Vorstellungen des Deutschen und die verlorene Freiheit

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Die Kommentare zu meinem letzten Post haben mir wieder gezeigt, wie groß die sprachlichen Abstände sein können – und wie wirksam der politische Neusprech der letzten Jahrzehnte ist. “Wien gehört zurzeit nicht zu D[eutschland]”, schreibt ein Herr Webbaer, und “wenn Du RICHTIG Ärger haben willst, tust Du noch Basel, Bern und Zürich dazu”, meint Helmut.

Ich frage mich: Ist es mit der Beschränkung der Vorstellungskraft wirklich so weit gekommen? Können die »Deutschen« (was das auch immer bedeuten mag) Deutschland nicht mehr außerhalb des politischen Käfigs denken, das Deutsche kaum noch selber und unabhängig konzipieren? Wollen oder müssen so viele dem Neusprech unterliegen? Und demzufolge: Ist diese Behinderung des Denkens bewusst oder unbewusst?

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

20 Kommentare

  1. Bern Zürich Basel

    Ich bin mit einer deutschsprachigen Schweizerin verheiratet. Ich kenne die Mentalität des deutschsprachigen Schweizervolkes ganz gut.

    Man fühlt sich da – in der Deutschschweiz – ganz gewiss nicht “deutsch”. Im Gegenteil. Man grenzt sich ab, wo es nur geht. Schon sprachlich. Es wird eine deutliche Grenze zwischen Schwyzerdütsch und Hochdeutsch gezogen. Allerdings ist die (mentale, nicht politische) Barriere zu den “Welschen”, den italienischsprachigen Schweizern und den rätoromanischen ebenso hoch.

    “Deutsch” ist denen – schon lange vor der Erfindung des Neusprechs – ein politischer Begriff für ein Staatsgebilde (sie nennen es gerne: “den grossen Kanton”) geworden.

  2. deutsch

    Wo ist Deutschland? Das lässt sich recht pragmatisch beantworten. Dort wo die Deutschen wohnen. – Ich war mal für eine Zeit lang in London. Folglich waren dort im 3. Stock ca. 45qm deutsch. Was zeichnet aber einen Deutschen aus? Man bilde den Durchschnitt aller mutmaßlich Deutschen und vergleiche dies mit den Einzelnen. Daraus lässt problemlos ein Anteil des Deutschen im Deutschen errechnen. Z.B. ist mein Geschlecht zu 47% deutsch, denn ich bin ein Mann. Mit der Vorliebe für Rotwein wäre ich um 1900 etwas deutscher gewesen las heute. Und mein meist korrekter Gebrauch des Dativs oute ich mich eindeutig als Ausländer. Schade.

  3. Die Österreicher

    können schon ziemlich zäh sein, wenn sie eben Österreicher sein wollen und keine Deutschen, auch die Anrede betreffend.
    Viel mehr sollte nicht ausgesagt werden.

    Ansonsten, klar, die Deutschen [1] leiden unter einer Art sprachlichen Behinderung, auch das Denken beeinflussend. [2]

    MFG
    Dr. W (kein Deutscher btw)

    [1] wenn das mal eher flapsig verallgemeinert werden darf
    [2] das muss aber nicht am 3. Reich festgemacht werden

  4. @ Helmut

    (Auch) das ist das typisch Deutsche an ihnen. Die inneren Feindseligkeiten und Streitereien laufen bei uns Juden genauso. Du kennst bestimmt den Witz über den Juden, der alleine auf einer Insel lebt und irgendwann mal gerettet wird. Da fragen die Retter: Wieso hast du hier zwei Synagogen aufgebaut? Na, sagt der Jude, die eine brauche ich zum Beten, und in die andere gehe ich nie! – Da sind sich die Deutschen nördlichen und südlich des Bodensee ganz ähnlich.

  5. @ Webbaer

    Du sprichst weiterhin Neusprech. Wenn man die exklusive Auffassung des Deutschen kritisch besprechen möchte, kann man nicht so monolithisch zwischen “Deutschen” und “Österreichern” differenzieren. Sonst ist es so, wie wenn man über die Gleichberechtigung von “Schwarzen” und “Menschen” diskutieren würde. Die kritische Perspektive setzt schon bei der Wortwahl an.

  6. Keine Ahnung

    , warum, aber es ist so, dass Österreicher und Schweizer sich regelmäßig nicht als Deutsche einstufen … und womöglich, völkisch betrachtet, :-), einfach recht damit haben.

    Es ist ja nicht nur die Sprache, die die Nation macht.

    Hmm, ansonsten, was meinen Sie mit der ‘verlorenen Freiheit’?, also, wenn’s um deutsche Spezifität gehen sollte, wäre Ihr Kommentatorenfreund, der zweimal längere Zeit in D verweilte, ein guter Ansprechpartner…

    MFG + GN
    Dr. W

  7. Die Schweiz…

    …ist ein ganz gutes Beispiel dafür, dass ein Staatswesen auch über längere Zeit von etwas anderem zusammengehalten werden kann als von sprachlicher oder historischer Identität.

    Man stelle sich mal vor, die k.u.k. Monarchie hätte das Schicksal der Schweiz haben können – vereint unter einer Idee.

    Nur ist die Schweizer Idee halt anstrengend: Subsidiarität und Föderalismus.

  8. Pünktlichkeit….

    Die Deutschen haben einen Hang , sich auf ausschließende Art über Sekundärtugenden zu definieren, ihre eigentlichen Stärken aber unter den Teppich zu kehren.

  9. War Kafka ein deutscher Schriftsteller?

    Sicher nicht. Er war ein deutschsprachiger Schristeller, lebte in Prag, also in der Tschechei, die Teil der k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn war. 
    (Zitat Wikipedia)“Von 1889 bis 1893 besuchte Kafka die Deutsche Knabenschule am Fleischmarkt in Prag.”
    War Kafka ein tschechischer oder tschechoslowakischer Schrifsteller? ??
    War Kafka ein jüdischer Schriftsteller? ??
    Folgt man der Wikipedia, dann stammte Kafka  (Zitat)“aus einer bürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie”
    Weiter liest man:“Aber als Schriftsteller belegte er alles „explizit Jüdische […] mit einem Tabu: der Begriff kommt in seinem literarischen Werk nicht vor“.[12] Gleichwohl war er zeitweise entschlossen, nach Palästina auszuwandern und lernte intensiv Hebräisch.
    Kafka selbst schrieb:
    “Ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt.“
    Weder Deutschland noch die k.u.k.-Monarchie kommt in seinem Werk vor.

    Heute ist Kafka der meistgelesene Autor deutscher Sprache.

  10. Manipulation und politisch gewollt

    Ich erinnere mich an Viktor Klemperer und LTI.
    Durch Sprache können Menschen manipuliert werden
    und das passiert meist mit voller Absicht.

  11. Manipulation und politisch gewollt

    Ich erinnere mich an Viktor Klemperer LTI.
    Durch Sprache können Menschen manipuliert werden und das geschieht mit Absicht und vorsätzlich.

  12. Geistiger Stillstand

    “Ist diese Behinderung des Denkens bewusst oder unbewusst?”

    Das Denken sollte die geistig-heilende und fusionierende Bewußtseinsentwicklung bewirken. Doch leider ist das Denken einer rein materialistischen Evolution im nun “freiheitlichen” Wettbewerb unterworfen, indem Mensch das Denken den “Experten” der zeitgeistlich-reformistischen Hierarchie von und zu materialistischer “Absicherung” und systemrational-gebildeter Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche überläßt, und glaubt das das auch noch vernünftig ist.

    Wenigen ist diese Behinderung sehr wohl bewußt, doch kommt man gegen die konfusionierende Überproduktion von KOMMUNIKATIONSMÜLL wohl nur an, wenn die Masse von der UNWAHRHEIT endlich die Nase voll hat, bzw. die eindeutige Wahrheit hören, sehen, sprechen will!?

  13. Deutschland und das Deutsche

    “Können die »Deutschen« (was das auch immer bedeuten mag) Deutschland nicht mehr außerhalb des politischen Käfigs denken, das Deutsche kaum noch selber und unabhängig konzipieren?“

    Diese Frage ist mir vollkommen unverständlich.

    „Deutschland“ ist nun mal ein politisches Gebilde, ein Territorium mit definierten Grenzen.

    Das „Deutsche“ dagegen ist etwas davon völlig Verschiedenes, die Vorstellung von einem Konzept, wie Sie schreiben – aber warum sollten wir ein solches Konzept überhaupt entwerfen? Jeder Versuch, so etwas zu tun, muss willkürliche Grenzen ziehen, und ist somit sinnlos.

    Was „deutsch“ ist, das erfährt man, wenn man reist, fremde Länder besucht und wieder zurückkehrt, aber Adjektive sind nicht geeignet, das darzustellen. Es ist ein notorisch unscharfes Gefühl, von dessen definitorischer Präzisierung man um Himmels Willen die Finger lassen lässt, wie übrigens auch von „französisch“ oder „jüdisch“.

  14. Deutschland und das Deutsche

    “Können die »Deutschen« (was das auch immer bedeuten mag) Deutschland nicht mehr außerhalb des politischen Käfigs denken, das Deutsche kaum noch selber und unabhängig konzipieren?“

    Diese Frage ist mir vollkommen unverständlich.

    „Deutschland“ ist nun mal ein politisches Gebilde, ein Territorium mit definierten Grenzen.

    Das „Deutsche“ dagegen ist etwas davon völlig Verschiedenes, die Vorstellung von einem Konzept, wie Sie schreiben – aber warum sollten wir ein solches Konzept überhaupt entwerfen? Jeder Versuch, so etwas zu tun, muss willkürliche Grenzen ziehen, und ist somit sinnlos.

    Was „deutsch“ ist, das erfährt man, wenn man reist, fremde Länder besucht und wieder zurückkehrt, aber Adjektive sind nicht geeignet, das darzustellen. Es ist ein notorisch unscharfes Gefühl, von dessen Präzisierung man um Himmels Willen die Finger lassen lässt, wie übrigens auch von „französisch“ und „jüdisch“.

  15. Als Wiener verbitte ich es mir als Deutschland oder gar als Deutscher bezeichnet zu werden. 😉

    Ernsthaft: Wien, Österreich als Deutschland zu bezeichnen macht – im deutschen Sprachraum – eigentlich vorwiegend ein Personenkreis, der Probleme mit der Streckmuskulatur des rechten Arm hat.

    Auch historisch gesehen war Österreich, Wien – abgesehen von diesen 7 Jahren – weder deutsch noch Deutschland. Maximal Deutsch-Österreichisch, aber das war bezogen auf die Kleindeutsche Lösung und bedeutet historisch einfach ganz etwas anderes, als wenn heute behauptet wird, Österreich sei deutsch (deswegen bezieht sich die FPÖ, wenn sie das sagt, auch niemals auf irgendeinen “Kulturraum”, sondern tatsächlich auf die Zeit von 1938 bis 1945).

    Historisch gesehen ist Wien vielmehr tschechisch. Wien war einmal die größte tschechische Stadt. Das erkennt man nicht nur an der Ausdrücke in der Sprache, sondern auch am Essen. Dazu kommen noch Einflüße aus Ungarn, Kroatien, Rumänischen, Polnischen, da vor allem Gallizien. Deutschen Einfluss gab es historishc gesehen (eben bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhundert) nur sehr wenig.

    Auch versteh ich nicht das Argument mit dem Neusprech? Was soll bitte daran Neusprech sein?

  16. Deutschsprachig,Deutsch,Grossdeutschland

    Hitler war Österreicher und Österreich hat sich – ( siehe Wochenschauen) mit Freuden dem Reich angeschlossen. Hitler hatte wirklich einen österreichisch gefärbten Dialekt. Irgenwie ging das noch. Undenkbar jedoch, dass ein Schweizer die Rolle eines Hitlers hätte einnehmen können! Das Denken in der Deutschschweiz war aber dazumal – und natürlich auch heute – sehr ähnlich wie in Deutschland oder besser gesagt wie in Süddeutschland. Kein Zufall, dass während des zweiten Weltkriegs kein Deutschschweizer, sondern ein “Welscher” (französischsprechender Westschweizer) Oberbefehlshaber der Schweizer Armee war.
    Die meisten Deutschsprechenden verbindet tatsächlich mehr als die Sprache. Anders als die Englischsprachigen, die man wirklich nicht ins selbe Fass stecken kann und wo ein Aussie, ein Kanadier und ein US-Bürger wenig gemein haben.
    Ein Österreicher, der Germania anführt, Der das tausendjährige Reich begründet – eigentlich eine groteske Vorstellung. Aber so war es. Und Grotesk war es auch.

  17. @Martin Holzherr

    »Hitler war Österreicher …«

    Hitler war aus dem Innviertel, das bis 1779 zu Bayern gehörte und traditionell (Dialekt, Baustil, etc.) bayerisch geprägt war, teils noch bis heute ist. Um aus Hitlers Sprache bei öffentlichen Reden einen bestimmen Dialekt nachweisen zu können braucht es wohl einen Sprachexperten, aber angeblich existieren noch inoffizielle Tonaufnahmen, wo er ungekünstelt sprach und man ihn praktisch nicht wiedererkennen können soll.

    Wie auch immer, Österreich seinerseits wurde massgeblich durch die Habsburger geprägt, und die kamen bekanntlich aus der Schweiz.

  18. @ Dr.Webbaer

    Die Deutschen sind technisch begabt , sie können organisieren und effizient denken , sie haben einen Sinn für soziale Gerechtigkeit und einen Hang , die Dinge zu Ende zu denken , sie sind musikbegeistert…
    Alles natürlich subjektiver Eindruck und sagt auch nichts über den Einzelnen aus.

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