Warum ich Jude bin

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

…lautet eine Frage, die mir das Leben in der Fremde, im nichtjüdischen Ausland, in besonderer Weise stellt.
 
Nicht, dass man sich im jüdischen Lande diese Frage nicht stellt. Aber dort ist es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, Jude zu sein. Diese Selbstverständlichkeit können gerade diejenigen, die dort geboren und aufgewachsen sind, nur schwerlich wahrnehmen. Dadurch wird diese Frage notwendigerweise zu einer philosophischen.
 
Ich habe mir also auch schon dort oft diese Frage gestellt, in philosophischen Werken nach Antworten gesucht und mich in jüdische und religiöse Ideologien vertieft, bin den Nationalreligiösen in meiner Familie gefolgt, habe mich mit den Positionen der chassidisch-ultraorthodoxen Verwandtschaft auseinandergesetzt und bei alledem immer wieder das übersehen, was ich als Jude eigentlich schon von mir aus war und bin.
 
Meinen deutschen Lesern, die etwa in Württemberg oder Thüringen geboren sind, kann ich es vielleicht veranschaulichen, indem ich sie bitte, sich die Frage zu stellen, warum sie Deutsche sind.
 
Einige von euch denken sich jetzt wohl: Warum denn nicht? Warum soll ich eigentlich kein Deutscher sein? Warum soll sich diese Frage überhaupt stellen?
 
Dass Juden – und zwar auch ganz normale Juden und nicht nur die ausländischen – sich trotzdem diese Frage stellen, hat m. E. mit der fehlenden Bodenständigkeit zu tun, nicht zuletzt aber auch mit der Notwendigkeit, sich angesichts andauernder Mordgefahr immer wieder neu für das Leben als Jude im jüdischen Land entscheiden zu müssen.
 
Aus der Ferne sieht es aber anders aus. Man gewinnt eine Perspektive. Die selbstverständlichen Prämissen der eigenen Identität, die Berge, auf denen man steht und die man daher normalerweise kaum beachtet, werden – gerade aus der Ferne blickend – langsam doch sichtbar. Und ich darf mir heute nochmals die Frage stellen:
 

Warum bin ich Jude?

 

Ich bin vor allem deswegen Jude, weil ich eine jüdische Geschichte habe. Keine andere. Deswegen, weil mein Vater Jude war und meine Mutter auch. Weil ihre Eltern und deren Eltern wiederum, Großeltern und Urgroßeltern, einfach Juden waren. Nichts anderes. Wäre etwa meine Mutter oder deren Mutter Polin oder Deutsche, stünde mir eine zweite Identität zur Wahl. Aber wie die meisten Deutschen oder Russen oder Tschechen, die von beiden Seiten einfach das sind, was sie nun mal sind, habe ich, sofern ich überhaupt irgendeine Volkszugehörigkeit haben will, ebenfalls keine echte Wahl. Ohne andersartige Identitäten infrage zu stellen, bin ich ein Resultat meiner jüdischen Familie, meines jüdischen Stammbaums und daher einfach Jude.
 
Dann bin ich deswegen Jude, weil ich im jüdischen Lande geboren und aufgewachsen bin. Deswegen also, weil die Landschaften, die mich von Anfang an geprägt haben, keine schwäbischen, bessarabischen oder sonstwie fremd waren. Die Berge und Flüsse der Bibel; die Täler jüdischer Bauern und Strände jüdischer Fischer; die uralten Dörfer, die trotz langer Besatzung durch Fremde ihre jüdischen Namen beibehielten; jene judäische Wüste, die auch heute noch so majestätisch wirkt; jene heilig anmutende Luft, die die großen Propheten, die innovativsten Rabbiner und die wirksamsten Kabbalisten inspirierte; und jener Himmel, unter dem mein Volk entstand und seine besten Zeiten erlebte: Das sind die ungreifbaren Elemente, die meine Umwelt bildeten, mit denen ich die Welt überhaupt kennen lernte und welche die tiefsten Inschriften in meinem inneren Wesen hinterließen. Denn der Mensch, lautet ein von Saul Tschernichowski geprägtes Sprichwort, ist das Spiegelbild seiner Heimatlandschaften. Es mag sich vielleicht sehr romantisch anhören, aber meiner Erfahrung nach ist es im Kern doch wahr.

Jude bin ich deswegen, weil meine Muttersprache keine andere ist als die einzige, die mein lange zerstreutes Volk durch alle Zeiten hindurch und in allen Ländern zusammengehalten hatte, bis es in der alt-neuen Heimat wieder zu sich selbst fand. Deswegen, weil die Sprache, die meine tabula rasa beschriftet und gestaltet hat, die jüdische Nationalsprache ist und von der hebräischen Bibel über weitere, ebenfalls reiche Sprachschichten unserer Volksgeschichte bis in die heutige Zeit hineinreicht und somit auch zu mir.
 
Jude bin ich deswegen, weil ich von Anfang an in einen jüdischen Kindergarten, auf eine jüdische Schule und dann an eine jüdische Universität gegangen bin, ohne dass dies irgendeine Besonderheit dargestellt hätte; deswegen, weil all meine Kindheitsfreunde ganz selbstverständlich Juden waren, ohne dass ich mir Gedanken darüber machen musste oder konnte; deswegen also, weil meine ganze Umwelt – egal welcher Weltanschauung man jeweils gewesen sein mag, ob etwa gläubig oder nicht – jüdisch war, und insbesondere deswegen, weil mir diese Verhältnisse lange Zeit kaum als solche bewusst waren.
 
Ich bin deswegen Jude, weil ich bis ins Erwachsenenalter hinein vor allem von jüdischer Literatur, jüdischer Kultur, jüdischer Politik, jüdischer Philosophie, jüdischer Publizistik, jüdischer Kunst, jüdischer Musik und jüdischem Kult umgeben war, und insbesondere deswegen, weil ich gerade dadurch ganz normal war.
 
Jude bin ich auch deswegen, weil ich dieses Wunder jüdischer Blüte sowie die grundlegende Tatsache, dass ich Bürger des jüdischen Nationalstaates überhaupt sein kann, nicht der Gunst Fremder, sondern der Einsatzbereitschaft und Tapferkeit jüdischer Soldatinnen und Soldaten in unserem eigenen, eben jüdischen Militär zu verdanken habe. Deswegen also, weil ich mein Leben – egal, wo mich die Reise noch hinführt – mit diesen herrlichen Voraussetzungen jüdischer Souveränität anfangen durfte, von denen meine Ahnen nur träumten und beteten.
 
Und schließlich bin ich erst recht deswegen Jude, weil ich von all dem Obigen nicht nur das eine oder andere, sondern das alles zugleich bin.
 
 


 
 
Anhang:
Die jüdische Gottheit und meine jüdische Identität
 

 
An dieser Stelle liegt es nahe, auch zu erklären, was ich mein Jüdischsein nicht zu verdanken habe, nämlich der Ideologie.

Ja, als Jude habe ich eine Vorstellung von der intimen, weil exklusiven Beziehung zwischen meinem Volke und dessen Gottheit, was für die meisten meiner Volksgenossen so selbstverständlich ist, dass sie, als ob es auf Erden keine anderen, nichtjüdischen Paradigmen gäbe, diese Gottheit einfach "Gott" nennen.

Und ja, diese Tatsache bedeutet, dass ich nicht zuletzt auch in ideologischer Hinsicht einen eigenen Platz habe im großen Spektrum jüdischer Positionen, zwischen dem Archetyp des atheistisch-säkularen Juden ("Jahwe ist nur eine Erfindung Israels") einerseits und dem Archetyp des mystisch-kabbalistischen Juden ("Israel ist eigentlich Teil Jahwes") andererseits, deren sehr unterschiedliche Auffassungen dieser einzigartigen Beziehung den innerjüdischen Diskurs umrahmen.

Aber schließlich bin ich nicht Jude, weil ich jüdische Gottesvorstellungen zu Eigen habe. Im Gegenteil: Ich habe jüdische Gottesvorstellungen zu Eigen, weil ich Jude bin.

Denn wäre ich in eine nichtjüdische Familie geboren, durch eine nichtjüdische Schule gegangen und inmitten einer nichtjüdischen Kultur aufgewachsen, so gäbe es heute kaum eine Chance, dass ich in mir ausgerechnet jüdische Gottesvorstellungen bergen würde.

Manchmal braucht es Zeit, viel Zeit, um gerade die einfachen Dinge zu erkennen.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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