Offene Frage: Das Autochthone im heutigen Abendland

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Es ist kein spezifisch deutsches Phänomen und dennoch ist es einfacher, das Problem an diesem Beispiel zu erörtern: Warum steht das Autochtone in der heutigen Wahrnehmung bald für Sonderrechte ohne Sonderpflichten, bald für Sondernpflichten ohne Sonderrechte?

Überfälle von Deutschen auf Ausländer werden in der nun mal links beherrschten Medienlandschaft Deutschlands recht schnell als Anzeichen von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus gedeutet; wird jedoch ein Deutscher von einem Migraten(kind) überfallen, so hat es immer mit fallspezifischen Gründen, gesellschaftsbedingter Chancenlosigkeit, Ausgrenzung und Verzweiflung zu tun. »Biodeutsche« stehen in diesem Weltbild prinzipiell in der Bringschuld, Verständnis verdienen hingegegen die Zugezogenen.

Zu gleicher Zeit erblickt man – ob zu Recht oder nicht – in den sog. Palästinensern eine autochthone Bevölkerung, die vor den jüdischen Migranten in Schutz zu nehmen sei. Gewalttaten von jüdischer Seite gelten als Ausdruck von Kolonialismus, Expansionismus und was alles nicht; werden sie jedoch von den angeblichen Autochthonen begangen, so handele es sich um das Ergebnis von Ausgrenzung und Verzweiflung, für welches man Verständnis haben solle.

Doch wenn man in Deutschland meint, dass gerade die autochthone Stellung zu Gastfreundlichkeit verpflichtet, warum wird in Palästina das Autochtone als eine Carte blanche für Migrantenfeindlichkeit interpretiert? 

Und wenn der palästinensischen Bevölkerung ein autochthones Sonderrecht zuerkannt wird, Migranten abzulehnen, warum wird dann Deutschlands Autochthonen dasselbe Recht abgesprochen? 

Freilich herrschen in Deutschland und Israel/Palästina jeweils andere Umstände, die zu einem jeweils entsprechend anderen Urteil führen können. Ob dieses sich dann aber noch mit Hinweisen auf eine (ob tatsächlich oder vermeintlich) autochthone Stellung begründen lässt? Oder fungiert hier das Autochthone lediglich als ein rhetorisches Mittel?

Diese Asymmetrie besteht im Übrigen auch unter anderen Aspekten: Während man darauf beharrt, dass die Deutschen schon seit je heterogen sind, sich stets durch Migration zu dem entwickelt haben, was sie heute sind, und folglich selber nicht richtig autochthon sind, wird die palästinensische Beanspruchung des Autochthonen unhinterfragt angenommen.

Was steckt also in der gängigen Deutung des Autochthonen schon im Begriff selbst drin – und was wird ihm je nach Kontext zugeschrieben?

Hat das Autochthone an sich überhaupt etwas zu bedeuten? Oder steht es de facto einfach für alles Nichteuropäische, Nichtabendländische? Und wenn es doch etwas bedeuten kann, dann was eigentlich?

Soweit meine Einführung – und hiermit eröffne ich nicht nur die Diskussion, sondern auch eine neue Rubrik: »offene Fragen«.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

10 Kommentare

  1. Das Autochthone

    Für mich zieht der Begriff “autochthon” keinerlei normative Setzungen nach sich. Er benennt einfach die Gruppe der Eingeborenen bzw. Alteingesessenen. Der beschriebene Gegensatz zwischen Deutschen und Palästinensern zeigt, wie problematisch diese Kategorienbildung sein kann, wenn man sie mit mehr als dieser Bedeutung überfrachtet. Wenn man die Gruppe mit den “Sonderpflichten” als die starke, mächtige, wirtschaftlich überlegene sieht, verschwindet der Widerspruch. Positiv formuliert: Hinter der Zuschreibung von “Sonderechten”steckt hier schlicht ein sehr menschliches Gerechtigkeitsgefühl.

  2. @ D.

    Das ist eine sehr gewagte These, was du da vorschlägst. Wenn ich dich recht verstehe, läuft es darauf hinaus, dass nicht Leistung und Kompetenz, sondern gerade das Fehlen hiervon – etwa bei wirtschaftlich unterlegenen Gemeinschaften – zu mehr und zu größeren Ansprüchen berechtigt. Umso weniger verständlich ist dann, warum du so ein – in meinen Augen doch etwas verkehrtes – Weltbild als “Gerechtigkeit” bezeichnest. Aber das wäre eine ganz andere Diskussion als die obige.

    Jedenfalls geht aus deinen Worten hervor, dass aus dem (ob tatsächlichen oder vermeintlichen) Autochthonsein selbst weder Rechte noch Pflichten entstehen. Das würde z. B. bedeuten, dass eine palästinensische Ablehnung jüdischer Migranten nicht durch die palästinensische Behauptung zu begründen ist, sie seien autochthon (aber vielleicht durch andere Behauptungen). Oder habe ich dich missverstanden?

  3. nein

    Bei beiden Beispielen, Palästinensern vs israels und Deutsche gegen Zuwanderer geht es m.E. nicht um Autochtone vs. Zugewandete, sondern um Stärkere gegen Schwächere. Insofern ist es konsistent, dass in beiden Fällen das Verhalten der Israelis bzw. Deutschen kritischer gesehen wird. Der Stärkere h a t die Wahl, sich anders zu verhalten, der Schwächere oft nicht.

  4. @ CK

    Dass die »Schwächeren« wirklich schwächer seien und dass sie – überhaupt, geschweige denn aus diesem spezifischen Grunde – keine Wahl hätten, ihr jeweiliges Verhalten zu ändern, möchte ich gründlich bezweifeln. Aber das wäre wiederum ein anderes Thema.

    Ich wiederhole also die Frage, die ich dem obigen »D.« schon gestellt habe: Ist also, deiner Meinung nach, eine palästinensische Ablehnung jüdischer Migranten nicht durch die palästinensische Behauptung zu begründen, sie seien autochthon?

  5. @ Yoav

    Wie gesagt, autochthon ist für mich ein beschreibender Begriff, woraus sich erst mal gar nichts ableiten lässt.
    Ich habe auch nicht gesagt, dass sich aus dem Fehlen von Leistung und Kompetenz Ansprüche ableiten lassen. Das Gerechtigkeitsgefühl – wohlgemerkt Gefühl – führt nur dazu, dass man Verständnis für die Motive der schwächeren Gruppe hat.
    Das heißt nicht, dass man das mit diesen Motiven begründete Handeln gut heißt. Ich gebe zu, dass viele Menschen diese Unterscheidung nicht sorgfältig treffen. Dadurch entsteht viel Ungenauigkeit im Diskurs.
    Ich stimme Dir darin zu, dass auch der Schwächere im Prinzip die Wahl hat. Das ist, glaube ich, nicht ganz ein anderes Thema. Denn natürlich sind die Wahlmöglichkeiten des Schwächeren eingeschränkt; unter anderem dann, wenn der einzelne, trotz individueller Leistungsfähigkeit, wegen seiner Gruppenzugehörigkeit diskriminiert wird und/oder in seinen Rechten beschränkt wird. Gruppen, die sich – zu Recht oder zu Unrecht – diskriminiert und/oder chancenlos fühlen, berufen sich dann gern auf Merkmale, die man ihnen nicht nehmen kann – Ethnie, Religion, das Autochthone – und überhöhen sie.
    Womit ich wieder bei dem Begriff, der zur Debatte steht, angekommen bin. Ich finde die Gegenüberstellung:
    „Während man darauf beharrt, dass die Deutschen schon seit je heterogen sind, sich stets durch Migration zu dem entwickelt haben, was sie heute sind, und folglich selber nicht richtig autochthon sind, wird die palästinensische Beanspruchung des Autochthonen unhinterfragt angenommen.“
    logisch nicht zulässig.
    „Heterogen-homogen“ ist ein anderes Bedeutungspaar als „autochthon-allochthon“. Natürlich entwickelt sich Heterogenität u. a. durch Migrationsprozesse über die Jahrhunderte. Aber nach einigen Generationen sind die Nachkommen der Eingewanderten Autochthone. Nach der offiziellen Lesart sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland gilt das bei Eingebürgerten schon für die dritte Generation.
    So gesehen geht es im Nahostkonflikt m. E. nicht um Fragen der Migration und das Verhältnis zwischen Autochthonen und Allochthonen. Meine Wahrnehmung ist eher, dass es um konkurrierende Gebietsansprüche geht zwischen zwei Gruppen, die beide – nach mindestens 100 Jahren jüdischer Einwanderung – autochthon sind. Beide Seiten können also in gewisser Weise ihre Ansprüche damit begründen. Und wie dieser Konflikt zu befrieden ist, ist in der Tat ein anderes Thema.

  6. @ D.

    In theoretischer Hinsicht kann ich deine Erklärung vollkommen nachvollziehen, aber in der Praxis funktioniert es, dünkt mich, ganz anders.

    Die Betonung einer (ob tatsächlichen oder vermeintlichen) Homogenität der Deutschen wird im gängigen Diskurs m. E. sehr wohl dem Autochthonsein und dem damit einhergehenden Gefühl des “Herrn im eigenen Hause” entgegengesetzt, nach dem Motto: Wir sind selber mal von anderswo hergekommen, wir waren mal auch Migranten, also sind die neuen Migranten doch nichts Neues, nichts wesentlich Anderes.

    Desgleichen in puncto Israel/Palästina: Sehr oft habe ich mir von Hochgebildeten, also Professoren u. dgl., erklären lassen: “Aber die Ureinwohner wollen euch doch nicht!”, so, als ob die (ob tatsächlichen oder vermeintlichen) Ureinwohner ein Vetorecht hätten. Das bedeutet, dass die Juden nach wie vor als Neuankömmlinge angesehen werden (wobei das jüdische Narrativ sich notabene freilich nicht auf die letzten 100 Jahre bezieht, sondern vornehmlich auf die Antike).

    Das bedeutet, dass die Begriffe in der Praxis anders verwendet und bewertet werden als du sie hier (ob zu Recht oder zu Unrecht) konstruierst. Aber wie gesagt, ich kann deine Definitionen nachvollziehen, auch wenn ich persönlich der Ansicht bin, dass das Autochthonwerden viel länger dauert als nur zwei oder drei Generationen.

  7. Und übrigens…

    In Israel lebt ca. eine Million islamische Palästinenser, die als Staatsbürger Israels eine Sonderstellung fordern – nämlich eine qualitative Gleichstellung (obwohl sie ca. 20% der Stimmen haben, sollen sie paritätisch an allen Staatsgremien beteiligt werden). Begründet wird diese Forderung mit dem Hinweis auf ihr (ob tatsächliches oder vermeintliches) Autochthonsein: Wir waren hier vor euch Juden, wir “lassen zu”, dass ihr da bleibt, darum dürfen wir Bedingungen aufstellen.

  8. @ und übrigens…

    Damit machst du auf einen Aspekt aufmerksam, den wir bis jetzt noch nicht genannt hatten, das Minderheitenproblem. Der Minderheitenstatus ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Migranten in D und Arabern in Israel. In einer Demokratie haben Minderheiten ein inhärentes Problem damit, ihre Gruppeninteressen wirksam werden zu lassen. Auch das rührt an das von mir schon genannte „Gerechtigkeitsgefühl“, und zwar in der Weise, dass man, zum Teil unreflektiert, meint, Fürsprache sei notwendig für eine Gruppe, die bei Abstimmungen zwangsläufig immer unterlegen ist.
    Ich kann allerdings deiner ursprünglichen Argumentation, dass „man“ in D das Autochthone heranziehe, um die von dir sogenannten Sonderpflichten zu begründen, nicht folgen. Das mag in bestimmten Milieus so sein. Die aktuelle Debatte zeigt aber, dass das in anderen Milieus genau anders gesehen wird und dort das Autochthone herangezogen wird, um Einwanderung und den damit einhergehenden Wandel abzuwehren.
    Ich finde es grundsätzlich schwierig, mit dem Autochthonen Ansprüche zu begründen oder abzuwehren, weil es um einen Status geht, der, auf Gruppen bezogen, über die Generationen immer einem Wandlungsprozess unterworfen ist:
    – Wo sind denn die zurzeit heftig diskutierten hier geborenen Kinder von schlecht integrierten Einwanderern autochthon? Hier und dort, oder nirgendwo? Und was folgt daraus?
    – Ich verabscheue Eroberungen und Vertreibungen, aber die Urenkel oder Ururenkel von Eroberern wegen der Sünden der Ahnen aus ihrer Heimat zu vertreiben oder sie dort schlecht zu behandeln, finde ich auch nicht richtig. Das führt schlimmstenfalls in ein endloses blutiges Hin und Her, in dem alle verlieren.
    Das waren nur zwei Beispiele dafür, dass in unserer komplizierten und vielfältigen Welt das Autochthone nur ein Aspekt unter vielen sein kann, wenn es um Regeln des Zusammenlebens geht. So gesehen ist jede Generation gut beraten, ihr Zusammenleben in Vielfalt mit gleichen Rechten und Pflichten für alle jeweils neu auszuhandeln. Nur so besteht die Chance, dass Grenzen zwischen den Gruppen durchlässig werden und Bedrohungsgefühle und Verlustängste bei allen abgebaut werden. Das ist langwierig und schwierig und erfordert viel zivile Konfliktfähigkeit. Die Alternativen sind aber schlimmer.

  9. @ D.

    Um mal aufs Thema zurückzukommen:

    Würdest du auch nicht zwischen verschiedenen Stufen von Autochthonsein differenzieren?

    Sprechen wir z. B. über Australien: Gelten in denen Augen die Abkommen der dorthin umgesiedelten Engländer einerseits und die heutigen Aborigines andererseits gleichmaßen als autochthon?

    Und falls ja: Wodurch können sich die nichtweißen Autochthonen von den weißen Autochthonen wesentlich unterscheiden, um als eine besondere Minderheitengruppe aufzutreten?

    Es gibt dort ja viele Gruppen, die nicht Englisch als Muttersprache haben, und bestimmt auch viele Aborigines, die inzwischen doch Englisch als Muttersprache haben und die nur noch durch ihre Hautfarbe bzw. Abstammung in Verbindung mit den einstigen Autochthonen gebracht werden können.

  10. @ Yoav

    Hm, ich dachte, dass ich die ganze Zeit beim Thema bin ;-). Ich weiß nicht genau, worauf du hinaus willst.
    Deine Ausgangsfrage war gewesen, ob man aus dem Autochthonen Rechte, Pflichten, Ansprüche ableiten kann. Daraus ergeben sich für mich zwei verschiedene Fragestellungen, nämlich zunächst mal die Definition von „autochthon“; erst wenn darüber Klarheit besteht, können wir uns der zweiten Frage zuwenden , nämlich ob, und wenn ja, welche Ansprüche sich daraus ableiten lassen.
    Die Definition kann nur pragmatisch erfolgen, d. h. es muss eine Entscheidung getroffen werden, weil es keine „natürliche“ Definition gibt. Denn jeder Mensch hat irgendwo in seiner Ahnenreihe jemanden, der gewandert ist. Meine Definition ist: Eine Person, die in der Region lebt, wo sie und ihre Eltern geboren und aufgewachsen sind, ist dort autochthon.
    Daraus folgt die Antwort auf deine erste Frage: Nein.
    Zur zweiten Frage: Ja.
    Zur dritten Frage: Wesentlich für den Zusammenhalt einer Gruppe ist m. E. das gemeinsame Narrativ. Das wirkt aber primär nach innen. Nach außen dient es der Selbstdarstellung und Abgrenzung. In dem Narrativ können ganz unterschiedliche Themen wichtig sein: Geschichte, Sprache, Aussehen, Traditionen, Geschichten und Mythen, Siedlungsweisen, Religion, Gebräuche etc. etc.
    Aber das eigene Narrativ zu benutzen, um Ansprüche gegenüber einer anderen Gruppe geltend zu machen, muss scheitern, weil es für die anderen keine Verbindlichkeit hat. Womit ich zur Frage nach unterschiedlichen Rechten und Pflichten komme, die sich m. E. aus meiner Definition des Autochthonen nicht ableiten lassen. Aber dazu habe ich ja in meine anderen Postings schon einiges geschrieben.

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