Warum ich Rabbiner werden will

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

So lautet eine Frage, die mir bisweilen gestellt wird und freilich ihre Berechtigung hat.

Allerdings hat die Frage an sich nicht so viel mit mir zu tun, sondern vor allem mit dem Fragenden bzw. damit, was er sich jeweils unter "Rabbiner" vorstellt. Nicht wenige nämlich setzen den Begriff irrtümlicherweise mit dem christlichen "Geistlichen" gleich, obwohl viele, wenn nicht die meisten Juden, die diesen Titel führen, sich keiner Gemeinde verpflichtet haben.

Tatsächlich ist es ja auch im Christentum und insbesondere im evangelischen Christentum so, dass nicht alle studierten Theologen nach ihrem Abschluss in eine Gemeinde gehen und Pfarrer werden, obgleich nicht nur die intellektuelle Arbeit, sondern auch das Pfarrermäßige (die Seelsorge, die Diakonie etc.) genauso zum Curriculum ihres Studiums gehört hat wie es auch bei mir der Fall ist. Viele, vielleicht sogar die meisten Theologen ziehen also, sofern sie berufstätig sind, andere Arbeitsfelder vor. Manche von ihnen befassen sich eben mit dem Bereich, der mich anzieht: das Geistige.

Ein Rabbiner ist mithin kein Geistlicher bzw. Gemeindepfarrer, sondern einfach ein jüdischer Theologe, der – genauso wie seine evangelischen Kollegen – bei seiner beruflichen Prioritätensetzung je nach persönlicher Veranlagung die Gemeindearbeit höher oder aber auch niedriger einstufen kann als andere Tätigkeitsbereiche (im engeren bzw. herkömmlichen Sinne ist der "Rabbiner" – aramäisch für "groß" bzw. "Großer" – eine Art Jurist, der sich um halachische Fragen zu kümmern hat, aber keineswegs eine Gemeinde zu führen braucht. Auch ist keine jüdische Gemeinde, halachisch gesehen, bei ihrem normalen Funktionieren auf ein eigenes Rabbineramt angewiesen).

Rabbiner werden möchte ich also aus ein und demselben Grund, weshalb ich früher Historiker geworden bin: weil ich mich für die intellektuellen Herausforderungen interessiere.

 

Und Deutschland?

Deutschland "braucht" nicht nur jüdische Gemeinden, sondern auch jüdische Beiträge zum deutschen Geistesleben. Ob und wie die derzeitigen Gemeinden, in denen ältere Menschen selbst für deutsche Verhältnisse stark überrepräsentiert sind, den nächsten Generationenwechsel überleben, muss sich sowieso noch zeigen. Soll es ihnen gelingen, so wird es wohl noch zwei oder drei Generationen dauern, bis aus diesen Gemeinden eine "kritische Masse" der bildungsbürgerlichen Schicht hervorgeht, wie diese sich hierzulande im Laufe der Emanzipation entwickelte.

Denn es war eben diese Schicht, die das Bild des deutschsprachigen Judentums bis in den Krieg hinein geprägt und die mit ihm assoziierten Geistesleistungen hervorgebracht hat. Daher ist es schließlich auch heutzutage meistens nicht die jüdische Masse, sondern eben jener untergegangene Teil des deutschen Bildungsbürgertums, der betrauert wird – und zwar zu Recht, denn wenn es auf Zahlen ankäme, wäre das osteuropäische Judentum ja weitaus gedenkenswürdiger.

Deutschland bedarf folglich auch Menschen, die sich diesem wichtigen Aspekt zu widmen wissen. Selbstverständlich schließen sich die Gemeindearbeit und die Arbeit am Geistesleben nicht aus. Doch genauso, wie es Rabbiner gibt, die sich lieber der Gemeindearbeit widmen und intellektuell nicht so sehr zu spüren sind, werden hierzulande Rabbiner benötigt, die ihre Prioritäten anders setzen und imstande sind, dem Geistigen den Vorzug einzuräumen – und zwar am besten so, dass ihre Leistungen nicht nur für ein jüdisches Ghetto verwertbar, sondern auch für die christliche oder zumindest christlich geprägte Umwelt von Bedeutung sind, in deren Mitte sie leben.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

10 Kommentare

  1. die Frage ist..

    Hi Yoav,
    stimmt soweit ja alle was Du schreibst, aber in einem Punkt würd ich widersprechen oder fragen wollen: Glaubst Du, dass der Verlust des jüdischen Geistes hier wirklich betrauert wird? Hast Du den Eindruck, dass die nichtjüdische Umwelt hier in Deutschland darauf wartet und hofft, dass wieder Ideen und Beiträge von jüdischer Seite kommen?
    Ich habe nicht den Eindruck,- wünsche es Dir, mir,- uns allen aber eigentlich natürlich schon…however: god luck!

  2. @ Ramona

    Wie sehr der Verlust betrauert wird, kommt wohl auf die jeweils subjektive Wahrnehmung an. Da ich im Ausland sozialisiert worden und hier eher Außenseiter bin (und zudem fast ausschließlich in Kreisen verkehre, die nicht mehr als einen Bruchteil der bundesrepublikanischen Gesellschaft “vertreten”), hast du in dieser Frage wohl einen Vorteil.

    Ohnehin habe ich gemeint, dass – wenn schon betrauert wird – es eher der bildungsbürgerliche Biotop deutsch-jüdischer Geistesleistungen ist, der betrauert wird, als die jüdische Masse jenseits bzw. unterhalb dieser geistig sehr fruchtbaren Schicht. Daher kommt es – so mein Gedankengang – auch heute nicht nur darauf an, dass jüdische Gemeinden, also eine jüdische “Masse”, sich hier bloß etablieren kann.

    Ob überhaupt “genug” betrauert wird, ist wiederum eine andere Frage.

  3. @ Yoav, @ Ramona

    Lieber Yoav,

    schöner Beitrag, kann ich nur zustimmen – mit der kleinen Einschränkung, dass ich Vielfalt schon an sich für einen Wert halte und entsprechend den Verlust einer jüdischen Landgemeinde (wie es sie hier in Württemberg gab) genauso traurig finde wie den assimilierter Bürgerinnen und Bürger. Würde und Wert hat m.E. jede Religionsgemeinschaft in sich, es ist schön, aber nicht notwendig, wenn sie darüber hinaus Erwartungen und Idealen ihrer Umwelt entspricht.

    Liebe Ramona,

    ich denke schon, dass es in Deutschland ein breites Interesse am Judentum gibt und dass das Wiederaufblühen jüdischen Lebens zu Recht gefördert wird!

    So wird die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, an der auch @Yoav studiert, von Bund und Ländern gemeinsam finanziert und erlebt großes Interesse aus dem In- und Ausland. Und der Ministerpräsident von Baden-Württemberg hat letztes Jahr in einer Rede vor der Hochschule begründet, warum die (auch religiöse) Vielfalt “ein Wert an sich” sei, den die Gesellschaft nie wieder aufgeben dürfe. Das Redeskript hat die HjS veröffentlicht hier:
    http://www.hfjs.eu/…lrd.mpoettingerbild_2008.pdf

    Natürlich gibt es überall und in allen Ländern auch Leute, die Vielfalt verabscheuen und Minderheiten bzw. Religionen per se mißtrauen. Aber diese werden in Deutschland (schon rein demografisch) weniger, wogegen eine bunte und interessante Vielfalt schon zum Lebensalltag der jungen Generationen gehört. Daher bin ich für Deutschland und die hiesige, religiöse Vielfalt im Grundsatz optimistisch!

    Herzliche Grüße!

  4. @ Michael

    “Vielfalt” ist m. E. ein bestenfalls schlicht förmliches, tatsächlich jedoch äußerst vages Kriterium, hinter dem alles Mögliche, ja auch Widersprüchliches stecken kann – oder aber: gar nichts. Es leuchtet mir daher nicht ein, warum – sofern wir den Begriff zumindest ähnlich verstehen – ausgerechnet dieses hohle Kriterium bereits an und für sich einen “Wert” besitzen, geschweige denn darstellen sollte.

    Ansonsten:

    Jene Rede ist, glaube ich, in bestimmten Kreisen fast berühmt geworden… Hast du sie übrigens geschrieben?

    Früher hab ich auch mal von diesem Motiv Gebrauch gemacht und zwar in Bezug auf die Judenmission: Warenangebot auf dem freien Markt religiöser Ideologien? Ja, aber: Unlauterer Wettbewerb? Nein.

    Das heißt: Jeder Jude weiß, worauf die Kirche beruht, und die Kirche soll sich nicht verleugnen (vgl. etwa das erst vor kurzem erschienene Positionspapier des Zentralkomitees der deutschen Katholiken). Wer will, kauft; und wer es nicht will, der weiß das Angebot wie jedes andere abzulehnen. So oder so kann hier genauso wenig von “falschem” Willen die Rede sein wie bei jedem anderen Entschluss des Homo consumericus.

    Allerdings darf die Kirche damit ihre jüdische Zielgruppe nicht überfallen. Denn wenn man merkt, dass eine Dame einen Ring trägt, hat man sich doch zurückzuziehen.

    Aber das ist ja schon eine Frage des Anstandes.

  5. @Yoav- so gesehen hast Du natürlich recht- vielleicht bin ich auch einfach mißgünstig was das angeht. Ich denke – um es salopp zu sagen: die deutschen können froh sein, dass überhaupt Juden wieder hier leben – egal ob diese nun einen Beitrag zur “Geistesgeschichte” geleistet haben oder leisten werden. Ich habe schon Politikeräußerungen vernommen, die sagten: es seien mittlerweile schon wieder mehr als genug Juden im Land” – und das obwohl in der tat- ja noch nichtmal viele in deinem Sinne SICHTBAR sind. Aber das ist ein weites Feld- um mal in einen literarischen fettnapf zu treten!
    @ Michael
    ja und nein. Es gibt natürlich einige erfreuliche Menschen hier mit echtem Interesse an jüdischen Beiträgen. Aber Herrn Oettinger zum beispiel rechne ich persönlich nun weniger dazu- auch wenn er eine blumige Rede gehalten hat – er ist ein Wolf im Schafspelz, und ab und an blitzt sein Fell hervor
    http://www.hagalil.com/…mitismus.php?itemid=1386
    …und deshalb bin ich eher skeptisch, wo Yoav optimistisch ist. Ich höre halt auch was jenseits der offiziellen Reden gesagt wird und was gesagt wird, wenn vermeintlich kein Jude dabei ist- und das macht eher pessimistisch. Nichts desto trotz freu ich mich über Yoavs Optimismus! Ist ja auch produktiver!Und letztlich ohnehin die einzige Alternative!

  6. Optimismus

    Ehrlich gesagt, wusste ich gar nicht, dass der obige Blogeintrag optimistisch klingt. Eigentlich scheint er mir etwa in Bezug auf die Aussichten der hiesigen Gemeinden, den Generationenwechsel zu überleben und in den nächsten Generationen eine intellektuelle Schicht aus sich hervorzubringen, eher vorsichtig als optimistisch…

    Jedoch freut es mich sehr, dass dieser Text – gerade so, wie er nun mal ist – manchen Leser wiederum doch etwas optimistisch anmutet.

  7. Vor dem Hintergrund Deines Beitrages über die “Prominenz der neuen Juden” möchte ich Dich fragen, warum Du ausgerechnet in Deutschland Deine Rabbinerausbildung machst. Israel hat hier doch, gerade auf intellektueller Ebene so viel mehr zu bieten. Warum also gerade ein mittelmäßiges Ausbildungsinstitut wählen, wenn Du etwas ganz anderes haben könntest? Was ist Dein Motiv?
    Du stellst den “prominenten neuen Juden” berechtigtes Fragen, ich frage mich aber auch, ob Du nicht ebenfalls genau da einzuordnen bist: jemand auf der Suche nach seiner Identität, der auch Bestätigung braucht (ein Motiv, das allen Bloggern irgendwie gemein ist), welche in einem Land, das jüdischerseits immer noch so ausgedünnt ist, so viel schneller zu bekommen ist: jeder Pieps der jüdischerseits gemacht wird, wird mit einer Aufmerksamkeit belegt, die gerade nicht jeder Pieps verdient hat und anderswo auch nicht bekommen würde. Ist da nicht auch bei Dir das vorhanden, was Du anderen vorwirfst, nämlich ein “Drang zur Selbstdarstellung” und eine gewisse Selbstvergewisserung durch die nichtjüdische Umwelt? In Israel kräht kein Hahn danach, was ein Rabbinatsstudent oder ein mittelmäßiger Rabbiner zu sagen hat, bei einer nicht meßbaren Anzahl an solchen.

    Eine Frage ist auch, warum sich keiner von jenen, die es tatsächlich betrifft – die Blogger und Prominenten der vorwiegend liberalen Szene, auf die der Artikel vermutlich gemünzt ist – dieser Diskussion stellt.

  8. @ Simbe

    Deine Frage ist durchaus berechtigt. Meine Antwort teilt sich in drei Punkte:

    1. Meine Interessen umfassen nicht nur das Eigene, also das Jüdische, in das ich eh geboren worden bin und mit dem ich aufgewachsen und geschult worden bin, sondern auch das Andere, was in meinem Fall vornehmlich das Deutsche ist. Wie diesem Blog zu entnehmen ist, bildet das Deutsche – als Sprache, Literatur, Geschichte, Kultur, Politik etc. – ein Leitmotiv, was mein Denken angeht. In Israel lässt sich dieser mir sehr wichtige Interessenbereich a) nur spärlich verfolgen und b) fast nur im Hinblick auf das Deutsch-Jüdische (Literaur, Geschichte etc.), was auch sehr wichtig, aber längst nicht alles ist. Eine Rabbinerausbildung in Deutschland ist für mich – ich rede hier für keinen anderen – ein Weg, um beides zu kombinieren: das Interesse fürs Eigene und jenes fürs Deutsche. Nicht zuletzt wären etwa die Vergleiche, die ich hier verschiedentlich sehr gerne zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk, der deutschen und der jüdischen Geschichte etc. ziehe, dort ziemlich uninteressant.

    2. Heutzutage lässt sich die geographische Entfernung vom Zentrum des Judentums mittels des Internets überbrücken: Wichtige Aufsätze, Vorträge von Rabbinern, Philosophen, Kritern etc. erscheinen auch im Internet in Form von Texten und manchmal sogar Audio- und Video-Aufnahmen, sodass ich auf diese Art und Weise meine intellektuelle Nährung mit den wichtigen Anregungen ergänzen kann, die nirgendwo in Deutschland zu bekommen sind. Ohne diese kommunikative Voraussetzung wäre ich höchstwahrscheinlich nicht in Deutschland.

    3. In Israel braucht man mich, ehrlich gesagt, nicht. Ja, jeder hat was beizutragen und keiner ist überflüssig, aber unterm Strich sind in Israel Denker tätig, die – was das Jüdische angeht – in ihrem jeweiligen Bereich die Positionen, die ich dort vertreten würde, weit besser vertreten können als ich. Zwar macht es keiner genau so, wie ich hier mache bzw. dort machen würde, und natürlich nicht in meiner thematischen Mischung (es hat ja jeder Denker seine eigene Mischung), aber schließlich ist der intellektuelle Abstand, den ich zum dortigen Diskurs habe, doch weit kleiner als mein Abstand zum hiesigen, sodass der Beitrag, den ich leisten kann, hierzulande wiederum weit größer ist als vermutlich dort. Man denke etwa an meinen fast verzweifelten Kampf gegen die hierzulande allgemein gültige Reduzierung des Judentums auf eine Religion, was nicht nur intellektuell nicht standhalten kann, sondern auch politisch höchst gefährlich ist (für die Juden allerdings, nicht für die Deutschen): Diese Tätigkeit ist hierzulande leider durchaus notwendig, aber im jüdischen Staat, der ja aus dem Gedanken entstanden ist, dass Israel, das jüdische Volk, einen Ansruch auf einen eigenen Staat im jüdischen Land hat, wäre sie vollkommen überflüssig.

    Soweit zu deiner Hauptfrage. Was deine sonstigen Anmerkungen angeht, die sich auf mich beziehen, so gilt meinerseits Folgendes:

    1. Ich werfe keinem etwas vor.

    2. Wie ich Michael schon in der Diskussion zur Prominenz der neuen Juden erklärt habe, geht es dort nicht darum, warum diejenigen, um die es da geht, in der Öffentlichkeit einen Platz haben wollen, was ich vollkommen einleuchtend finde und für einen allgemeinen Wunsch halte, den freilich nicht alle, aber doch viele Leute haben, vor allem Intellektuelle, und nicht zuletzt auch ich. Dort geht es nämlich um die Frage, warum man das ausgerechnet als Jude machen will, was man ja in diesen Fällen als Erwachsener zunächst überhaupt werden musste, sowie um die Frage, wie es sich erklären lässt, dass wir hier nicht mit seltenen Einzelfällen, sondern mit einem richtigen Phänomen zu tun haben (das Phänomen selbst wird dort notabene nicht bewertet).

    3. Wenn du mich schon fragst – und so habe ich dich zumindest verstanden -, ob es denn nicht so ist, dass “auch” (sic) ich gewisse Vorteile des Jüdischen zu genießen versuche, dann würde ich dich bitten, dir selbst die Frage zu stellen, was für Möglichkeiten ich denn hätte, um als Nichtjude aufzutreten. Ich habe ja nie die Entscheidung getroffen, Jude sein zu wollen. Meine Familie ist nichts anderes als jüdisch, mein Land kein anderes als das jüdische, meine Sprache keine andere als die jüdische, mein Kindergarten, meine Schule und meine Universität… Ich kann also gar nicht vorgeben, etwas anderes zu sein, und wenn ich auftrete, kann ich es folglich nur so tun, wie ich bin. Wenn das mit irgendwelchen Vorteilen einhergehen muss, dann gut, aber um mir eine Absicht zu unterstellen, müsste man zunächst nachweisen, dass ich es auch anders, d.h. nichtjüdisch machen könnte.

    4. Ich glaube nicht, dass die Positionen, die ich beziehe, mir in den Genuss dieser Vorteile bringen. Im Gegenteil: Sowohl im Bereich des Jüdischen als auch im Bereich des Deutschen vertrete ich Ansichten, die ziemlich (manchmal ganz) anders sind als das, was die hiesigen Eliten gerne hören. Insbesondere weichen meine Positionen ziemlich stark davon ab, was die meisten (v. a. tonangebenden) Deutschen von einem Juden erwarten möchten. Vielmehr bringt mich meine intellektuelle Redlichkeit in (bisweilen große) Schwierigkeiten, was den Weg in die Öffentlichkeit angeht. Mit anderen Ansichten wäre es mir sehr viel leichter, allerdings wären es dann eben andere Ansichten, die die Aufmerksamkeit genießen würden. Ob daran nicht vielleicht doch zu erkennen ist, dass es mir zwar auch, aber nicht in erster Linie um den persönlichen Erfolg geht, sondern um die Sache selbst?

    Im Hinblick auf deine letzte Frage, die sich auf die prominenten Proselyten bezieht, kann ich nur sagen, dass sie in aller Regel nicht so gerne darüber reden. Ich jedenfalls spreche keinen direkt darauf an, zumal das im Judentum für verpönt gehalten wird, einen Neuankömmling an seine fremde Herkunft zu erinnern. Woran diese Verschwiegenheit aber auf Seiten der Proselyten liegt, ist eine andere Frage. Die Antwort sieht beim einen bestimmt etwas oder ganz anders aus als beim anderen. Möglicherweise liegt die Verschwiegenheit bei einigen Prominenten (ggf. auch) daran, dass sie glauben, dass sie als Proselyten “weniger jüdisch” wirken würden und demzufolge weniger Öffentlichkeit hätten. Aber ehrlich gesagt, halte ich diese vermutliche Befürchtung für unberechtigt: Als Deutscher hätte ich viel mehr Interesse an einem Deutschen, der sich bewusst dafür entschieden hat, nunmehr Jude zu sein, als an einem Menschen, der vor vornherein in dieses Volk geboren wurde.

  9. “Wenn du mich schon fragst – und so habe ich dich zumindest verstanden -, ob es denn nicht so ist, dass “auch” (sic) ich gewisse Vorteile des Jüdischen zu genießen versuche, dann würde ich dich bitten, dir selbst die Frage zu stellen, was für Möglichkeiten ich denn hätte, um als Nichtjude aufzutreten.”

    Da hast Du mich aber mißverstanden.
    Die Alternative ist doch nicht die als Nichtjude aufzutreten – die Alternative wäre: überhaupt nicht aufzutreten.
    Runter von der Bühne.
    Auge in Auge diskutieren mit denen, die Dir “Widerstand” leisten können – nicht mit denen, die entweder schnell beeindruckt, eingeschüchtert oder einfach ahnungslos sind.
    Es gibt diese Leute, die widerständiger sind, auch in Deutschland, sie zu finden ist gar nicht so schwer – aber man muß es wollen. Das ist ein wesentlich bescheidenerer Weg.
    Hast Du die gestrige Ordination verfolgt (war online zu sehen)? Die beiden Ordinierten fand ich disbezüglich sehr beeindruckend.

  10. @ Simbe

    Ich verstehe dich (offensichtlich abermals) nicht ganz: Warum sollte ich nicht öffentlich auftreten, wenn das mir angeboten wird?

    Natürlich verbringe ich auch (ganz) viel Zeit mit Menschen, die mit mir private Gespräche führen wollen. Manche von denen sind gute Widersacher, die ihre Positionen einleuchtend untermauern können und nicht nur um “ihrer selbst” willen gegen meine Positionen argumentieren. Manchmal vertrete ich gerade andere Positionen als diejenigen, mit denen man mich identifiziert. So finde ich z. B. die ostdeutsche Auffassung des Juden ganz spannend (s. hier: http://www.chronologs.de/…ostdeutsche-judenfrage) – und ich argumentiere für sie, wenn meine Gesprächspartner davon ausgehen, dass meine “normalen” bzw. sonstigen Positionen die alleinige Wahrheit wären.

    Warum mein Alltag öffentliche Auftritte aber ausschließen sollte, ist mir unklar…

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