Poetische Historiographie: Milan Kundera zum Thema Geschichte

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

In einem alten Artikel, der sich mit einer österreichischen Sicht auf die deutsche Geschichtsschreibung befasste, stellte ich ein paar Zitate von Fritz Fellner vor. Diese haben mich damals in ihrer Klarheit und Genauigkeit so gerührt, dass ich das Ganze ziemlich übertrieben mit "historiographischer Poesie" betitelt habe. Nun kann ich mit einer wiederentdeckten Kundera-Stelle ein würdiges Pendant setzen.
 
Habe ich bei Fritz Fellner eine "Poesierung" des Historiographischen erblickt, so finde ich bei Milan Kundera, der im Nachstehenden keine Chronik schreibt, metahistorische Reflexionen in einem literarisch-poetischen Zusammenhang. Und so schreibt er in der "unerträglichen Leichtigkeit des Seins":
 

Und von neuem kam ihm ein Gedanke, den wir schon kennen: das menschliche Leben findet nur einmal statt, und deshalb werden wir niemals feststellen können, welche von unseren Entscheidungen gut und welche schlecht waren, weil wir uns in einer gegebenen Situation nur einmal entscheiden können. Es wurde uns kein zweites, drittes oder viertes Leben geschenkt, so daß wir verschiedene Entscheidungen miteinander vergleichen könnten.
 
Mit der Geschichte verhält es sich ähnlich wie mit dem Leben des Individuums. Es gibt nur eine Geschichte der Tschechen. Eines Tages wird sie zu Ende sein wie das Leben von Tomas, und sie wird sich nicht ein zweites Mal wiederholen können.
 
Im Jahre 1618 erkühnten sich die böhmischen Stände, ihre Religionsfreiheit zu verteidigen; sie waren wütend auf den in Wien residierenden Kaiser und warfen zwei seiner hohen Würdenträger aus einem Fenster der Prager Burg. So begann der Dreißigjährige Krieg, der zu einer fast vollständigen Vernichtung des tschechischen Volkes führte. Hätten die Tschechen damals mehr Vorsicht als Mut an den Tag legen sollen? Die Antwort scheint einfach, ist es aber nicht.
 
Dreihundertzwanzig Jahre später, im Jahre 1938, nach der Münchner Konferenz, beschloß die ganze Welt, das Land der Tschechen Hitler zu opfern. Hätten sie nun versuchen sollen, allein gegen eine achtfache Übermacht zu kämpfen? Im Unterschied zum Jahre 1618 zeigten sie dieses Mal mehr Vorsicht als Mut. Mit ihrer Kapitulation begann der Zweite Weltkrieg, der zum (endgültigen) Verlust der Freiheit ihres Volkes führte, für viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte [Kundera veröffentlichte den Roman 1984!]. Hätten sie jetzt mehr Mut als Vorsicht zeigen sollen? Was hätten sie tun sollen?
 
Könnte sich die Geschichte der Tschechen wiederholen, wäre es gewiß nicht schlecht, jedesmal die andere Möglichkeit zu erproben und dann die beiden Ergebnisse zu vergleichen. Ohne ein solches Experiment bleiben jedoch alle Überlegungen ein Spiel von Hypothesen.
 
Einmal ist keinmal. Die Geschichte Böhmens wird sich nicht ein zweites Mal wiederholen, und ebensowenig die Geschichte Europas. Die Geschichte Böhmens und die Geschichte Europas sind zwei von der fatalen Unerfahrenheit der Menschheit gezeichnete Skizzen. Die Geschichte ist genauso leicht wie ein einzelnes Menschenleben, unerträglich leicht, leicht wie Federn, wie aufgewirbelter Staub, wie etwas, das morgen nicht mehr sein wird.

 
In diesen Worten Kunderas enthüllt sich übrigens eine altbewährte Vorstellung: Wenn die Geschichte der Tschechen mit dem Leben von Tomas vergleichbar ist, so werden die Völker zu Personen, ja zu den Individuen der "Weltgeschichte", wie wir mit typisch abendländischem Hochmut unser tradiertes Gedächtnis nennen.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

13 Kommentare

  1. “In diesen Worten Kunderas enthüllt sich übrigens eine altbewährte Vorstellung: Wenn die Geschichte der Tschechen mit dem Leben von Tomas vergleichbar ist, so werden die Völker zu Personen, ja zu den Individuen der “Weltgeschichte”, wie wir in unserem Hochmut unser tradiertes Sammelbewusstsein nennen.”

    Ob der Umkehrschluß auch richtig ist? Ist die Geschichte einer oder mehrerer Personen die Geschichte eines Volkes? Sind die Irrungen und Wirrungen eines Volkes, auf die Fehlbarkeit des Volkes Sohns zurückzuführen, ein Sohn, der in seinem Auf -und Abstieg nicht ausreichend geprüft wurde? Ein Sohn, der Gläubige, aber nicht Erkennende fand?

  2. 1982

    Das zitierte Buch ist übrigens von 1982, nicht 1984. (Was in der Sache natürlich keinen Unterschied macht.)
    Kundera greift dieses Thema 2000 in seinem (bisher) letzten Roman “Die Unwissenheit” wieder auf:
    “Alle Vorhersagen irren sich, das ist eine der wenigen Gewißheiten, die dem Menschen gegeben wurden. Doch wenn sie sich auch in Bezug auf die Zukunft irren, so sagen sie die Wahrheit über die, die sie aussprechen, sie sind der beste Schlüssel, um zu verstehen, wie diese ihre Gegenwart erleben.” (Kapitel 3)

  3. @ Dietmar

    Ja, auch das ist ein Stück Wahrheit und gehört zum fast Mythischen an dem, was wir “Geschichte” nennen. Und wie es beim Mythischen immer ist: Das Schöne und das Schreckliche sind kaum voneinander zu trennen.

  4. @ Thilo

    Danke für das Zitat, ich mag seine Art, Wahrheiten “fußnotenlos” zu formulieren, ohne sich von Besserwissern einschüchtern zu lassen. Nicht jeder (auch nicht jeder Schriftsteller) wagt, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.

    1982 erschienen oder erstmals veröffentlicht?

  5. Todesurteil

    Die Soldaten,

    die unsere Politiker nach Afghanistan schicken,
    werden eine Menge Menschen umbringen und
    viele von ihnen werden selber dabei drauf gehen.
    Die Politiker, die das getan haben, haben wir
    gewählt, obwohl wir das Recht, Todesurteile
    zu fällen, schon lange abgeschafft haben.

  6. Frieden

    Du sollst nicht töten,

    wenn wir dieses Gebot
    befolgen ohne wenn und
    aber, dann leben wir
    wieder „wie im Paradies“!
    Tatsächlich genießen die
    größten Massenmörder
    in den Geschichtsbüchern
    die höchste Verehrung!
    Wer Mord und Todschlag
    vergöttert, lebt auch dann
    nicht in Frieden, wenn er
    täglich dafür betet.

  7. Tabletten

    Selbstmord mit Tabletten!

    Wenn man zu hohen Blutdruck hat,
    dann hat das immer einen Grund!
    Dann hat man, irgendwo im Körper,
    eine Durchblutungsstörung.
    Wenn man dann Tabletten einnimmt,
    den Blutdruck zu senken ohne die
    Ursache zu beseitigen, dann begeht
    man Selbstmord mit Tabletten!

  8. Bluthochdruck

    Jeder Zwanzigjährige kriegt heute
    Betablocker zu schlucken ohne das
    ihm gesagt wird, dass Blutdruck
    senkende Tabletten bewirken, dass
    ein „Mann, dann nicht mehr kann,
    wie er will, wenn er möchte!“

    Den Blutdruck hat die Natur gemacht,
    damit jeder weiß, dass seine Durchblutung
    gestört ist, die er dann beseitigen muss.
    Darum kann man den Blutdruck auch nicht
    senken, solange die Ursache nicht erkannt
    und beseitigt ist.

    Weil ich chronische Nebenhöhlen Entzündung hatte,
    hatte ich zu hohen Blutdruck. Das hat aber keinen der
    Ärzte, die ich seit l980 aufgesucht habe, interessiert!
    Die haben mir alle nur Tabletten verschrieben, um
    meinen Blutdruck zu senken, bis es eines Tages
    fast zu spät gewesen wäre.

    Die Entzündung hatte mein Blut so vergiftet, dass ich
    gelähmt war und mich nicht mehr bewegen konnte.
    Der Notarzt ließ mich in ein Krankenhaus einweisen
    und obwohl die Ärzte wussten, dass ich eine Entzündung
    habe, haben die mir auch wieder nur Tabletten gegeben,
    um den Blutdruck zu senken.

    Ich hätte nur wissen müssen, dass ich mir Honig in die Nase
    träufeln muss, um meine Nebenhöhlenentzündung zu
    beseitigen. Stattdessen habe ich Tabletten eingenommen und
    unter den Nebenwirkungen gelitten

    Die Nebenhöhlen Entzündung, die meine Schleimhaut
    vertrocknet hat, versuche ich wieder zu durchbluten,
    indem ich Honig-Milch trinke und eine Nasen-Dusche
    benutze, die mit Honig-Wasser gefüllt ist.

    Wenn die drei HNO-Ärzte nicht abgestritten hätten, dass
    das Jucken in meinen Gehörgängen von den Nebenhöhlen
    kommt, dann hätte ich den Schlaganfall auch nicht gehabt,
    den ich aufgrund der Blutdrucktabletten hatte.

  9. wulff oder bild?

    Was hast du getan?

    Die Frage kann man nur zurückweisen!
    Wenn man sie beantwortet, lässt man
    sich bewerten und hat verloren, denn
    nur Gott hat das Recht, zu verurteilen.
    Ein Mensch darf sich gegen andere
    Menschen wehren, er muss sich aber
    nicht unterordnen oder bevormunden
    lassen.

  10. Pfingsten ist vorbei

    Pfingsten ist vorbei!

    Das Wetter war so schön, wie wir es uns wünschen würden, wenn wir
    könnten. Das Wetter können wir uns nicht aussuchen, aber die Art, wie
    leben, schon oder besser, wir leben schon lange so, wie wir es uns
    wünschen.
    Hat euch der Heilige Geist das noch nicht gesagt? Der besucht euch doch
    seit 2012 Jahren jedes Jahr!
    Ihr könnt hier auf der Erde leben „wie im Paradies!“ Ihr müsst euch nur
    vertragen!“
    Wenn Ihr euch ständig bekriegt, dann lebt ihr hier „wie in der Hölle!“
    Oder lebt ihr lieber nach Gefühl?
    Warum?
    Ihr habt euch daran gewöhnt, immer gleichzeitig zu lieben und zu hassen?
    Wenn wir einen Menschen lieben, dann hassen wir einen Anderen!
    Wenn wir den Einen „vergöttern“, dann verteufeln wir den Anderen!

    Als ich ein Kind, war, habe ich zum „Lieben Gott“ gebetet und mir
    vorgestellt, wie der Sohn Gottes am Kreuz gestorben ist. Das hat mich tief
    beeindruckt. So wollte ich auch leben. Das ist mir auch gelungen. Ich
    wurde von meinen Mitmenschen verachtet misshandelt und vorgeführt.
    Bis mir klar wurde, was für ein Idiot ich war. Die Apostel haben den Sohn
    Gottes benutzt, um uns Schuldgefühle einzureden und uns ein schlechtes
    Gewissen zu machen und Buße von uns zu verlangen.
    Dass war vor zweitausend Jahren.
    Dafür muss ich heute nicht mehr büßen. Aber die Apostel dürfen uns
    heute dafür immer noch bevormunden und Schuldzuweisungen ausstellen.
    Obwohl ihnen die halbe Welt gehört!
    Der Jesuswahn hat viele Menschen depressiv gemacht. Selbst dreizehn-
    jährige Kinder liegen heute noch mit SVV in den Krankenhäusern!
    Die Juden heben Jesus gekreuzigt, weil er sie nicht erlösen konnte,
    denn er war ja nicht der Sohn Gottes!

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