Schuld

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Ich trage die Schuld an dem, was ich alles tat, dem Falschen, dem Ahnungslosen, dem Böswilligen.

Ich trage auch die Schuld an dem, was ich nicht tat, nicht rechtzeitig oder gar nicht, dummerweise oder vorsätzlich, aus Eitelkeit oder aus Angst.

Aber vor allem trage ich die Schuld daran, was mir unterlief, was von meiner Person getan wurde, ohne es tun zu wollen, was ein anderes Ich vollzog gegen meinen Willen, was aus Verwirrung und Versäumnis, Versuchung und Verfehlung zustande kam.

Pecco, ergo sum?

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

13 Kommentare

  1. Schuld all überall? Einstellungssache.

    Das obige Poem erinnert an die Atmosphäre in Kafka’s ‘Der Prozess’, wo vieles im Ungewissen bleibt, es jedoch eine Gewissheit gibt, die von Anfang an feststeht: Josef K. ist schuldig.

    Woher aber kommt das Schuldgefühl, die gefühlte Schuld? Offenbar braucht es nicht unbedingt einen Anderen, der einen in Schuld versetzt. Für den Empfänglichen sind der Schuldige und der Beschuldigende identisch.

    Glücklich, aber flach, wer nicht in Schuldkategorien denkt?

  2. Vielleicht. Ich zumindest werde seit vielen Jahren von ständigen, sich überschwemmenden Schuldgefühlen geplagt, bis zur Unmöglichkeit, zwischen realer und eingebildeter Schuld zu differenzieren. Das macht mich überhaupt nicht glücklich.

    Möglicherweise sind bestimmte Menschen(typen) für Schuldgefühle anfälliger als andere.

  3. Einseitigkeit

    Wenn man nur immer das Schlechte betrachtet was man gedacht/getan hat – und nicht auch das Gute; dann muss man sich nicht über negative Schuldgefühle wundern.
    Wir sind auch ´schuld´ an guten Taten.
    Ich wünsche Ihnen positive ´Schuld´-gefühle.

  4. Cortisol

    Schuldgefühle, Angstgefühle, Minderwertigkeitsgefühle und Stresszustände hängen auch vom biochemischen Zustand des Gehirns ab.

    Daher kommen als Verursacher auch Cortisol (Hydrocortison), Coffein, Ethanal (Acetaldehyd, entsteht beim Abbau von Ethanol) und Aufputschmittel in Frage.

    Alle diese Substanzen regen den Sympathikus an, und dämpfen den Parasympathikus.

    Die Interleukine, die bei Immunreaktionen ausgeschüttet werden, Alkohol (Ethanol) und die meisten Beruhigungsmittel wirken in der entgegengesetzten Richtung.

    Die Beruhigungsmittel haben allerdings den Nachteil, dass in ihrer Entzugsphase die gegenteilige Wirkung eintritt.

    Literatur:

    Psyche, Stress und Krankheitsabwehr,

    Philip W. Gold und Esther M. Sternberg,

    Spektrum der Wissenschaft, 11 / 1997,

    http://www.spektrum.de/…kel/824225&_z=798888

  5. Adenosin-A2A-Rezeptor

    Weitere Ursachen für eine gestörte Selbsteinschätzung können ein Mangel an Vitaminen der B-Gruppe, oder eine genetische Überempfindlichkeit gegenüber von Coffein sein.

    Bei letzterer handelt es sich um eine Variante im Gen des Adenosin-A2A-Rezeptors, die dann Coffein an Stelle des beruhigenden Adenosins bindet.

    Literatur:

    http://www.uk-wuerzburg.de/…veroeffentlicht.html

  6. Ich denke die Kernaussage liegt eher hier: was von meiner Person getan wurde, ohne es tun zu wollen, was ein anderes Ich vollzog gegen meinen Willen — Verwirrung und Versäumnis, Versuchung und Verfehlung.

    Wo siehst du die Verbindung zwischen Versäumnis und Verwirrung? Und wie erkennst Du “das andere Ich”?

  7. @Yoav: Bitte differenzieren

    “Möglicherweise sind bestimmte Menschen(typen) für Schuldgefühle anfälliger als andere.”

    Ich schlage vor, zwischen Verantwortung und Schuld penibel zu unterscheiden:

    Verantwortung kann man haben, ohne von dem zu Verantwortenden auch nur die kleinste Ahnung zu haben. Der Begriff der Schuld hingegen hat immer eine Vorsatzkomponente.

    Verantwortung ist nicht ohne weiteres moralische Verantwortung: Es wurden schon längst sehr viel schwächere Versionen von Verantwortung identifiziert. Sogar Schuld kann einen nicht-moralischen sozusagen narrativen Sinn haben: Schuld im narrativen Sinne habe ich, wenn ich mit Überlegung und Absicht zu einer Handlung gekommen bin, von den moralischen Aspekten der Sache aber nicht wissen konnte.

    “was von meiner Person getan wurde, ohne es tun zu wollen, was ein anderes Ich vollzog gegen meinen Willen”

    Ich bin nicht sicher, ob es möglich ist, etwas gegen den eigenen Willen zu tun. Sicher bin ich aber, daß man etwas unabsichtlich tun kann. Was ist von dir gemeint.

    Auch die Rede von unbewußten Motiven habe ich in einem post bei brainlogs schon einmal als unsinnig zurückweisen können: Man greift viel zu leichtsinnig zu der schwer einlösbaren Metapher des Unbewußten.

    Möglicherweise würde deinem Problem eine Refomulierung gut tun.

  8. @ adenosine

    Ich würde es nicht gleich pathologisieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass aus ähnlichen Positionen heraus ganze Teile christlicher und jüdischer Grundschriften entstanden sind.

  9. @Yoav: Existenzannahme

    “Aber du bestreitest wohl nicht das Unbewusste an sich und dessen Macht über den Menschen?”

    Du hast recht, daß ich vom Nutzen dieser Existenzannahme nicht überzeugt bin. Schließlich ist es keine triviale Sache, Informationen über eine Sache zu bekommen, von der man qua Definition keine Bekanntschaft schließlich kann.

  10. Stress

    Dass aus ähnlichen Positionen heraus ganze Teile christlicher und jüdischer Grundschriften entstanden sind, ändert nichts daran, dass dieser Zustand pathologisch sein kann.

    Die Erbsünde, zum Beispiel, ist immerhin ein logischer Widerspruch zum freien Willen.

    Der Grad der Selbstkritik und der Grad der Selbstzufriedenheit hängt in hohem Maße von der Cortisolkonzentration im Gehirn ab.

    Bei hohen Cortisolkonzentrationen überwiegt die Selbstkritik, und bei niedrigen Cortisolkonzentrationen überwiegt die Selbstzufriedenheit.

    Natürlich haben einige Vertreter einiger Religionen ein vitales Interesse daran, die Menschen in einem Stresszustand aus Schuld und Angst zu halten.

    Dieses Niederhalten durch Einschüchterung ist auch bei den anderen Primaten weit verbreitet.

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