Und täglich grüßt das Murmeltier

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Warum ich in Deutschland lebe. Warum ich auf Deutsch schreibe. Fragen der Sehnsucht, Fragen des Kampfes, des eigenen Ringens mit der Sprache, um das Unbenennbare in Worte zu fassen, das Unbewusste heraufzubeschwören.
 
Ich habe mein Leben vielem zu verdanken. Auch der Geschichte. Was eine Familie aus Galizien dazu führt, auf eine bessarabische zu stoßen und mich zu erzeugen. Ich bin ein Kind des Krieges, ich bin ein Kind des Holocaust, ich bin ein zufälliges, unerwartetes Kind Hitlers. Ich kann nicht, ich kann es nicht, ich kann ihn einfach nicht hassen. Es tut mir Leid.
 
Was in mir steckt, kommt nimmer weg, es wird allenfalls ergänzt. Es sucht sich ein Gegenstück. In Deutschland, im Deutschen, in dir. Sprache und Erde vereinen, verdrehen, verkürzen die Zeit. Mein Leben mit ihm, ein Leben mit dir, ein Leben mit Auschwitz. Ein Leben im Schatten, inmitten des Mörders, inmitten von dir. Eine seltsame Art Selbsterkennung. Eine Art Therapie.
 
Kein Deutschland ohne Auschwitz, kein Ich ohne Deutschland. Kein Weg, dass darum herumführt. Das Blut vermischt sich im Bett und bleibt doch getrennt wie Wasser und Öl, was soll man dafür. Die Zukunft vermischt sich im Schicksal und bleibt mir verwehrt wie zwei Erdteile, zwischen denen ein Meer liegt. Also bin ich gekommen, habe angeborenen Landschaften fremde vorgezogen, alte Papiere gegen neue getauscht.

Mein deutscher Führerschein liegt in meiner Hand. Mein deutscher. Mein Schein. Mein Führer in meiner Hand. Ein Adler, der täglich grüßt. Ein deutscher Adler. Was der Adler mit mir zu tun hat. Was ich mit dem Adler. Und wenn sie gewusst hätten, dass eines Tages… Da war ich noch nicht auf der Welt. Da war Hitler noch am Leben. Er musste sterben, damit ich geboren. Er musste auf die Welt kommen, damit ich.
 
Ich bin gekommen, um zu erfahren. Um Deutschen zu begegnen, mein Gegenstück zu erspüren und zu ergründen. Doch nein, unmöglich, es gibt sie nicht mehr. Auschwitz löschte sie, im Schatten von damals leben nur noch Schatten der Damaligen. Und trotzdem bin ich hier.
 
Ob es Wichtigeres gibt als Auschwitz. Ob es Wichtigeres gibt als Deutschland. Und das nach 65 Jahren. Knapp ein Menschenleben. Knapp ein Menschentod. Alles ist wieder in Ordnung. Botschaften. Flüge. Tourismus. Aber es wirkt, ob man es will oder nicht. Es kriecht, es dringt, es ist. Du in meinem Bett. Und deine Großeltern zwischen uns. Wenn sie nur gewusst hätten. Wenn meine nur. Es ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Doch wenn du nur du wärst, ein süßes Individuum, könnte ich nicht mit dir sein.
 
Deutschland in mir, ich in Deutschland. Blut vermischt sich mit Erde, Erde mit Zeit, Zeit von Vätern und Müttern, von ihm und mir und dir. Unlöslich im Kampf ohne Gegner, in der langen, verzweifelten Odyssee. Rache nehmen auf Schritt und Tritt, Rache mit jedem Atemzug, Rache um der Rache willen, bis sich der Sinn des Ganzen im Liebesakt auflöst und in den Armen jemand liegt, die keine Vergangenheit mehr hat und kein Gesicht.
 
Ich habe die Wahl zwischen Wahnsinn und Vergesslichkeit, Spaß und Schicksal. Ich bin gekommen, um mich zu entscheiden. Doch die Entscheidung hat dann vielmehr mich getroffen, sich meinem Willen entzogen. Vergesslichkeit ist Wahnsinn, das Schicksal im Spaß. Ein Knoten ohne Schwert, aber man muss ja auf dieser Bühne des Sinnlosen stehen, bis der Vorhang fällt, ob jetzt schon oder auch erst in 65 Jahren. Die Therapie ist zum Scheitern verurteilt, das Scheitern zur Therapie geworden.
 
Oder ich irre mich und meine Beziehung mit Deutschland, meine Beziehung zum Deutschen ist das erbärmliche Ergebnis von jahrelangem Kitsch, jugendlich-pubertärer Banalität und sich bloß zufällig aneinanderreihenden Floskeln. Ein Deutschland-Syndrom.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

2 Kommentare

  1. PS.

    Ich hasse es, wenn man Texte nicht für sich selbst sprechen lässt, sondern zusätzlich noch erklärt, aber diesmal vielleicht doch, um Missverständnissen vorzubeugen: Ich will mit diesem Text drei Ebenen der Beziehung zur historisch gewachsenen, bis in die Gegenwart maßgeblich von Hitler bestimmten Substanz “Deutschland” artikulieren: die geographische, die sprachliche und die persönliche. Die weibliche Person im Text ist also, auch wenn mir naturgemäß die eigenen Erfahrungen vorschweben, keine spezifische Frau.

  2. shalom yoav,
    bin über einen blog auf deinen blog gestoßen und möchte gern mitteilen, dass ich es sehr schätze ( wenn ich das so ausdrücken darf) solch einen intimen einblick in deine gedankenwelt bekommen zu haben.

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