vorhanden – und somit mehr als in jedem anderen.

Im Rahmen des Seminars haben wir uns sowohl mit den anerkannten Minderheiten befasst, nämlich mit den Dänen, den Friesen, den Sorben sowie mit den Sinti und Roma, als auch mit inoffiziellen Minderheiten wie etwa der türkischen. Besonders die anerkannten Minderheiten waren für mich interessant, da mit diesen eine grundsätzliche Differenzierung zwischen der Staatsangehörigkeit und der Volkszugehörigkeit zum Ausdruck kommt, und zwar nicht nur hier in meinem gottverlassenen Blog, sondern auch dort, wo Macht und Pracht zu finden sind: im bundesrepublikanischen Staatsapparat.
 
Mir hat sich also u. a. die Frage gestellt, wie das in nationaler Hinsicht Andere von dieser Republik wahrgenommen wird, und zwar gerade in jenen Fällen, wo der andere sich nicht unter "Ausländern" subsumieren lässt, sondern dieselbe Staatsangehörigkeit besitzt wie man selbst. Ferner habe ich mich gefragt, was das amtliche Verständnis des national Anderen wiederum über die Auffassung der eigenen Gruppe sagen kann.
 
Die bundesrepublikanische Regelung basiert auf einer EU-Regelung, nämlich dem 1995 vom Europarat beschlossenen "Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten". Jedoch wird sie nicht direkt von diesem Text abgeleitet, da die Definition des Begriffs "nationale Minderheit" – leider nur aufgrund mangelnden Übereinkunftsvermögens – dem Ermessen der einzelnen Staaten überlassen worden ist.
 
Neben dem obigen Kriterium hat die Bundesrepublik vier weitere aufgestellt, die erfüllt werden müssen, damit eine Menschengruppe als eine nationale Minderheit angesehen werden kann. Die vollständige Liste findet man etwa in dieser Stellungnahme (S. 7) oder in dieser Broschüre (S. 61). Sie lautet wie folgt:
 
1) Ihre Angehörigen sind deutsche Staatsangehörige,
2) sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Geschichte, also eigene Identität,
3) sie wollen diese Identität bewahren,
4) sie sind traditionell in Deutschland heimisch,
5) sie leben innerhalb Deutschlands in angestammten Siedlungsgebieten.
 
Das fünfte und letzte Kriterium wird für die Sinti und Roma per Ausnahme gebeugt, denn Sinn und Zweck solcher Voraussetzungen ist m. E. in erster Linie nicht das, was sie angeblich bewirken sollen, nämlich, zur amtlichen Anerkennung zu berechtigen, sondern vielmehr, von dieser auszuschließen – und somit auch von den mit der Anerkennung einhergehenden Privilegien. Im Interesse der Republik liegt es daher, die Sache so zu regeln, dass der Staat über eine außergewöhnliche Aufhebung einer bereits bestehenden Voraussetzung entscheiden darf – und sich keinesfalls dazu gezwungen sieht, die jähe Aufstellung eines bislang gar nicht bestehenden Kriteriums zu beschließen. Nur so kann man wirksam die Chancen verringen, dass es zu einer Erweiterung dieses exklusiven Kreises bzw. zur Anerkennung weiterer nationaler Minderheiten kommen könnte. Meiner Meinung nach ist das der Grund, weshalb man sich zur Erteilung einer Ausnahme entschloss, anstatt auf das letzte Kriterium zu verzichten.

Jedenfalls wurden die Kriterien, soweit ich es verstanden habe, erst im Nachhinein bekannt gegeben: Im Anschluss an die Zeichnung des Rahmenübereinkommens legte Deutschland zunächst keine allgemeinen Kriterien, sondern die Gruppen fest, welche das Rahmenübereinkommen nach dessen Ratifizierung in Anspruch nehmen dürfen sollen. In der dazugehörigen Erklärung der Bundesregierung (ein Zitat finden sie in diesem Dokument aus dem Bundestagsarchiv) heißt es folglich: "Nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland sind die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit und die Angehörigen des sorbischen Volkes mit deutscher Staatsangehörigkeit. Das Rahmenübereinkommen wird auch auf die Angehörigen der traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen der Friesen deutscher Staatsangehörigkeit und der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit angewendet." Die allgemeinen Kriterien sind m. W. erst später hinzugekommen – wann genau, das konnte ich nicht herausfinden – und enthalten wohl bereits seit ihrer Konzipierung die Ausnahme zugunsten der Sinti und Roma.
 
Aber wodurch zeichnen sich diese Gruppen aus? Dazu müssen wir zum anfangs zitierten Kriterium zurückkehren: Wir haben hier also mit inländischen Gruppen zu tun, die sich zumindest aus amtlicher Sicht durch bestimmte Merkmale ihrer kollektiven Identität vom "Mehrheitsvolk" unterscheiden. Diese Merkmale umfassen die Sprache, die Kultur und die Geschichte des jeweiligen Volkes und werden aus amtlicher Sicht offensichtlich für wesentlich gehalten – jedenfalls für wesentlich genug, um in den betroffenen Menschen trotz deren bundesrepublikanischer Staatsangehörigkeit Angehörige anderer Völker zu erblicken.
 
Nun stellt sich im Rückschluss die Frage, von welchem "Mehrheitsvolk" sie sich durch diese Merkmale zu unterscheiden haben, um als nationale Minderheiten anerkannt zu werden. Das Volk der Mehrheit, nun gut, aber welches Volk ist es? Welchem Volk gehört die Mehrheit der bundesrepublikanischen Staatsbürger an?

Während des Seminars haben wir auch im schleswig-holsteinischen Landtag einen Besuch abgestattet, wo wir mit Mitarbeitern der Landesexekutive diskutiert haben, die sich mit den nationalen Minderheiten in Schleswig-Holstein befassen sowie mit der Betreuung der deutschen Minderheit, die im nunmehr wieder dänischen Nordschleswig lebt. Es hat gedauert, aber schlußendlich hat man mir doch bestätigt, dass in diesem Kriterium zur Bestimmung einer nationalen Minderheit, d.h. durch die Voraussetzung eines mehrfachen Unterschieds vom "Mehrheitsvolk", von einem deutschen Volk ausgegangen wird, das nicht mit der Bürgerschaft der Bundesrepublik identisch ist. Denn "in Deutschland leben mehrere Völker, unter anderem Angehörige des dänischen, des friesischen und des deutschen Volkes", hat mir ein hochrangiger Beamter erklärt.
 
Diese Aussage hört sich vielleicht ziemlich banal an, ist aber erkenntnistheoretisch durchaus notwendig: Es ist nämlich erst die deutsche Volksgruppe, welche die anderen Gruppen, die hierzulande leben und ebenfalls die bundesrepublikanische Staatsangehörigkeit besitzen, überhaupt "anders" erscheinen und somit als Minderheiten hervortreten lässt. Ohne ein deutsches Volk wäre in der Bundesrepublik, zumindest in rechtlicher Hinsicht, keine dänische Minderheit denkbar, ohne ein slowakisches Volk keine ungarische Minderheit in der Slowakei, ohne ein russisches Volk keine jüdische Minderheit in Russland, ohne ein jüdisches Volk keine arabische Minderheit in Israel usw. usf.
 
Diese "Erkenntnis" ist freilich keine neue: Gerade aus amtlicher Sicht werden ja bspw. die Siebenbürger Sachsen – trotz deren seit neun Jahrzehnten rumänischer Staatsangehörigkeit – als Menschen "deutscher Volkszugehörigkeit" bzw. Angehörige des deutschen Volkes angesehen. Das ist ein m. E. liberales Volksverständnis, weil es sich demnach um ein Volk handelt, das weder jeden Bürger seines Staates sofort und ausnahmslos für sich beansprucht, noch jede Bürgerin eines fremden Staates schon als solche von sich ausschließt. Diese grundsätzliche Differenzierung zwischen Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit kommt auch im Sprachgebrauch der oben zitierten Regierungserklärung zum Ausdruck, wo etwa von den "Angehörigen des sorbischen Volkes mit deutscher Staatsangehörigkeit" die Rede ist.
 
Dabei bleibt die ganze Sache frewillig: Weder sind Bürger dazu gezwungen, sich etwa zum sorbischen Volk oder zum dänischen zu bekennen, noch werden Sorben oder Dänen daran gehindert, sich gleichzeitig zum deutschen Volk zu bekennen. Gezählt bzw. nach einem etwaigen Bekenntnis gefragt werden darf von Seiten des Staates sowieso nicht, sodass man bestenfalls auf die Schätzungen der Vertretungsorgane bzw. auf deren Mitgliederzahlen angewiesen ist und keiner wirklich wissen kann, wie viele unter den Bürgern der Bundesrepublik sich bspw. zum deutschen, dänischen, sorbischen und/oder türkischen Volk bekennen. Anerkannt ist, wenn überhaupt, lediglich die kollektive Identität: Ob sie in Anspruch genommen wird, also ob z. B. ein Deutscher tatsächlich Hermannstadt verlässt und nach Nürnberg übersiedelt, liegt hierbei im Ermessen des Einzelnen. Deutlich erkennbar wird das an der friesischen Volksgruppe sowie an der sorbischen: Obwohl es anscheinend immer weniger aktive Muttersprachler gibt und diese Volksgruppen zusehends verschwinden, bleiben die Verpflichtungen des Staates gegenüber den Kollektiven bestehen, ja, der Staat hat nach wie vor für Bedingungen zu sorgen, welche die Pflege von Kultur und Identität unter diesen Volksgruppen ermöglichen (s. Rahmenübereinkommen, Art. 5).
 
Das Mehrheitsvolk und die Minderheiten, die im Nationalstaat des Ersteren leben, sind also voneinander abhängig: Nicht nur, dass die Minderheiten in Deutschland auf die gedankliche Existenz eines mit der Staatsangehörigkeit nicht identischen, ja davon unabhängigen deutschen Volkes angewiesen sind, um überhaupt als Minderheiten erscheinen zu können; durch die Art und Weise, auf welche die Minderheiten wahrgenommen werden, wird zu gleicher Zeit auch das deutsche Volk selbst artikuliert. Man denke in diesem Zusammenhang, ohne das eine mit dem anderen gleichzusetzen, an die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz 1935 bzw. an deren gedanklichen Mechanismus: Nach außen ging es nur darum, wer aus nationalsozialistischer Sicht Jude ist bzw. als solcher gelten soll; in Wirklichkeit aber trug die juristische Beschäftigung mit dem Juden als dem antithetischen Anderen wesentlich zur Bestimmung bei, wer aus nationalsozialistischer Sicht Deutscher ist bzw. als solcher gilt.
 
Mit anderen Worten: Wenn die deutschsprachigen Dänen, die hier leben, vom deutschen Gesichtspunkt aus deswegen als Minderheit anzusehen sind, weil sie sich von der deutschen Umgebung durch ihre Sprache, Kultur und Geschichte unterscheiden und dadurch ihre eigene Identität haben, dann heißt es im Rückschluss, dass auch das Volk, dem die Mehrheit angehört, seine Identität aus Sprache, Kultur und Geschichte herausschöpft (sonst wären die Dänen ja gar nicht in der Lage, sich gerade durch diese Merkmale auszuzeichnen). Wer sich skeptisch fragt, was ein deutsches Volk denn ausmachen könnte, mag hierin eine Antwort finden, d.h. im Spiegelbild der amtlichen Wahrnehmung von Minderheiten – vorausgesetzt, man ist überhaupt bereit, die Existenz nationaler Minderheiten zu akzeptieren und zu respektieren.
 
Natürlich sind solche Konstrukte nichts Absolutes. Das lässt sich gerade am Beispiel der Geschichte leicht nachweisen. Denn inwiefern ist die Geschichte Bayerns wirklich "deutsch"? An der Seite des napoleonischen Frankreich kämpfte es in der Schlacht bei Austerlitz gegen die Habsburger (1805), dann zog es mit den Habsburgern in der Schlacht bei Königgrätz gegen die abtrünnigen Hohenzollern (1866) und nicht viel später folgte es doch den Hohenzollern im Krieg gegen Frankreich (1870-71). Und dennoch: Die Flexibilität von kollektiven Identitäten, also auch von Völkern, bedeutet nicht, dass solche Konstrukte unmöglich oder unwahr sind. Im Gegenteil: Vorstellungen gestalten unsere Welt weitgehend mit und sorgen z. B. dafür, dass die sezessionistische Bayernpartei kaum noch Stimmen bekommt, obwohl Bayern auf ein gutes Stück eigener Geschichte zurückblicken kann; und zu gleicher Zeit sorgen sie z. B dafür, dass es die Tschechoslowakei nicht mehr gibt, obwohl die Slowaken bis 1993 eigentlich kaum Eigenstaatlichkeit hatten.
 
Die Deutschen können also nicht nur als Bürgerschaft bzw. Staatsnation, sondern auch als Volk agieren. Und das tun sie auch, wenn es nicht um sich selbst geht, sondern um andere: die Minderheiten, die in Deutschland leben, oder die Deutschen, die im Ausland als Minderheiten leben. Wenn es zu diesen Fragen kommt, dann gibt es schon ein deutsches Volk. Ob die Deutschen sich aber erlauben können, auch im Inland, also im eigenen Häusle, wieder Volk zu sein?
 
Um nach den mannigfaltigen Referenten zu beurteilen, mit denen wir während dieses viertägigen Seminars gesprochen haben und die sich mit solchen Fragen immer sehr schwer getan haben: Nein, das können, sollen und dürfen sich die Deutschen noch immer nicht leisten.
 
Ein Volk zu sein, ohne diese Identität vom Pass abhängig zu machen bzw. auf diesen zu reduzieren – das wird im heutigen Deutschland vielen gestattet, nur nicht den Deutschen selbst.

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

14 Kommentare

  1. Mit diesem sog. “volkstumbezogenen Vaterlandsbegriff” stehen Sie in der geistigen Tradition der Deutschen Burschenschaft.

  2. @ Corpsstudent

    Die Burschenschaften führten zwar nicht erstmals eine Vorstellung von einem den Deutschen gemeinsamen Band ein, aber die sie prägten die Entwicklung solcher Vorstellungen v. a. im Vormärz erheblich mit.

    Allerdings weiß ich nicht, an welcher Stelle du hier den Begriff “Vaterland” gelesen hättest.

  3. 1815 bestand der Deutsche Bund aus 38 Staaten. Destowegen lehnten die Burschenschaften einen staatsbezogenen Vaterlandsbegriff von Anfang an ab. “Volkstumsbezogen” aber meint ein Bekenntnis zur deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft und schliesst damit auch heute noch neben Österreichern, Tirolern u.a. eben auch die Siebenbürger Sachsen ein. Würde man damit territoriale Ansprüche verbinden so wäre dieses Vaterland wieder eines im staatsbezogenen Sinne. Ich habe den Begriff “Vaterland” in Deinem Blog nicht gelesen aber Du meinst ihn ( den volkstumbezogenen ) indem Du Volkstum als sprachliche bzw. kulturelle Größe anerkennst.
    Theodor Herzl erfuhr ihn in seiner Burschenschaft Albia Wien. Inwieweit dies den Zionismus inspirierte, vermag ich nicht einzuschätzen. (Würde mich aber interessieren)
    Im übrigen ist dieser Begriff eine völkerrechtlich anerkannte Größe (“Selbstbestimmungsrecht der Völker”) aber in der Bundesrepublik problematisiert aus allseits bekannten Gründen.

  4. @ Corpsstudent

    Im Grunde genommen ja – und dennoch gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen dem nationalen Moment unter damaligen und heutigen Deutschen:

    Die Burschenschafter wollten über die einzelnen Staaten hinausgehen und sie in einem einzigen Nationalstaat, einem deutschen “Vaterland” aufgehen lassen. Indem sie sich auf das deutsche Volk beriefen, versuchten sie ihre Ansprüche auf bürgerliche Rechte gegen entgegengesetzte Ansprüche der verschiedenen Herrschergeschlechter durchzusetzen.

    Demgegenüber ist im heutigen Deutschland bzw. der Berliner Republik sowohl die (zumindest so wahrgenommene) Einheit im deutschen Nationalstaat als auch die im Namen der Volksmasse beanspruchte Bürgerrechte schon (wieder) erreicht. Im Einklang mit diesen wesentlichen Änderungen im nationalen Zusammenhang setzt sich auch das nationale Moment in Deutschland anders zusammen, was aus meiner Sicht schließlich dazu führt, dass die Suche nach einem deutschen Volk heutzutage in der umgekehrten Richtung läuft: Nicht über das Staatliche hinaus, damit verschiedene Staaten zu einem Volk werden, sondern weg von der Fokussierung aufs Staatliche, das nun grundsätzlich mehrere, ja zahlreiche Völker umfasst, und zurück in andere, weitaus grundlegendere Kriterien zur Bestimmung der eigenen Identität, wie etwa die oben erwähnten “Sprache, Kultur und Geschichte”.

    Mit anderen Worten: Weil das Staatliche die damals verbreitete Vorstellung vom deutschen Volk untermauern sollte, war die Beschäftigung mit dem pandeutschen Staat bzw. die Strebung nach derartiger Staatlichkeit der ausgesprochene Ausdruck des Bekenntnisses zum deutschen Volk, während es heute gerade das Staatliche ist, welches die Vorstellung vom deutschen Volk unterminieren kann, indem es das Konstrukt des Volkes auf die Staatsangehörigkeit, also auf eine bundesrepublikanische Staatsnation bzw. eine bloße Bürgerschaft reduzieren lässt. Somit hat sich das Staatliche im Laufe der neuzeitlichen Geschichte der Deutschen von einem durchaus positiv bewerteten Element im nationalen Moment in ein etwas problematisches, weil wackeliges Element verwandelt, dem man bei der Reflexion über die eigene Nationalidentität nicht mehr so unkritisch gegenüberstehen soll.

    “[…] indem Du Volkstum als sprachliche bzw. kulturelle Größe anerkennst.” – Diese Aussage stimmt nicht ganz. Zwar bin ich (ebenfalls) der Auffassung, dass Sprache und Kultur ausschlaggebende Faktoren bei der Konstruktion von Nationalidentitäten sind; jedoch wird in den oben besprochenen Fällen der Friesen, der Dänen, der Sorben und der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit das Volkstum nicht von mir, sondern von der Bundesrepublik in Verbindung mit “Sprache, Kultur und Geschichte” gebracht.

    Und bei alledem darf man eines nicht vergessen: Der Deutsche Bund bestand zwar aus nunmehr völlig souveränen Staaten, deren Oberhäupter zudem nicht immer Deutsche waren; aber seine Bedeutung liegt darin, dass es einen solchen Bund, d.h. ein die Deutschen weitgehend umfassendes Band, überhaupt gab. Wäre es nach der Auflösung des Alten Reiches und dem Sieg über das napoleonische Frankreich nicht zur Gründung des Deutschen Bundes bzw. zur Neugründung dieses pandeutschen Bandes gekommen, so wäre es später vielleicht auch gar nicht zu einem deutschen Nationalstaat gekommen. 1815 war m. E. der historische Augenblick, wo die Zusammengehörigkeit der deutschen Nationen – verkörpert damals durch deren Herrscher – erstmals bestätigt wurde. Mehr zu meiner Interpretation dieses Augenblicks als Grundsteinlegung des modernen Deutschlands findest du in der “Zeitreise durch Deutschland”: http://www.chronologs.de/…eise-durch-deutschland

    Übrigens bin ich – selbst als Außenseiter – kein großer Unterstützer der Vorstellungen von deutscher Einstaatlichkeit, mehr dazu findest du im Beitrag “Deutschland? Aber wo liegt es?”: http://www.chronologs.de/…2008-06-12/deutschland

  5. @ Corpsstudent: PS

    Das mit den Juden ist viel komplizierter, als man normalerweise annimmt. Herzl hat sicherlich sehr viel dazu beigetragen, dass das nationale Moment bei den Juden abermals in Erfüllung ging und zwar erfolgreicher denn je. Jedoch hat er in keinem Vakuum agiert: Das nationale Moment nahm nach dem Scheitern der jüdischen Volksaufständen im 1. und 2. Jh. n. Ch. verschiedene, zwar weniger prägnante Formen an, erlosch aber nie, sodass diese Energien noch Ende des 19. Jh. wirksam waren: 1881-82 fand z. B. eine Rückkehrwelle von Juden aus dem Jemen statt, die nichts mit Herzl zu tun hatte, weil dieser erst später “erwachte”. Dasselbe gilt auch für die Juden im damaligen Europa (vgl. die Tätigkeit der osteuropäischen Bewegung “Chibbath Zion” bzw. “Liebe zu Zion” ab 1881).

  6. @ Corpsstudent: PPS

    Apropos Tiroler:

    Auch der besagte Beamte hat die Südtiroler erwähnt und zwar als Beispiel für “Deutschstämmige”, die wie die Siebenbürger Sachsen ebenfalls zu jener Vorstellung vom deutschen Volk gerechnet werden können, welche im Rückschluss aus den amtlichen Kriterien hervorgeht, anhand deren nationale Minderheiten im deutschen Nationalstaat zu bestimmen sind (und ich füge noch hinzu, dass das zudem im Einklang mit den im Bundesvertriebenengesetz festgelegten Kriterien für deutsche Volkszugehörigkeit steht).

    Aber im Gegensatz zum gedanklichen Zug der Burschenschaften sind durch dieses Beispiel keine staatlichen Bestrebungen zum Ausdruck gekommen, d.h. es ging damit nicht die Vorstellung einher, man müsste ein Deutschland herbeiführen, dessen südliche Grenze die Etsch bildet. Im Gegenteil: Die Deutschstämmigkeit der Südtiroler gewinnt umso mehr an Bedeutung, je weniger man sich (auch vor dem Hintergrund der EU) für das Staatliche interessiert.

  7. @ Corpsstudent

    Mir ist eine andere Formulierung für meine Sicht eingefallen, mit der ich vielleicht besser erklären kann, was ich in meiner gestrigen Antwort gemeint habe:

    Der burschenschaftliche Vaterlandsbegriff diente als Vision zur Überwindung der politischen Zersplitterung innerhalb des Bundes. Mit ihm sollten die Weichen gestellt werden für den pandeutschen Nationalstaat, der nicht den Bedürfnissen unterschiedlicher Herrschergeschlechter, sondern denen des gesamten Volkes gerecht werden und daher wesentlich demokratischer (sowie viel zentralistischer) gestaltet werden sollte, wie man der nicht verwirklichten Paulskirchenverfassung von 1849 entnehmen kann.

    Diese Art von politischer Bestrebung ist nach der Wende 1989/90 ziemlich irrelevant geworden, hinzu ist auch die EU gekommen, die seit 1995 Österreich und die Bundesrepublik de facto “vereinigt” (deswegen gab es seinerzeit Diskussionen, ob der Beitritt überhaupt zulässig ist). Daher ist es – zumindest meiner Einschätzung nach – relativ selten der Fall, dass die Reflexion über ein deutsches Volk mit nationalstaatlichen Aspirationen einhergeht.

    Wenn z. B. in Südtirol vom Vaterland die Rede ist, ist damit kein großdeutscher Nationalstaat gemeint, selbst die Bewegung “Süd-Tiroler Freiheit” erstrebt nur die Rückkehr zu Österreich.

  8. Auch ich kann hier nur einleiten mit „Im Grunde genommen ja“ aber auch mit den Burschenschaftern ist es komplizierter als man normalerweise annimmt. Zunächst geht der Volksbegriff auf Herder zurück („Über den Ursprung der Sprache“) Im 18.Jh. war Volk noch keine gängige Metapher. Alle waren Untertanen. Es folgte 1815. 1918 hat die Deutsche Burschenschaft (=DB) den Volksbegriff um den Rassebegriff erweitert, somit biologisch begründet und gleichzeitig eingeengt. Schweizer, Siebenbürger Sachsen und andere staatlich nicht integrierbare deutsche Siedlungsgebiete fielen raus. Jetzt galt „ein Volk, ein Reich“, d.h. das Deutsche Reich in den Grenzen von 1914 + Republik Österreich + Sudetenland + Südtirol. Erst 1963 verzichtete die DB offiziell auf den Staatsbezug. Aus „völkisch“ wurde wieder „volkstumsbezogen“. Zum Volk werden wieder alle kulturell Volksbezogenen gezählt wie bspw. die deutschsprachigen Schweizer (obschon die nie zum Deutschen Bund gehörten), die Deutschen in Oppeln und nun auch bspw. die deutschen Muttersprachler in Pennsylvenia.
    Ja, mit solchen Problemen plagen sich nur Völker, die nie in einem Staat aufgegangen sind. Das unterscheidet Ost- von Westeuropa.
    Meines Wissens unterschied man auch zweierlei jüdische Korporationstypen:
    Die Angehörigen der einen sahen sich vom deutschen Volk einzig durch ihre Religionszugehörigkeit unterscheidbar. Die anderen pflegten ein zionistisches Selbstverständnis.
    So war das auch in Tschernowiz. Dort, an der östlichsten deutschsprachigen Universität hatten alle Ethnien das deutsche Korporationswesen übernommen. Das waren dort die wahrhaft multikulturellen Jahre 1875 – 1918.

  9. PS

    Die Tschernowitzer Studenten lebten also ihr jeweiliges Volkstum unter Verhältnissen, die denen westeuropäischer Städte unserer Tage glichen. Da ist mehr Anstrengung gefordert, sich seiner Identität zu versichern als in einem oberbayerischen Bergdorf. Das liegt im Wesen der Moderne – die Nationalstaaten überleben sich und das Volkstum wird eine Frage des Bekenntnisses und es wird entortet fortbestehen. Und es wird sich dazu geeignete Strukturen schaffen müssen – wie damals in Tschernowitz.

  10. @ Corpsstudent

    1. Danke, ich kenne mich mit der heutigen “Szene” der Burschenschaften kaum bis gar nicht aus. Kann man den Beschluss von 1963 irgendwo im Internet nachlesen?

    2. Was meinst du mit dem Volk als “Metapher”? Hat der Begriff aus deiner Sicht eine “eigentliche” Bedeutung und wenn ja, welche? Jedenfalls war der Volksbegriff als solcher auch vor Herder keineswegs unbekannt. Schon die hebräische Bibel spricht ständig von Völkern und zwar qualitativ, d.h. im Sinne von unterschiedlichen Stämmen und Nationen (selten auch quantitativ, d.h. im Sinne von Volksmasse bzw. Untertanenschaft). Im Laufe der Zeit erhielt der Begriff verständlicherweise unterschiedliche Bedeutungen. Im deutschen Mitteleuropa wurde er ansatzweise seit Mitte des 18. Jh. wieder qualitativ aufgefasst. Im Zuge der Befreiungskriege und umso mehr nach deren aus deutscher Sicht erfolgreichem Ende erfuhr in den deutschen Landen dieser Begriff eine weitgehende Politisierung: Die Vorstellung vom einen Volk ermunterte das Bürgertum, sich der politischen Zersplitterung und der darauf basierenden Bevormundung durch die Herrschergeschlechter zu widersetzen. Aber das bedeutet nicht, dass es vor alledem, also etwa in der Antike und im Mittelalter, noch keine Vorstellungen von Völkern gegeben hätte. Man denke etwa an die Figur von Jeanne d’Arc und das ausgesprochen nationale Moment, das in dieser mittelalterlichen Figur zum Ausdruck kam.

    3. Auch diejenigen Juden, die sich als “Deutsche mosaischen Glaubens” verstanden, interpretierten ihre deutsche Identität großteils nicht im germanisch-ethnischen Sinne, schon gar nicht im biologischen. Im Gegenteil: Das Konstrukt eines deutschen Volkes stellten sie sich meistens nach französischem Muster vor (natürlich mit anderen Inhalten bzgl. Kultur und Werte, wie es sich seinerzeit gebührte). Allerdings gab es auch eine kleine Strömung, welche in den deutschen Juden einen der deutschen Altstämme erblickte, neben den Alemannen, Bajuwaren, Franken etc. Begründet war diese Vorstellung, soweit ich weiß, in dem Vorhandensein von Juden in bestimmten Städten auf den Siedlungsgebieten der nach Westen rückenden germanischen Völker. Man dachte sich wohl: Wenn Neuankömmlinge wie die Sachsen, die Schlesier und die Preußen dem deutschen Volk angehören, dann erst recht wir, weil die Juden ja schon viel länger Teil “Deutschlands” sind.

  11. Zu 1. Das war Fuxenstunde im Corps zum Thema, welche Prinzipien uns, die Corps, von den anderen Korporationsverbänden unterscheiden bzw. was uns verbindet.
    Liegt schon ein paar Jahre zurück. Nun hat jemand für mich recherchiert und ist fündig geworden in:
    Hans Georg Balder
    “Geschichte der deutschen Burschenschaft”
    Seite 403 und Folgende.
    Dort heißt es, auf dem Burschentag zu Landau sei der “volkstumsbezogene Vaterlandsbegriff” 1963 erstmals definiert worden. Doch erst 1971 habe er Verfassungsrang (Verfassung der DB) erhalten. Völkischer und volkstumsbezogener Vaterlandsbegriff wurden dabei klar voneinander unterschieden.

    Zu 2. Den Begriff “Metapher” habe ich unglücklich gewählt.
    “Volk” (ein natürlicher Zusammenschluss) ist eine feststehende objektive Größe. Das war in der Tat schon vor Herder bekannt. Doch er hat das Volkstum zu einem sittlichen Wert erhöht indem er ihm Volksgeist und Nationalcharakter konzidierte. Er hat insbesondere auch die osteuropäischen Völker (und natürlich die Deutschen) ihrer selbst bewusst gemacht. Nun fühlten sie sich berechtigt, sich als Nation zu konstituieren. Und das beinhaltete den Willen zum Staat. Sie drängten vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Herder gab dem Begriff das qualitative Moment. Das schätzen wir wohl beide in gleicher Weise ein.
    Du fragst, welche Bedeutung ich dem Begriff “Volk” beimesse.
    Ich denke, ein Volk ist ein natürlicher Zusammenschluss, eine menschliche Gemeinschaft, die gekennzeichnet ist durch gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition, verwandtes Brauchtum, Sitte und ein gemeinsames Schicksal.
    Und “Was ist des Deutschen Vaterland”(Ernst Moritz Arndt)?
    Es ist nicht an die Gegenwart gebunden. In ihm ist die Geschichte präsent. Es ist eine geistige Macht. Es ist gemeinsame Not. Es ist organisch gewachsen und greift über den persönlichen Lebensraum hinaus. Und es muß immer wieder neu errungen werden.
    Das Vaterland ist nicht der Staat. Letzterem diene ich loyal, das Vaterland liebe ich. Und für wen bin ich bereit, als Wehrpflichtiger mein Leben zu riskieren? Für das deutsche Volk.

    Zu 3. Hab Dank für Deine Erläuterungen zum Selbstverständnis der “Deutschen mosaischen Glaubens” .

    Noch ein Hinweis :
    Kurt U. Bertrams
    “Der Kartell-Convent und seine Verbindungen”
    WJK-Verlag, 2008
    ISDN 3933892-694

    Es behandelt den Eigenweg jüdischer Korporationen im deutschsprachigen Raum.

  12. @ Corpsstudent

    Ich habe mich tatsächlich gefragt, inwiefern ein “Vaterland” volkstümlich oder biologisch aufgefasst werden kann. Denn für mich steht der Vaterlandsbegriff in erster Linie im geographischen Zusammenhang. Somit ist das “Vaterland” in meinen Augen zwar nicht nur, aber wesentlich auch mit dem Staatlichen bzw. dem Nationalstaat verbunden, dessen grundlegendste Voraussetzung es darstellt, indem es für den Nationalstaat einen geographischen Ausdehnungs- und Manifestationsraum sowie eine historische Sinngebung bietet.

    Aber wenn man das so wahrgenommene Vaterland als das gegebene Siedlungsgebiet eines Volkes versteht, dessen Umfang (d.h. das Konstrukt des Volkes) volkstümlich, biologisch etc. zu bestimmen sei, dann ist die Relevanz solcher Kriterien für den jeweiligen Vaterlandsbegriff wieder klar.

    Ob Völker in meinen Augen einen jeweils eigenen “Geist” und “Charakter” haben? Wenn, dann aber nur in stark allgemeiner Form. Ich könnte z. B. sagen, dass es für Juden ziemlich typisch ist, sich verfolgt zu fühlen (ob zu Recht oder nicht), aber ob und wie dieses “Merkmal” auch bei einem beliebigen Einzelnen zum Ausdruck kommt, hat m. E. nichts mehr mit diesem allgemeinen “Charakter” zu tun.

  13. Du sprichst zwei Kriterien für Volk und Vaterland an, über die ich auch nachgedacht habe: Volk – Abstammung, Vaterland – ein (womöglich geschlossener) Siedlungsraum.
    Welche Bedeutung die DB diesen beiden Kriterien zumisst, ist mir nicht bekannt.
    Ein mir vertrautes Beispiel: Im Kosovo leben Serben, Albaner, Türken, Roma, Ägypter (= eigentlich auch Roma), Aschkali und Goraner. Früher auch noch Kroaten, Zinzaren, Juden. Sie alle definieren sich als Volksgruppen über Abstammung und/oder Religion. So sind die Goraner Slawen, aber auch Muselmanen. Die Aschkali sind Zigeuner, die zumeist den Derwisch-Orden (Synkretismus Islam/Zoroaster) nahe stehen während die Ägypter Christen sind. Albaner sind nicht nur Muselmanen. 10% sind katholisch und in Albanien albanisch-orthodox.
    In Georgien und in Frankfurt leben noch weitaus mehr Volksgruppen in einem Siedlungsraum nebeneinander (manchmal, nicht nur in den Träumen ‚guter Menschen,‘ auch miteinander). Die Grenzen eines Staates soll nun die vorgenannten Völker in einem geschlossenen Siedlungsraum einhegen und zu einem „Staatsvolk“ vereinen. Wehe, wenn ein Volk seinen Vaterlandsbegriff erneut in Deckung bringen will mit dieser Staatshülle. Dann ist die Machtfrage gestellt, die zumeist blutig beantwortet wird. Deshalb darf das Vaterland nicht mehr als Staat gedacht sein.
    Wenn ein, in Frankfurt/Main lebender Migrant die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik erhält, dann wird er sich damit nicht unbedingt dem deutschen Volk zugehörig fühlen. Erheben wir die Abstammung zum relevanten Kriterium, dann bleibt ihm Zugehörigkeit auf immer verwehrt. Setzen wir statt dessen den Willen zur Aneignung deutscher Identität, dann werden Convertiten gewonnen, in deren Händen ich die deutsche Idee allemal besser aufgehoben weiß als beim ressentiment-geladenen ‚Schwarzen Block‘ deutscher Abstammung auf irgendwelchen Chaostagen. (Herder sagt, ein Volk ist ‚ein Gedanke Gottes‘. Es hat eine Aufgabe zu erfüllen. Mir gefällt diese Formulierung, denn sie geht über „Geist“ und „Charakter“ hinaus.) Also Bekenntnis statt Herkunft – welche Perspektive hätten sonst bspw. die Kinder aus binationalen Ehen? So stelle ich persönlich auch die geistige Vaterschaft neben und nicht über die Biologische. Schön, wenn das eine mit dem anderen verknüpft ist – muß aber nicht.
    Zum Vaterland gehört auch die kollektive Erinnerung an einstmals besiedelte Landschaft. Und wenn ich nach Klaipeda reise, dann auch nach Memel und dann möchte ich dort die Option haben, ein Haus zu erwerben um mich niederlassen zu können ohne deshalb meinen Nachbarn vertreiben zu wollen und ohne „Zweistaatenlösung“. Ich achte Constitution und Convention des gegebenen Staates (im ungünstigsten Fall erleide ich ihn) und lebe als Angehöriger meines Volkes in meinem Vaterland. Landschaft und Volkstum beeinflussen einander maßgeblich. Der Verlust der östlichen Siedlungsgebiete ist auch Verlust von, die deutsche Volksseele prägenden Elementen. Wie es uns geistige Heimat bleiben kann durch alle Zeiten, daß haben die Juden mit dem nie verlorenen Bezug zum Heiligen Land über fast 2000 Jahre vorgelebt – ohne Manifestationsraum.
    Mir drängt sich dabei die Frage auf, ob diese metaphysische Anstrengung (Bewahrung einer Wirklichkeit außerhalb des unmittelbar Erfahrbaren) auch ohne Religion gelungen wäre. Also auch Religion als Kriterium für die Volkszugehörigkeit?
    Ob man sich als Jude dem deutschen Volk zugehörig fühlen kann, wird jeder Jude für sich selbst klären. Doch wenn Du von Dir als Jude sprichst, dann nehme ich an, daß Du damit Religions- und Volkszugehörigkeit als eine Einheit verstehst. Ist dann für Dich „Eretz Yisrael“ (wie es die Charedim verstehen) Dein Vaterland oder siehst Du es identisch mit dem gegenwärtigen Staat Israel?
    Christen (abgesehen vielleicht von einigen evang. 68ern) und Juden sind begünstigt, wenn es um den Zugang zur deutschen Geistesgeschichte geht. Es wird aber auch ethisch bzw. religiös fundierte Wertesysteme geben, die dabei eher hinderlich sind. Meine Religions- und meine Volkszugehörigkeit sehe ich zwar in kultureller Verbindung stehend, betrachte sie aber nicht als unauflösliche Einheit. Und was ist mir wichtiger?Einzig Gott ist etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann.

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