Die Auflösung der Judenfrage. Das Bild des Juden im Spielfilm der DDR: Kapitel V
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Dies ist eine unformatierte Version der Magisterarbeit "Die Auflösung der Judenfrage. Das Bild des Juden im Spielfilm der DDR", erforscht und geschrieben von Yoav Sapir an der Hebräischen Universität Jerusalem, 2004-2006. Diese unformatierte Version dient allein der Erschließung durch Google. Wenn Sie sich für die Arbeit interessieren, empfehle ich Ihnen wärmstens, kostenlos die PDF-Version herunterzuladen: Klicken Sie hier.
V. Die Forschungsmethode
Die Beantwortung unserer Fragestellung besteht aus drei Schritten: Erstens die Wiederherstellung der dem ostdeutschen Publikum gezeigten jüdischen Identität durch Analyse des oben dargestellten Quellenmaterials; zweitens die Erklärung dieser Identität mithilfe des geschichtlichen, oder näher gesagt: politisch-ideologischen Zusammenhanges in der DDR; und drittens die Entschließung durch Auswertung unserer Erkenntnisse, ob es eine Entthematisierung oder eine Umthematisierung des Juden in der DDR gab. Dabei liegt der methodologische Schwerpunkt auf dem ersten Schritt, der besagten Wiederherstellung bzw. Herausarbeitung einer sehr schwer bestimmbaren »Gruppenidentität«,[260] also von etwas, was im Grunde genommen nur gedanklich vorhanden und daher historiographisch kaum greifbar ist. Die benötigte Methodologie soll deshalb imstande sein, folgende Aufgaben zu erfüllen:[261]
Erstens muss sie Resultate liefern, die tunlichst auf Nachweise basieren, welche ganz deutlich bzw. ausdrücklich in den Texten zu finden sind, und zwar auf Kosten unbeweisbarer und abstrakter Aussagen exegetischer Natur.[262]
Zweitens müssen die Erkennung und Behandlung der Nachweise mit klaren, feststehenden und offenkundigen Kriterien begründet werden.[263]
Drittens müssen gleiche und einheitliche Kriterien die Analyse eines gewissen Aspekts in einer Reihe verschiedener Werke im Rahmen eines längeren Zeitraums ermöglichen.[264]
Viertens muss die Methodologie durchgängiger Natur, also dazu geeignet sein, um der Analyse von Gruppenzugehörigkeitsdarstellungen im Allgemeinen zu dienen,[265] wobei die hiesige Frage nach dem »Bild des Juden im Spielfilm der DDR« nur als Muster- und Extremfall fungiert.[266]
Um zu einer wohl fundierten, bewiesenen und aufschlussreichen Zusammenstellung der literarischen und der historiographischen Disziplin zu gelangen, ist die Entwicklung der dafür geeigneten Forschungsmethode unerlässlich. Anderenfalls mögen wir in die Gefahr der Deskriptivität[267] geraten, wo in der Tat nichts anderes erfordert wird als begründete Erläuterungen.
V.a. Intensive gegenüber extensiver Analyse
Die Gegenwart irgendeiner Gruppe im Film im Allgemeinen (also ohne besondere Rücksicht auf den ostdeutschen) lässt sich von zweierlei Gesichtspunkt aus untersuchen: Einerseits intensiv, andererseits extensiv. Bei einer intensiven Fragestellung handelt es sich um den angeblich einzigartigen Gehalt, der den Figuren dieser Gruppe innewohnt und sie sohin von den restlichen unterscheiden sollte. Bei der extensiven jedoch geht es um die zwischenmenschlichen Beziehungen der manchmal gekennzeichneten bzw. ab- und ausgegrenzten Figuren zu den restlichen bzw. gewöhnlichen. Kurz gefasst: Die intensive Forschungsweise sucht nach dem Innerlichen ohne Rücksicht darauf, was sich draußen, also im Rahmen der Handlung ereignet, während die extensive hingegen das Äußerliche hinterfragt und die Persönlichkeit der Figur unbeachtet lässt.
Manche Figuren lassen sich nur auf die letztere Weise analysieren, wie z. B. die Figur des arabischen Terroristen, die in manchen westlichen Filmen wiederholt zu beobachten ist und keine Geisteswelt zu besitzen scheint. Solch eine Figur hat fast keine inneren Gehalte und ihre Eigenartigkeit kommt hauptsächlich in ihrer meistens gewalttätigen Beziehung zu den restlichen, d.h. gewöhnlichen. Sie ist nicht dazu bestimmt, die Welt und Kultur der Araber bzw. Muslime irgendwie darzustellen (ob in positiver oder negativer Weise), sondern kommt nur zur Vertretung des derzeitigen Bösen, d.h. des diesmaligen Anderen auf die Bühne. Ihre eindimensionale Rolle kommt folglich nur extensiv zum Ausdruck (indem sie bspw. ein Flugzeug entführt) und es gibt daher kaum eine Möglichkeit, eine intensive Frage zu stellen.
Kehren wir jetzt zu unserem Thema zurück: Welche Frage sollen wir stellen? Vielleicht beides? Das hängt davon ab, was für Antworten wir jeweils bekommen können bzw. suchen sollen. Da die ostdeutschen Filme zum jüdischen Thema die Geschichte des Zweiten Weltkrieges aufgreifen, können wir die möglichen Antworten auf eine extensive Fragestellung schon jetzt zusammenfassen: Die Juden sind meistenteils Objekte fremder Gewalt, die sich ziemlich passiv verhalten, also in der Regel die bekannten, sozusagen »schwachen« Exiljuden, oder ganz kurz: Opfer[268]. Aber ist es nicht vorauszusehen gewesen? Die Verhältnisse zwischen Juden und Nichtjuden in diesem Zusammenhang können ebenso gut erwartet werden, wie dieser Zusammenhang bekannt ist. Eine extensive Fragestellung könnte uns also zu keinen neuen Erkenntnissen bringen. Darüber hinaus würde so eine Fragestellung kaum zu unserer ursprünglichen Frage nach der jüdischen Identität der Figuren passen, denn unsere Frage lautet »Worin kommt ihr Jüdischsein zum Ausdruck?« und so etwas, also das Jüdischsein der Figuren, kommt fast ausnahmslos nur im Innerlichen, in den kleinen Einzelheiten ihrer Persönlichkeiten zum Ausdruck – und nicht in ihren Beziehungen zu den nichtjüdischen Figuren. In den Filmen ist freilich keine »typisch jüdische« Verhaltensweise zu beobachten, die ja als antisemitische Vorstellung zu verurteilen wäre. Uns bleibt also Ersteres übrig, nämlich die jüdischen Figuren intensiv zu untersuchen, während die jeweilige Handlung unberücksichtigt bleibt, was auch zur Erfüllung der dritten der oben dargelegten Bedingungen der erforderlichen Forschungsmethode beiträgt, denn mithilfe einer solchen Analyse können wir den Überblick über mehrere Filme gewinnen und doch die Einheitlichkeit der Kriterien, mit denen in den Filmen nach den »Beweisstücken« gesucht werden soll, gleichzeitig bewahren.
V.b. Die Zeichensuche
Wodurch können wir also unsere analytische Frage nach der jüdischen Identität beantworten? Das Jüdischsein einer beliebigen Figur kommt eben darin zum Ausdruck, woran erkannt wird, dass diese Figur jüdisch ist. Ist kein Hinweis auf ihr Jüdischsein zu finden, so ist die Figur – ganz einfach – nichtjüdisch.[269] Mit anderen Worten: Eine Figur ist nur insofern jüdisch, als dies überhaupt wahrnehmbar ist. Eine solche Gruppenzugehörigkeit lässt sich daher lediglich an Anzeichen jüdischer Gegenwart erkennen, aus denen die jüdische Identität der jeweiligen Figur im Film (ob bewusst oder nicht) »hergestellt« wurde und aus deren Gesamtheit sie beim Zuschauerlebnis wieder entsteht. Diese »jüdischen Zeichen«, die bei unserer Antworterstellung als belegbare Bausteine fungieren, müssen wir sammeln sowie anschließend sinnvoll beurteilen und auswerten, um die implizit vermittelte jüdische Identität tunlichst wirklichkeitsgetreu wiederherstellen zu können.
V.b.1. Ausdrückliche gegenüber unausdrücklichen Hinweisen
Die jüdischen Zeichen als Ganzes teilen sich zuallererst in zwei Gattungen: Ausdrückliche und unausdrückliche Hinweise. Mit »ausdrücklichen Hinweisen« werden wörtliche Äußerungen gemeint, wo vom Wort »Jude« und seinen Deklinationen (wie »jüdisch«) sowie von sinnverwandten Wörtern (bspw. »Itzig«, wie etwa in Lebender Ware oder Professor Mamlock) Gebrauch gemacht wird, und zwar entweder mündlich oder schriftlich. Die besondere Art des Bekenntnisses des Kommunisten Mengers zum Judentum im Beil von Wandsbek haben wir schon erwähnt.[270] Ein weiteres Beispiel bildet der Film nackt unter Wölfen (1962), wo sich die Zugehörigkeit des namenlosen[271] Kindes zum Judentum an recht wenig erkennen lässt, unter anderem daran, dass ein SSler den vorläufigen »Stiefvater« des Kindes ganz am Anfang des Filmes mit »Judensau« anredet. Später wird es auf einem Zettel, den ein anderer SSler an seinen Kommandanten schreibt und welcher vom Letzteren auch laut gelesen wird, als »Judenkind« bezeichnet;[272] demzufolge fragt der Kommandant einen Häftling schreiend: »Wo ist das Kind? Wo das Judenbalg ist, will ich wissen!!«, woraufhin er eine andere Weise versucht: »Wer mit sagt, wo das Judenbalg versteckt ist, bekommt eine Belohnung.« – Also vier bzw. fünf Vorkommen des Wortes »Jude«, die durchaus notwendig sind, um das im Grunde genommen ganz gewöhnliche Kind als Jude zu bezeichnen, sodass seine Gewöhnlichkeit ihre bezweckte Bedeutung bekommen kann. Geschrieben kann ein ausdrücklicher Hinweis etwa auch auf einem Schilde stehen, wie in Ehe im Schatten, wo verhältnismäßig kurz nach dem Anfang ein Schild mit dem Wortlaut »Juden unerwünscht« angezeigt wird, oder in Jakob dem Lügner, wo zweimal, am Anfang sowie am Ende des Filmes, zwei verschiedene, von den Nazis aufgestellte Schilder zu sehen sind, auf denen das Wort »Juden« steht.[273] Kennzeichnend für ausdrückliche Hinweise ist, dass sie von Nazis oder ähnlichen (bösen) Figuren ausgehen.
V.b.1.i. Bejahte gegenüber verneinten ausdrücklichen Hinweisen
Bei solchen Fällen ausdrücklicher Hinweise lautet die entscheidende Frage: Wer sagt es, d.h. wer stellt dem Publikum die Objekte der Äußerung als Juden vor? Mit anderen Worten: Sind die als Juden gekennzeichneten Figuren nur Objekte oder aber auch Subjekte ihrer Zuordnung zu einer unterschiedlichen, abgesonderten Gruppe, die »das Judentum« genannt wird? Grundsätzlich gibt es nicht mehr als zwei mögliche Antworten darauf, denn der Zuordnende kann entweder Jude oder Nichtjude sein. Vorerst scheint diese Teilung sinnvoll begründet zu sein: Wenn die Äußerung von den Juden selbst gemacht wird, gilt sie als ein bejahter ausdrücklicher Hinweis, da die jüdischen Figuren[274] sich selbst zum Judentum (d.h. zur jüdischen Gruppe) bekennen und ihren eigenen Willen, dieser abgesonderten Gruppe zuzugehören, somit zum Ausdruck bringen, weshalb diese Selbstzuordnung im Film[275] angenommen wird. Wenn die Äußerung aber von einem nichtjüdischen Fremden ausgeht, so zählt sie als ein verneinter ausdrücklicher Hinweis, da es nun um eine erzwungene und daher im Film abgelehnte Zuordnung geht.
Jedoch teilen sich die Figuren, wie im Nachstehenden erklärt, tatsächlich in zwei anders bestimmte Gruppen, nämlich in gute, weil »aufgeklärte« und in böse, weil »unaufgeklärte« Figuren.[276] Denn einen Sonderfall bildet hier die wiederkehrende Figur des orthodoxen und daher sozusagen »jüdischen« Juden,[277] also wenn eine ausgegrenzte, ausgesprochen jüdische (d.h. orthodox-religiöse) Figur auf eine andere, eher »unjüdische«[278] (d.h. gewöhnliche, säkulare) als Juden hinweist; in dem Fall zählt der von vorneherein ausgegrenzte, »jüdische« Jude als eine Art Fremder, der den (allerdings ebenfalls jüdischen)[279] Protagonisten, welcher kaum (aber nicht: gar keine)[280] jüdische Zeichen zeigt, gegen dessen Willen doch als Juden zu kennzeichnen versucht – also wiederum erzwungen, und zwar nicht zufälligerweise so, wie es die »Faschisten« tun möchten. Eine solcherart erzwungene Zuordnung zum Judentum gilt somit ebenfalls als verneinter ausdrücklicher Hinweis, da das alte bzw. veraltete, sich religiös absondernde Judentum ebenso abgelehnt wird wie die »Faschisten«.
Ein gutes Beispiel für ein solcher Ausnahmefall bietet uns die Austrittsszene im zweiten Teil des Fernsehdreiteilers Hotel Polan und seine Gäste (1980-82), einer Verfilmung von Jan Koplowitzens Bildungsroman Bohemia, Mein Schicksal (Halle und Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1979). Der schon kommunistisch gesinnte, aber noch Schläfelocken pflegender[281] Peter Samuel Polan, künftiger Erbe des Hotels »Bohemia«, besucht die örtliche Synagoge, um dem litauisches (»kimt arein, kimt arein«) Jiddisch[282] sprechenden Rabbiner seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde zu erklären, und zwar dreimal in ein und demselben Gespräch. Dabei redet der Rabbiner Peter Samuel mit »Jud« und »Jid« an, zwar nicht als Herabsetzung, aber wohl gegen Peters Selbstverständnis, welcher ja »Kommunist, Atheist, Humanist« sein will. Diese erzwungene Zuordnung des sozusagen aufgeklärten Protagonisten zum Judentum gilt trotz des ersichtlichen Jüdischseins des Zuordnenden als verneinter ausdrücklicher Hinweis, da es eben diese Offensichtlichkeit des Jüdischseins des Rabbiners ist, welche diesen ausgrenzt und dem Gesichtspunkt des Films entfremdet.
V.b.1.ii. Bekenntnisse jüdischer Figuren zum Judentum
Wofür soll ein ausdrücklicher Hinweis einer jüdischen Figur auf sich selbst gehalten werden? Tatsächlich müssen wir den oben erläuterten Regeln auch in einem solchen Falle folgen. Wenn sich eine kaum oder höchstens nicht sehr[283] jüdische, aber jedenfalls säkulare Figur zum Judentum bekennt, tut sie das aus ihrem freien Willen, woraufhin dies als ein bejahter ausdrücklicher Hinweis gilt. Demgegenüber ist so etwas, wenn es ein religiöser Jude tut (was in Hotel Polan und seine Gäste [1980-82] mehrmals zu beobachten ist, vor allem im ersten Teil), nichts mehr als eine Selbstverständlichkeit. Da aber eine solche Figur ganz klar ausgegrenzt und ihre Lebensweise im Film abgelehnt wird, bekommt ein solcher Hinweis eine ausgesprochen negative Bedeutung. Wie die negative Stellung der Nazis in den Filmen schon an sich zur Ablehnung der von den Nazis ausgehenden ausdrücklichen Hinweise auf Figuren als Juden bringt, so verursacht auch die negative Stellung der Religion im Allgemeinen und der jüdischen Orthodoxie im Besonderen, dass ein Bekenntnis einer geradezu »jüdischen« Figur zum Judentum schon durch ihre negative, weil orthodox-religiöse Rolle im Film verneint wird. Kurz gefasst, werden Selbstbekenntnisse ebenso betrachtet wie andere ausdrückliche Hinweise: Ob ein ausdrücklicher Hinweis im Film bejaht oder verneint wird, hängt vom sozialistisch-ideologischen Stellenwert des Hinweisenden ab. In dieser Hinsicht teilen sich die Figuren in den Filmen – wie vorhin behauptet – nicht in Juden und Nichtjuden, sondern – grob gesagt – in eher gute »Aufgeklärte« (Kommunisten, unjüdische Juden u. Ä.) und gewissermaßen böse »Unaufgeklärte« (Nazis, Orthodoxe, national gesinnte Zionisten u. Ä.); eine Teilung, die ja im Einklang mit sozialistischer Weltanschauung steht. Übrigens: In dem Fall, dass eine aufgeklärte Figur – bspw. der säkulare Protagonist – zu solch einem Bekenntnis zum Judentum gezwungen würde, würde es als ein verneinter ausdrücklicher Hinweis seitens des unaufgeklärten Zwingenden zählen (was sich ja schon von selbst versteht).
V.b.1.iii. Das Gewicht des Zusammenhanges ausdrücklicher Hinweise
Bewertende Betrachtungen des Judentums – wie etwa stereotypische,[284] vorurteilshafte Bemerkungen, dass die Juden nämlich sehr reich[285] (nackt unter Wölfen) oder unsittlich[286] (lebende Ware) seien, aber auch andersartige Meinungen – pflegen solche Konstatierungen bezüglich des Jüdischseins einer beliebigen Figur zu begleiten. Mit anderen Worten: Eine bewertende Meinung zum Judentum bzw. der Judenheit kann (schon logisch, d.h. überall auf Erden) erst entstehen, nachdem der dazu erforderliche Bezug auf das Judentum bzw. die Judenheit genommen worden ist, und zwar gewöhnlich in Form eines ausdrücklichen Hinweises. Wie sollen wir also derartige, den Juden zugeschriebene Werte untersuchen?
Hier kommt es ebenfalls darauf an, wer die Feststellung macht und die mit ihr zusammenhängenden Meinungen ausspricht, d.h. ob der sich Äußernde zu den (verallgemeinert) guten oder bösen Figuren gehört. Handelt es sich um eine sozusagen böse Figur, so werden die Meinungen bzw. Vorurteile im Film genauso abgelehnt wie die ausdrücklichen Hinweise selbst, denen Ersteres das Geleit gibt. Daher gilt diese Art Zurückweisung weltanschaulich verpönter Meinungen ebenso für nationalsozialistische wie für orthodox-religiöse jüdische Figuren. Wir können hier das oben erwähnte Beispiel fortführen, wo der Rabbiner dem jungen Peter Samuel sagt: »A Jud gehört in[s] Kape[ll]haus [anscheinend im Sinne von Bethaus, also Schul, Synagoge], nicht auf der Gass [=Straße].« Es ist klar, dass die sozusagen böse, weil »unaufgeklärte« Rabbinerfigur im Film eben dazu gebraucht wird, um eigentlich durch Ablehnung seiner Meinung zu sagen, dass Juden doch nicht ins Bethaus gehören.
Von »bösen« Figuren ausgesprochene Meinungen zum Judentum tragen also nicht zur Bildung der jüdischen Identität in den Spielfilmen; sie zielen vielmehr darauf ab, verschiedene identitätsstiftende Inhalte, die allerlei jüdischen Identitäten[287] innewohnen mögen, abzustreiten. Daher können uns diese gerade zur Ausstreichung gewisser Inhalte bestimmten Funde nicht zur Wiederherstellung der in den ostdeutschen Spielfilmen gezeigten Idealvorstellung der jüdischen Identität verhelfen. Würden wir als Forscher – wahrscheinlich manchen ostdeutschen Zuschauern ähnlich, an welche diese Funde gerichtet zu sein scheint – das Vorhandensein irgendwelcher jüdischen Identität in den Filmen voraussetzen, so könnten solcherart Leugnungen unsere unbegründete Voraussetzung ggf. untergraben. Da wir aber das Vorhandensein durchaus keiner jüdischen Identität in den Filmen voraussetzen, müssen wir uns ausschließlich auf identitätsstiftende Spuren beschränken.[288] Bestenfalls könnten wir solche Funde, die gewisse identitätsstiftende Inhalte in Abrede zu stellen suchen und daher als keine Beweisstücke fungieren können, zur Verstärkung einer der zu erwartenden Schlussfolgerungen – nämlich, dass die in den Filmen gezeigte jüdische Identität eine leere bzw. entleerte ist – heranziehen; es soll jedoch keine unserer Resultate solcher Hilfsmittel bedürfen.
Dementsprechend gilt genau das Gegenteil für Fälle, in denen sich »gute« Figuren zum Judentum äußern. Werte, Eigenschaften, Neigungen, Erwartungen usw., welche Juden dabei zugeschrieben werden, werden in den Filmen mithilfe des hohen Stellenwertes der sich äußernden guten Figur bejaht. Das Interessanteste ist aber, dass nichts dergleichen in den Filmen ausfindig gemacht werden kann. Es kommt tatsächlich kein ausdrücklicher Hinweis seitens guter Figuren und ebenso wenig damit zusammenhängende Meinungen zum Judentum vor. Das heißt, dass nichts dem Judentum bzw. der Judenheit in ausdrücklicher Weise zugeschrieben wird, dass also gar keine Inhalte, mit denen (irgend) eine jüdische Identität gebildet werden könnte, wörtlich vorgestellt werden.[289]
V.b.2. Unausdrückliche Hinweise
Nun kommen wir bei der zweiten Hauptgattung der jüdischen Zeichen, den unausdrücklichen Hinweisen, an. Damit wird alles gemeint, woran erkennbar ist, dass eine Figur jüdisch ist, ohne aber unmittelbar, d.h. wörtlich und ausdrücklich darauf hinzuweisen. Beispiele für solche Anzeichen jüdischer Gegenwart sind der gelbe Judenstern, Schläfenlöckchen und typisch jüdische Kleider, Vor- und Nachnamen, Gebrauch des Jiddischen oder des Hebräischen (mit Ausnahme ausdrücklicher Hinweise auf das Jüdischsein des Sprechenden), typisch jüdische Kultgegenstände (wie die Chanukijah oder die Menorah)[290] sowie die Erwähnung typisch jüdischer Speisen (wie Gefilte-Fisch oder Tscholnt). Schon aus diesen Beispielen wird klar, dass die Vielfältigkeit der möglichen jüdischen Zeichen eine passende Behandlungsweise erfordert, damit wir imstande sind, diese Fülle richtig zu beurteilen. Wir müssen also Bedingungen zur Klassifizierung des »Tatbestandes« formulieren, d.h. Fragen stellen, die uns zur sinnvollen Unterscheidung zwischen den verschiedenen Zeichenarten verhelfen können.
V.b.2.i. Die drei Grundkategorien unausdrücklicher Hinweise
Anscheinend gibt es hier die folgenden drei nächstliegenden Kategorien: freiwillige, erzwungene und stereotypische Zeichen. Es gibt aber Zeichen, die unter keine dieser Kategorien richtig fallen, wie der Gebrauch des Jiddischen, der als angebliche Muttersprache kaum freiwillig ist, dagegen aber von keinem erzwungen wird und dennoch auch kein Stereotyp bildet. Andere Zeichen fallen zwar unter eine bestimmte Kategorie, würden dann aber ebenso viel gelten wie andere, weit bedeutsamere. So fallen z. B. Vor- und Nachnamen, die wenigstens seitens der Eltern zwar freiwillig gewählt und gegeben, also von keinen Nichtjuden erzwungen worden sind, unter die Kategorie der »freiwilligen« Zeichen, wohin aber auch die Pflege von Schläfenlocken fällt, die im Rahmen unserer Fragestellung, also für die Bildung jüdischer Identität, jedoch viel wichtiger ist als der Vor- oder Nachname: Die Pflege der Löckchen ist ein Ausdruck der jüdischen Identität, während der Name nichts mehr als Umstand ist, der von dieser Zugehörigkeit zeugt. Daraufhin müssen wir genaue Ja/Nein-Fragen formulieren, die auf den Kern des Problems der Identitätsdarstellung im Allgemeinen und der jüdischen im Besonderen abzielen.
Unsere erste Frage lautet also: Wird das jüdische Zeichen aus freiem Willen (im breiteren Sinne) seitens der Figur gezeigt (oder gesagt)[291]? Wenn ja, kommen wir zur zweiten Frage: Fungiert dieses Zeichen (u. a. auch) als Ausdruck der jüdischen Identität (im Gegensatz zu einem bloßen Zeugnis für das Jüdischsein des Zeigenden)? Die Figur muss sich dessen nicht unbedingt bewusst sein, dass ihre Tat ihre jüdische Identität zum Ausdruck bringt; wahrscheinlicher ist, ganz im Gegenteil, dass die Figuren, oder eher die an der Herstellung Beteiligten, diesem Aspekt recht wenige Gedanken, wenn überhaupt, schenkten. Er wird vielmehr unbewusst gespürt und gefühlt – und was wir hier tun, ist die verschiedenen Gefühle in passende Worte zu fassen, um die Unterscheidung zwischen ihnen durch filmische Beweisstücke zu begründen.
Des Weiteren sollen wir uns merken, dass ein Zeichen, das als Ausdruck jüdischer Identität fungiert, gewöhnlich im rituellen, also religiösen Zusammenhang vorkommt. Von dieser Regel gibt es zwar mögliche Ausnahmen – man denke z. B. an die Sinnbilder jüdischer spätneuzeitlicher Sportvereine (abgesehen davon, dass sie sich meistenteils eng an herkömmliche, gewissermaßen religiöse Sinnbilder anlehnen wie der Davidstern oder die Menorah) oder an Anzeichen von Zionismus, wie das (welt?)berühmte Bild Herzls auf dem Hotelbalkon in Basel, ein Neuhebräischunterricht in der Diaspora oder die verschiedenen mit zionistischen Organisationen und selbst mit dem Staate Israels zusammenhängenden Symbole (Hoheitszeichen, Fahne, Nationalhymne usw., möglicherweise auch der angeeignete Falafel) – aber diese Alternativen sind von vorneherein recht begrenzt, sowohl quantitativ als auch qualitativ,[292] und kommen freilich kaum in den Filmen vor.[293]
Durch diese beiden Fragen bilden sich drei mögliche Grundkategorien jüdischer Zeichen, die zwecks unserer Analyse ganz willkürlich als »positiv«, »negativ« und »neutral« bezeichnet werden; mit diesen Bezeichnungen wird also keine Bewertung der Zeichen gemeint: »Negative« Zeichen gelten hier weder als böse noch als schlecht und »positive« Zeichen werden ebenso wenig für gut gehalten.
Die drei möglichen Fälle teilen sich also folgendermaßen: Positive Zeichen sind Wahrnehmbares, welches eine Figur freiwillig und als Ausdruck ihrer jüdischen Identität zeigt oder sagt. Hier werden beide Bedingungen erfüllt. Beispiele sind die Pflege der Löckchen sowie der Verzehr (oder selbst die Erwähnung) herkömmlicher jüdischer Speisen in ihrem ursprünglichen, rituellen Sinne, wie Gefilte-Fisch am Schabbes, Tscholnt als »zweite Mahlzeit« oder Kugel beim chassidischen »Tisch«. Werden diese Speisen außerhalb ihres natürlichen Zusammenhanges erwähnt – wie z. B. in Jakob dem Lügner (1974), wo der offensichtlich säkulare Protagonist von Gefilte-Fisch spricht, wenn er Lina, seiner vorläufigen »Stieftochter«, darüber erzählt, wie es nach der Ankunft der Russen sein sollte – so ist diesen Speisen ihre kultische Bedeutung entzogen. In dem Fall fungieren sie nicht mehr als Ausdruck jüdischer Identität, sondern zeugen nur davon, wie jede andere ethnische Speise. Bei der Figur des Jakob Heym in Jakob dem Lügner wird also die zweite Bedingung nicht erfüllt, weshalb wir bei ihm keine positiven, sondern – wie im Nachstehenden erklärt – nur noch neutrale Zeichen haben.
Negative Zeichen sind Wahrnehmbares, welches einer Figur aufgezwungen wird, so dass keine der beiden Bedingungen erfüllt wird. Ein häufig vorkommendes Beispiel dafür ist das Tragen des Judensterns: Obwohl er seine Tragenden für Juden[294] erklärt, kann er als Unerwünschtes nichts Weiteres zum Kennenlernen der Gekennzeichneten beitragen und zeugt mehr von seinen deutschen Initiatoren als von seinen jüdischen Empfängern. Ein anderes Beispiel von jedoch gleicher Bedeutung wäre die Hinzufügung der Pflichtnamen »Israel« bzw. »Sara«, an die u. a. in den Bildern des Zeugen Schattmann (1971-72) lebhaft erinnert wird; da aber diese Anzeichen jüdischer Gegenwart gesprochen werden, gelten sie als ausdrückliche Zeichen, und zwar als verneinte, was ihnen größere Kraft verleiht als die, welche negative Zeichen besitzen.[295]
Neutrale Zeichen haben mehr mit Umständen zu tun. Das ist Wahrnehmbares, welches eine Figur aus freiem Willen oder wenigstens ohne jeglichen Zwang zeigt oder sagt, aber nicht um ihre jüdische Identität somit zum Ausdruck zu bringen. Hier wird nur die erste Bedingung erfüllt. Der Gebrauch des Jiddischen oder das Vorkommen typisch jüdischer Vor- und Nachnamen sind gute Beispiele für diesen Fall: Diese Zeichen werden nicht erzwungen, sondern – insofern wir überhaupt wissen können – ganz freiwillig ausgeübt bzw. angenommen; jedoch sind sie keine Ausdrücke irgendwelcher jüdischen Identität, sondern nur Zeugnisse für eine. Man redet Jiddisch wie jede andere (Mutter)sprache, d.h. weil seine Eltern es gesprochen haben, oder heißt mit Nachnamen »Blum«, wie Dr. Jacob Blum in Affaire Blum (1948), einfach weil seine Eltern so geheißen haben. Wie vorhin gesagt, sind das alles Umstände, die freiwillig angenommen worden sind, hätte man doch den Namen auch ändern lassen oder den Gebrauch seiner Muttersprache vermeiden können. Unter diese Kategorie fallen also auch die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhange entfernten herkömmlichen jüdischen Speisen, die zwar freiwillig, aber nicht mehr als Ausdruck jüdischer Identität, sondern als gewöhnliche Speisen, d.h. als bloßer Ausdruck des persönlichen Geschmacks verzehrt bzw. erwähnt werden.
V.b.2.ii. Kurzer, oberflächlicher Vergleich mit der Analyse deutscher Identität
Wir haben gesagt, dass die Forschungsmethode dazu geeignet sein muss, auch die Repräsentation anderer (einfacherer) ethnischer Identitäten sinnvoll zu bewältigen. Nun liegt der Vergleich mit einer solchen Identität – zum Beispiel mit der deutschen – nahe: Welche Beispiele für die verschiedenen Kategorien bietet uns die deutsche Identität? Unsere jetzige Absicht ist selbstverständlich nicht, die deutsche Identität – insoweit sie als solche besteht – zu untersuchen (auch die jüdische Identität, wenn es so etwas überhaupt gibt, hinterfragen wir freilich nicht im Rahmen unserer Fragestellung), sondern das Vorhandensein einer deutschen Identität ad hoc vorauszusetzen und Gegenstücke zu den obigen, »jüdischen« Beispielen zu finden.[296]
Was also ausdrückliche Hinweise (mit oder ohne begleitende Bemerkungen) angeht, so werden einfach die jüdischen Bezeichnungen durch deutsche ersetzt: »Deutsche« (also »Germans« usw.) anstatt »Jude«, »Fritz« anstatt »Itzig«. Neutrale Zeichen schlagen sich auch vor: Gebrauch des Deutschen (der allerdings nicht auf Deutsche begrenzt ist) oder örtliche, herkömmliche Kleidung (was nicht allen Deutschen eigentümlich sein kann, wie im Judentum). Demgegenüber stellt es sich als schwieriger heraus, Parallelen zu den negativen und positiven Zeichen zu finden. Da uns keine weitgehenden Deutschenverfolgungen bekannt sind, haben sich auch keine entsprechenden Kennzeichnungsweisen entwickelt. Jedoch können wir die Uniform(en) als ein negatives Zeichen interpretieren, vorausgesetzt, dass die Soldaten dazu gezwungen sind. Hinsichtlich positiver Zeichen können wir uns an nationale Symbole wie Fahnen und Hymnen erinnern. Nationalsozialistische Propagandafilme bringen manches hervor, worin die Hersteller Ausdrücke deutscher Identität erblickten: Arisches Aussehen oder typisch deutscher Kunststil, die in den Filmen als Ausdruck einer (eingebildeten oder nicht) deutschen Identität fungieren. Auch der Gebrauch nationalsozialistischer Sinnbilder in späteren Filmen lässt sich als Ausdruck einer gewissen deutschen Identität deuten, sei es nun das Hakenkreuz oder ein Führerbild an der Wand. In ähnlicher Weise wird eine preußische Identität durch das Hacken-Zusammenschlagen zum Ausdruck gebracht, während ein kurzer Haarschnitt mit dem passenden Schnurrbart nur von dieser Gruppenzugehörigkeit zeugt. Die Pickelhaube könnte hier, wie oben die Uniform, als ein negatives preußisches (u. U. deutsches) Zeichen betrachtet werden, obwohl Zweifel darüber besteht, inwiefern ein gegebenes Publikum dieses Zeichen als ein erzwungenes betrachten würde.
Sicher ist, dass die meisten Zeichen, die auf eine Figur als eine deutsche hinweisen können, unter die Kategorie der neutralen Zeichen fallen, d.h. sie werden freiwillig gezeigt, fungieren aber nicht als Ausdruck deutscher Identität.[297] Ich glaube, dass Ähnliches für die meisten ethnischen Gruppen auf Erden gilt. Die diesbezügliche Einzigartigkeit des Judentums, welches eine Vielfältigkeit von »jüdischen«, sich manchmal widersprechenden Zeichen bietet, entspringt dem einmaligen Zusammentreffen von Volk, Kultur, Sprache(n) und am wichtigsten: Religion. Denken wir an katholische Zeichen, so kommen viele positive, aber wenige neutrale Zeichen vor (geschweige denn negative). Es ist eben diese Anhäufung verschiedener Teilidentitäten, die das Judentum zu einem Extremfall macht. Da unsere Forschungsmethode diesen großen Maßen entsprechend entwickelt worden ist, ist sie auch in der Lage, zur Analyse der Darstellung einfacherer Identitäten verschiedener Art zu dienen.
V.b.2.iii. Die Wichtigkeit der Wahrnehmbarkeit
Es wird hier immer wieder »wahrnehmbar« gesagt, weil damit alles Sicht- und/oder Hörbares im Film gemeint wird. Steht, wie in mehreren Filmen (namentlich Affaire Blum (1948), Lebende Ware (1966), die Bilder des Zeugen Schattmann (1971-72), Levins Mühle (1979-80), Hotel Polan und seine Gäste (1980-82) und der 1990 hergestellte Bronsteins Kinder), eine Menorah oder Chanukijah im Hintergrund, so gibt es darin etwas Wahrnehmbares, das als Anzeichen jüdischer Gegenwart zählt, schon weil es sichtbar ist (und eben somit auf die jeweilige Figur als eine jüdische hinweist). Die Menorah fungiert hier als ein Sinnbild, aber gewissermaßen gibt es hier auch eine Tat, selbst wenn vom Objekt gar kein Gebrauch gemacht wird, denn man könnte ja sagen, dass dieser Kultgegenstand nicht plötzlich durch Gott auf dem Regal geschaffen, sondern zu irgendwelcher früheren Zeit, vorm Filmanfang, dort von der besprochenen Figur hingelegt worden ist, was die Zuschauer für selbstverständlich halten würden, wenn sie überhaupt bewusst daran dächten. Dasselbe gilt z. B. auch für die Namengebung, die gewöhnlich nicht Teil des Filmes bildet,[298] oder für die Pflege der Schläfelöckchen, wo anscheinend zusammenhanglose, eigentlichen Tätigkeiten entfremdete Sinnbilder vorkommen. Kurz gefasst, ist das Kriterium für die Rücksichtnahme auf ein jüdisches Zeichen, dass es wahrnehmbar, d.h. sicht- oder hörbar ist, dass also das Vorhandensein des Zeichens im Film beweisbar ist. Mit diesem Kriterium werden sowohl sinnbildliche als auch tätige Zeichen in die Sammlung eingeschlossen, mit der wir die jüdische Identität wiederherstellen werden.
Zwar könnte ein Individuum einer Menschengruppe zugehören, auch ohne irgendetwas zu zeigen oder zu sagen, also ohne irgendein (ob jüdisches oder andersartiges) Zeichen zu veräußerlichen. So etwas wäre wenigstens gedanklich doch möglich, bspw. anhand verschwiegener Zugehörigkeitsgefühle. Dennoch wären solche Erscheinungen verinnerlichter Zugehörigkeit keineswegs durch filmkünstlerische Mittel darstell- und wahrnehmbar. Ihr ausdrückliches oder implizites Vorkommen im Film wäre deshalb in keiner Weise nachweisbar, was jedwede Art empirisch fundierter Analyse verunmöglicht. Infolgedessen dürfen solche gedanklichen Möglichkeiten bei unserer Analyse gar nicht in Erwägung gezogen werden. Wenn aber eine Figur sagte, dass sie sich jüdisch fühle, würde diese Äußerung schon als ein Zeichen zählen, und zwar als ein (bejahter oder verneinter) ausdrücklicher Hinweis, eben weil sie wahrnehmbar (in diesem Fall: hörbar) wäre. Ihr Vorkommen im Text wäre nachweisbar, weshalb sie berücksichtigt werden müsste.
V.b.2.iv. Sinnbildliche gegenüber tätigen Anzeichen jüdischer Gegenwart
In der Gruppe der so genannten »positiven« Anzeichen muss zwischen zwei Untergruppen unterschieden werden, nämlich zwischen sinnbildlichen und tätigen Anzeichen – Begriffe, welche wir vorhin erwähnt haben. Unter »sinnbildlich« verstehe ich Zeichen wie z. B. die Menorah bzw. Chanukijah[299] und selbst die Jarmulke, während sich die Bezeichnung »tätig« auf Handlungen, etwa ein Gebet oder den kultischen Gebrauch der Tfillin, bezieht. Selbstverständlich ist beides insofern wahrnehmbar, als es sich optisch und/oder akustisch im Film merken lässt. Doch der Tätigkeit, d.h. der bloßen Gegebenheit, dass etwas tatsächlich getan wird, muss besonderes Gewicht beigelegt werden.
Dieser Unterschied kann sehr gut durch das Beispiel der Chanukijah gezeigt werden. Nehmen wir dazu zwei mögliche Fälle an: In dem einen wird eine auf dem Schrank liegend gesehen; im anderen werden zudem auch einige im Rahmen des entsprechenden Rituals brennende Kerzen gesehen. Der kultische Gegenstand an sich, wie er im ersten Falle vorkommt, bezeugt keine kultische Tätigkeit; möglicherweise soll er als ein rein kultureller Gegenstand ausgelegt werden, der zwar auf freiwillige Gruppenzugehörigkeit, aber auf nichts mehr hinweist (also ähnlich der heutzutage von säkularen jüdischen Mädeln getragenen Davidsternkette). Dagegen zeugt der rituelle Gebrauch, der im zweiten Falle vom Kultgegenstand gemacht wird, unbedingt von tieferer Zugehörigkeit als im ersten, und zwar von religiöser Zugehörigkeit. Allein daraus ist selbstverständlich nicht viel über den allgemeinen Grad der Religiosität der Figur zu schließen; jedoch ist schon die Tätigkeit an sich von klarer religiöser Bedeutung.
Ziehen wir nun den negativen Wert in Betracht, welcher der Religion[300] unter kommunistischen Regimen zugeschrieben wird, so wird die Wichtigkeit dieser Unterscheidung zwischen sinnbildlichen und tätigen positiven Anzeichen noch verständlicher. In Levins Mühle trägt die jüdische Hauptfigur eine Jarmulke und lässt ihre Schläfenlocken wachsen, bringt aber ihr Jüdischsein in keiner wahrnehmbaren Tätigkeit zum Ausdruck. Da die Geschichte sich in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts abspielt, wird Levins Aussehen wirklichkeitsnah gestaltet; seine Abkehr von der religiösen Tradition lässt sich u. a. in der Abwesenheit jedweder Umsetzung des anspruchvollen Aussehens in die Tat, sodass sein Aussehen bloß als Tribut fungiert, den er den damaligen gesellschaftlichen Erfordernissen zollen muss. Ähnlich verhält sich Peter Samuel, der Protagonist im gedrehten Bildungsroman Hotel Polan und seine Gäste (1980-82), welcher seine (notabene sehr schönen) Schläfelöckchen wachsen lässt, obwohl er schon »aufgeklärt« worden ist; erst nachdem er seinen Austritt aus der jüdischen Gemeinde erklärt und sich zum Kommunismus bekannt hat, also erst wenn es schon keinen Rückweg mehr gibt, lässt er dieses unverkennbar jüdische Sinnbild wegschneiden (ein wesentliches Ereignis, das uns aber nicht, sondern nur dessen Ergebnis gezeigt wird). Zwischen sinnbildlichen und tätigen positiven Zeichen besteht also ein Abstand von großer Bedeutung.
Die Begriffe »Sinnbild« und »Tat« im Rahmen dieser Analyse müssen aber genauer bestimmt werden. Denn jedem Sinnbild liegt eine vorausgesetzte Tat insofern zugrunde, als es doch irgendwie zustande gekommen, d.h. im Film sichtbar geworden ist. Bezüglich der obigen Beispiele für Vorkommen der Chanukijah kann gesagt werden, dass auch im ersten, »sinnbildlichen« Falle eine Tat vollzogen wurde, indem die Chanukijah überhaupt auf den Schrank hingelegt wurde; oder, dass Levin muss doch seine Scheitelkappe jeden Morgen aufsetzen, wenn dies den Zuschauern auch nicht gezeigt wird. Die beiden Begriffe unterscheiden sich also dadurch, ob ein Zeichen v. a. dazu bestimmt ist, von anderen bzw. dem Publikum gesehen bzw. gehört zu werden, oder eine persönliche Bedeutung für den Zeigenden hat:[301] Wenn Ersteres richtig ist, handelt es sich um ein Sinnbild; ansonsten ist es eine Tätigkeit. Dementsprechend hängt die Beurteilung eines positiven jüdischen Zeichens vom jeweiligen Zusammenhang ab: Wenn Levin bspw. seine Schläfenlocken wachsen lässt, während er mit einer Zigeunerin zusammenlebt und ja keinen einzigen religiösen Ritus vor unseren Augen begeht, ist daraus zu folgern, dass er so etwas Äußerliches tut, um mit den Schläfenlocken gesehen zu werden – also ein sinnbildliches Zeichen; wenn aber in Jakob dem Lügner Herschel [soll sein: Herschl] Schtamm [ja, so] dasselbe tut, obwohl er die Locken vor den Nazis verbergen muss,[302] gilt dies schon als eine Art kultischer Tat, die große Bedeutung für den Tuenden hat, also als ein tätiges (positives jüdisches) Zeichen. Oder, was die Chanukijah anbelangt: Wenn im Wohnzimmer des assimilierten Juden Dr. Jacob Blum (Affaire Blum, 1948) eine Menorah mit nicht angezündeten Kerzen steht und mehrmals[303] gesehen wird, ist es ein sinnbildliches Zeichen von verhältnismäßig niedriger Bedeutung; wenn aber im Hotel Polan auf einer Chanukijah aufgestellte Kerzen beim religiösen Ritus angezündet werden, während die anwesenden Figuren »Maos Zur« singen, gilt es als eine Tat.
Die persönliche Bedeutung, welche das Zeichen für den Zeigenden haben muss, um als eine Tat zu zählen, stammt im Übrigen größtenteils aus dem religiösen Kult. Der Grund dafür liegt darin, dass alle tätigen positiven Zeichen ganz offensichtlich zuerst positive Zeichen sind, welche, wie oben erläutert, als Ausdruck jüdischer Identität fungieren müssen, wobei die Religion gegenüber alternativen jüdischen Lebensweisen sehr im Vorteil ist (wie bereits im Vorstehenden erklärt)[304].
V.b.3. Zusammenfassendes Flussdiagramm zur Zeichenbeurteilung
V.b.4. Die Auswertung der Anzeichen
Insgesamt gibt es also sechs Zeichenarten. Im Nachstehenden – und das ist sozusagen der Kernpunkt der Arbeit – werden sie alle von der bedeutsamsten bis zur bedeutungslosesten (hinsichtlich des jeweiligen Beitrages zur Identitätsbildung) aufgeführt:
1. Bejahte ausdrückliche Hinweise:
Wenn gute, »aufgeklärte« (nicht unbedingt jüdische) Figuren auf andere (jüdische) als Juden hinweisen, bedeutet das im Groben, dass die Juden eine unterschiedliche Gruppe bilden. Wenn der Hinweisende auch Jude ist, bedeutet das, dass die Juden sich selbst ab- und evtl. auch ausgrenzen wollen, dass sie also ein hoch entwickeltes Gruppenbewusstsein haben.
2. Tätige positive Zeichen:
Wird dem Publikum freiwillig und als Ausdruck jüdischer Identität ein Anzeichen jüdischer Gegenwart gezeigt, welches zudem auch eine persönliche Bedeutung für die durchführende Figur hat und somit als eine identitätsstiftende Tat gilt, so wird dem Tuenden erheblicher jüdischer kultureller Inhalt zugeschrieben.
3. Sinnbildliche positive Zeichen:
Wenn dem Publikum, wie im obigen Fall, ein Zeichen freiwillig und als Ausdruck jüdischer Identität gezeigt wird, welches aber nur dazu bestimmt ist, von anderen Figuren innerhalb des Films gesehen (bzw. gehört) zu werden, wird somit etwas verhältnismäßig Oberflächliches vorgestellt, das zwar, aber nur begrenzt zur Bildung der jüdischen Identität der Figur beiträgt.
4. Neutrale Zeichen:
Zeichen, die einerseits freiwillig gezeigt werden, andererseits nicht als Ausdruck jüdischer Identität fungieren, sind bloße Zeugnisse für das Jüdischsein einer Figur, die kein Licht auf deren jüdische Identität zu werfen vermögen (zum Beispiel: sowohl Bundisten als auch Chassidim reden Jiddisch).
5. Negative Zeichen:
Wird einer Figur ein jüdisches Zeichen bzw. das Zeigen des Zeichens aufgezwungen, so könnte dieses Zeichen tatsächlich nichts über den Zeigenden sagen, der übrigens auch gar kein Jude im halachischen Sinne sein mag.[305] Ein solches erzwungenes Zeichen, wie etwa der sehr häufig vorkommende Judenstern, erzählt deshalb vielmehr über seine Initiatoren (d.h. über ihre Vorstellung des Judentums bzw. ihre eigene, nicht-jüdische jüdische Identität,[306] die folglich nur in den Augen und Köpfen der Verfolger besteht) als über seinen Tragenden, also nicht, dass der Tragende Jude ist, sondern dass er für einen Juden gehalten wird, und zwar von den »Faschisten«. Allerdings zählt hier, wie früher erklärt, nur der von den Nazis überlieferte Blickpunkt, sodass wir davon ausgehen müssen, dass auch die Zuschauerschaft in dieser Figur einen Juden erblickt(e).[307] Trotzdem gibt es in solchen Fällen gar keinen identitätsstiftenden Inhalt; ganz im Gegenteil: Es wird hier die Vorstellung, dass es irgendeine jüdische Gruppenidentität überhaupt gibt, gerade durch die Zuordnung solch »unaufgeklärter« Denkweise zu den »Faschisten« (bspw. mithilfe des Judensterns) abgestritten.
6. Verneinte ausdrückliche Hinweise:
Solche, freilich sehr häufige Fälle, sind eben dazu bestimmt, Hinweise auf Figuren bzw. Menschen als Juden in Abrede zu stellen, und zwar durch die Verpöntheit der verschiedenen Hinweisenden (meistenteils Nazis). Auch hier gibt es keinen identitätsstiftenden Inhalt.
Wir sehen also, dass drei der sechs Zeichenarten auf verschiedene Weise zur Bildung[308] einer jüdischen Identität[309], d.h. zur Charakterisierung der Zugehörigkeit zur jüdischen Gruppe beitragen können, eine gar keinen Einfluss darauf ausübt und die verbleibenden zwei in der Tat die Untergrabung jedweder jüdischen Identität bezwecken.
V.c. Der kulturelle Raum[310]
Die möglichen Darstellungsweisen ethnischer oder anderer Gruppenzugehörigkeit hängen von der jeweiligen Kultur ab, innerhalb deren die Gruppe dargestellt wird. Gewöhnlich sowie beim hiesigen Fall ist es die Kultur, welche die Gruppe umgibt, also mit welcher das Bestehen der Gruppe als solche zusammenhängt. Das gilt umso mehr für die Vielfalt der möglichen, durch filmkünstlerische Mittel realisierbaren jüdischen Zeichen, die aus mehreren, unterschiedlichen kulturellen Räumen stammen. Deswegen ist der zu erwartende kulturelle Raum, in welchem nach jüdischen Zeichen gesucht werden soll, im Voraus zu bestimmen. Dieser soll einerseits klein genug sein, um genaue Hinweise zu ermöglichen, andererseits groß genug, damit diese Hinweise sinnvolle Resultate liefern.
Im Allgemeinen wird ein kultureller Raum durch drei Achsen bestimmt: Zum Ersten zeitlich – bspw. die sinnbildliche Rolle, die der »Davidstern« genannten geometrischen Form in der Neuzeit zugeschrieben worden ist, gegenüber der ähnlichen Rolle, die die Menorah im Altertum hatte; zum Zweiten geographisch – z. B. die Kapote als orthodoxe Kleidung in Osteuropa, was auf die damals in den muslimischen Ländern befindlichen Juden nicht zutrifft; und zum Dritten sozial – es besteht etwa Zweifel daran, ob ein deutscher Bauer in einem so befremdlichen Gegenstand wie die Tfillin ein Anzeichen gerade jüdischer Gegenwart erblicken würde.
Dieser Regel entsprechend liegt der kulturelle Raum der typisch ostdeutschen Inhalte im weltberühmten Film Good Bye, Lenin! (BRD, 2001-2003) zeitlich hauptsächlich in der Wendezeit (wenn manchmal auch zurückgegriffen wird), geographisch vorwiegend in den Gebieten der ehemaligen DDR und sozial bei ehemaligen Bürgern der DDR, die zur Zeit der Wende schon alt genug waren, um später die Hinweise auf die Besonderheiten der DDR und der Wendezeit verstehen zu können (d.h. über die dramaturgischen, durchgängigen Qualitäten des Films hinaus, welche selbst Nichtdeutsche zu genießen vermögen). Hieraus wird ersichtlich, dass der kulturelle Raum der ostdeutschen Inhalte in Good Bye, Lenin! ziemlich eng bestimmt ist, was daher rührt, dass alle Eckpunkte des Darstellungsdreiecks – nämlich die (z. T. westdeutschen) »Schriftsteller«, die (ebenfalls nicht nur ostdeutschen) »Leser« und die (größtenteils ostdeutschen) dargestellten Figuren – im Groben und Ganzen ein und derselben Gruppe angehören,[311] sodass es sich in diesem deutschen Film schließlich eher um eine Selbstdarstellung geht als um eine Darstellung des Anderen.
Was aber die jüdische Gegenwart in den von uns analysierten Filmen belangt, handelt es sich ganz offensichtlich um eine Darstellung des Anderen, was zu einer verhältnismäßig verallgemeinerten Bestimmung des zu erwartenden kulturellen Raumes der jüdischen Inhalte führt: Zeitlich durch Beschränkung auf die späte Neuzeit, welcher die zur Sache gehörigen jüdischen Inhalte (wie Orthodoxie, Judenstern, Stereotype usw.) innewohnen, da sich die Filme ja nicht immer mit der Holocaustzeit beschäftigen, welcher die meisten Inhalte sowieso nicht eigentümlich sind; geographisch auf Mittel- und Osteuropa (Groß-Aschkenas), in dem das dargestellte Judentum lebt(e); und sozial auf nichtjüdische Mitteleuropäer, die jene Zeichen wahrnehmen und verstehen können sollen, durch welche die jüdischen kulturellen Inhalte in den Filmen wiedergegeben werden – also Oberbegriff für Bürger der DDR, die sich in dieser Hinsicht nicht von ihren Nachbarn unterscheiden.
Nun kann und soll mir vorgeworfen werden, dass ich im Allgemeinen und als Zuschauer – und daher auch als Forscher – im Besonderen kein nichtjüdischer Mitteleuropäer bin, worauf ich nur antworten kann, dass ich hier als Jude aus dem Lande Israels, der dem nichtjüdischen Europa doch nicht so fern steht, mein Bestes gebe; mehr kann ich nicht, weshalb ich die Richtigkeit dieses Einwandes vollkommen zugeben muss. Allerdings soll unsere empirische Forschungsmethode die jedem Text innewohnenden Abstände zwischen dem jeweiligen Hersteller und der unendlich vielfältigen Konsumentenschaft verringern.
V.d. Methodologische Schlussfolgerungen
V.d.1. Stereotype als Zeichen
Stereotype haben bekanntermaßen nur recht beschränkte Geltung. Und doch haben sie irgendwann irgendwelche gehabt (oder sogar noch), denn sonst wären sie von vorneherein gar nicht entstanden.[312] Wichtig ist auf jeden Fall, dass gewisse Stereotype immer noch im Gebrauch sind, und zwar um Menschen indirekt und unausdrücklich (in unserem Fall: als Juden) zu kennzeichnen, oder besser gesagt: um Menschengruppen von der eigenen, für »normal« gehaltenen Gruppe abzugrenzen. Darüber hinaus muss das Stereotypische etwas ganz Gewöhnliches sein;[313] das für die abzugrenzende Gruppe wirklich Typische kann nie stereotypisch gebraucht werden.[314] Stereotype sind also immer Übertreibungen des überall Üblichen, welches man auch in der eigenen Gruppe hat und daraufhin in eine andere, dadurch abgegrenzte Gruppe projiziert. Bezeichnend für die von anderen durch die stereotypische Übertreibung gekennzeichnete Gruppe ist also nicht, dass sie reich, geizig oder unhöflich sei (denn das ist alles gewöhnlich und im Grunde genommen allgegenwärtig), sondern dass sie von anderen für sehr bzw. allzu reich, geizig usw. gehalten wird: Die Gradpartikeln wohnen allen Stereotypen inne, wenn sie auch nicht zum wörtlichen Ausdruck kommen. Wenn man sagt, dass die Deutschen ordentlich seien, wird damit nicht ausgesagt, dass nur die Deutschen ordentlich seien, sondern eigentlich, dass sie verhältnismäßig sehr ordentlich seien (also dafür gehalten werden).
Stereotype können nun auf zweierlei Weise in Texten vorkommen: Sie können entweder in übliche Worte gefasst oder schauspielerisch dargestellt (bzw. beschrieben) werden. Das will sagen: Eine antisemitisch gesinnte Figur kann z. B. von den »Wucherern« reden und sich damit unausdrücklich auf Juden beziehen; demgegenüber kann dasselbe Stereotyp durch eine jüdische Figur zum Ausdruck gebracht werden, die als sehr reich und ausbeuterisch dargestellt bzw. (in einem Buch) beschrieben wird. Nun müssen wir uns fragen: Versteckt sich hinter jeder solchen jüdischen Figur, also schon an sich, eine stereotypische Vorstellung? Oder muss es eine Reihe mehrerer Filme geben, wo jüdische Figuren ausschließlich als sehr reich und ausbeuterisch dargestellt werden, damit man von einem »Stereotyp« sprechen kann? Zur Beantwortung dieser schwierigen Frage würde ich unsere Grundregel heranziehen: »Eine Figur ist nur insofern jüdisch, als dies überhaupt wahrnehmbar ist.«[315] Das heißt: Nur wenn man schon an einer bestimmten Darstellungsweise alleine erkennt bzw. erkennen kann, dass die auf diese Weise dargestellten Figur Jude ist (d.h. der jeweils stereotypisch abzugrenzenden Menschengruppe zugehört), kann man von einer stereotypischen Darstellung reden. Das wäre natürlich sehr schwer, haben wir doch gesagt, dass alles Stereotypische nichts anderes ist als Übertreibung des Gewöhnlichen.
Diese Schwierigkeit begegnet uns auch im ersten Fall, dem einer wörtlichen stereotypischen Äußerung. Allerdings habe ich bemerkt, dass Stereotype im Allgemeinen nur in dem entsprechenden Zusammenhang vorkommen. Das heißt: Eine antisemitische Figur kann sich erst dann mit einem Bezug auf die »Wucherer« begnügen, nachdem in anderer Weise schon klargemacht worden ist, dass die Menschen, auf welche späterhin durch »Wucherer« bezogen werden sollte, tatsächlich Juden sind. In den hier analysierten Filmen gibt es nur recht wenige Vorkommnisse von Stereotypen; ein Beispiel für solch eines können wir aus Jakob dem Lügner ziehen, wo sich bspw. ein SSler vor seinem Kameraden (der übrigens niemand anderes ist als der in der Toilette befindliche Jakob Heym) darüber beklagt, ein anderer SS-Mann werde immer wieder auf Urlaub geschickt »[…] und unsereins bleibt egalweg bei diesen Knoblauchfressern!« Wenn dies gesagt wird, ist den Zuschauern schon früher klar geworden, dass diejenigen, auf welche sich der Beklagende bezieht (also die Ghettobewohner), Juden sind. Früher habe ich erwähnt,[316] dass in lebender Ware (1966) die Figur des Kurt Andreas Becher dem Juden Dr. Chorin sagt: »[…] aber wenn wir von euch was wollen, dann werden die Itzigs moralisch…« Wollen wir dieses Vorurteil (dass die Juden in der Tat unmoralisch seien) als eine Art Stereotyp betrachten, so geht der stereotypischen Äußerung ein ausdrücklicher Hinweis voran. In Nackt unter Wölfen fragt ein SSler: »Judensau, Verfluchter! Hast du deine gold’nen Diamanten drin?« Also nochmals eine stereotypische Verknüpfung, welche nur dann verständlich ist, wenn den Zuschauern klar ist, auf welche Menschengruppe sich die Übertreibung (unermesslicher Reichtum) überhaupt bezieht. Im amerikanischen Komödienfilm Top Secret! (Jim Abrahams, David Zucker, Jerry Zucker, 1984) sagt eine der Hauptfiguren namens Nigel: »We’ve got to hand it to the Germans, they make great cars«. Die stereotypische Äußerung wirkt sich erst dann (lustig) aus, nachdem klargemacht worden ist, dass sie sich auf Deutsche bezieht. Darüber hinaus geht es hier – wie eigentlich auch in den anderen Beispielen – nicht darum, dass die Deutschen überhaupt Kraftwagen herstellen, sondern darum, dass diese Kraftwagen sehr gut seien (bzw. dass die Juden viel mehr Knoblauch verzehren als bei anderen Völkern üblich ist und weit unmoralischer seien als Angehörige anderer Völker).
Wir können also sagen, dass wörtliche stereotypische Äußerungen, die immer, wenn auch auf verschiedene Weise, mit ausdrücklichen Hinweisen zusammenhängen, nichts anderes sind als alle anderen Bemerkungen, die ausdrückliche Hinweise auf Menschen als einer bestimmten Gruppe Zugehörige begleiten.[317] Genau wie dort, hängt es auch hier davon ab, wer die Meinung ausspricht, ob eine gute »aufgeklärte« oder eine böse »unaufgeklärte« Figur. Dies gilt auch dann, wenn der ausdrückliche Hinweis zu fehlen scheint, wie im obigen Knoblauch-Beispiel aus Jakob dem Lügner, weil die wörtliche Äußerung unbedingt voraussetzt, dass das Signifikat dem Publikum bekannt und verständlich genug ist (dort geht es ja um die Hauptfiguren des Films), um den stereotypischen Signifikant auch dann unmittelbar mit dem beabsichtigten Signifikat in Verbindung bringen zu können, wenn es nicht noch einmal wörtlich erwähnt wird.
Kehren wir nun zum zweiten Fall, dem der Schauspielerei (bzw. der schriftlichen Beschreibung) zurück. Auch hier können wir ein Beispiel aus Jakob dem Lügner entlehnen, wo der weltberühmte Erwin Geschonneck die jüdische Figur des Nebbichs Kowalski[318] vermittels typisch jüdischer Rede- und Verhaltensweise verkörpert. Die damit zusammenhängenden Gebärden sind nichts mehr als Übertreibung eigentlich gesamtmenschlicher Gesten, was in Handbewegungen, Körperhaltung und Blickwinkel, etwas weinerlichem Umgangston, Gesichtsausdrücken und selbstverständlich in der eindrucksvollen Vielfalt von Seufzern zum Ausdruck kommt.
Würde also an diesen Übertreibungen alleine erkannt, dass Herr Kowalski Jude ist, wenn dies nicht von vorneherein bekannt wäre? Diese Frage lässt sich nicht so einfach mit »Ja« oder »Nein« beantworten, weshalb ich mir nur zu vermuten erlaube, und zwar dass die Antwort »Ja« lautet. Tatsächlich aber müssen wir gar keine Entscheidung diesbezüglich treffen: Wenn die Antwort »Nein« lauten soll, also wenn man nicht daran erkennen kann, dass er Jude ist, so sind alle Gesten gar keine Anzeichen jüdischer Gegenwart, sollen also gar nicht mitgezählt und analysiert werden, was unsere Hypothese hinsichtlich der Leitfrage (dass die jüdische Identität eine leere bzw. entleerte ist)[319] sowieso keineswegs beeinträchtigen könnte. Wenn die Antwort aber »Ja« lauten soll, müssen wir die Gesten – allerdings als Beispielsfall – doch in die Analyse mit einbeziehen, und zwar so, wie im Folgenden erläutert wird.
Im Gegensatz zum ersten Falle, wo die durch das Stereotyp Gekennzeichneten Objekte des sich stereotypisch Äußernden sind, ist die Figur im zweiten Falle ein Subjekt, welches das Stereotypische aus freiem Willen zeigt. Würde die stereotypische Verhaltensweise dem dadurch Gekennzeichneten aufgezwungen, könnte sie gar nicht für stereotypisch gehalten werden, würde also gar keinen Sinn ergeben. Der reiche, weil ausbeuterische Jude, der heißblütiger Morgenländer, der höfliche oder sich gleichgültig benehmende Engländer, der allzu ordentliche Deutsche, der zu Diebstählen geneigte Osteuropäer, der geizige Perser oder Schottländer sowie der feurige, südländische Liebhaber – alle diese Figuren müssen den Vorschriften des jeweiligen Stereotyps freiwillig folgen, um vom stereotypischen Blickpunkt aus dadurch abgegrenzt werden zu können.
Nun müssen wir die zweite Frage stellen, also ob das Stereotypische auch als Ausdruck der jeweiligen Gruppenidentität fungiert, und zwar in den Augen der Zuschauerschaft, an die der Gebrauch des Stereotyps gerichtet ist und welche dieses zu verstehen weiß, also von demselben stereotypischen Blickpunkt aus. Vorhin haben wir zwei entgegengesetzte Feststellungen getroffen: Einerseits soll das Stereotypische die abzugrenzende Gruppe dermaßen kennzeichnen, dass es sie vielleicht schon versinnbildlicht, worin die Abgrenzenden möglicherweise eine Art Ausdruck der Identität der Abgegrenzten erblicken mögen; andererseits ist das Stereotypische nicht das für diese Gruppe wirklich Typische, sondern immer und überall nur eine Übertreibung des Gewöhnlichen, was anzudeuten vermag, dass das Stereotypische gar nicht im Stande ist, als Ausdruck gerade einer bestimmten Gruppenidentität zu fungieren. Um aus diesem Patt hinauszukommen sollen wir ein drittes Argument vorbringen, nämlich dass das Stereotypische ausnahmslos von den Abgrenzenden negativ betrachtet wird, wobei es – verallgemeinert und im Grunde genommen – zwei Möglichkeiten gibt: Das Stereotypische wird von den Abgrenzenden entweder für lächerlich (z. B. die allzu ordentlichen Deutschen oder vermeintlich typisch jüdische Gebärden) oder für verpönt (z. B. die ausbeuterischen Juden) gehalten. Das, was die Abgrenzenden als etwas Lächerliches ansehen, kann unmöglich von denselbigen als ernsthaft genug empfunden werden, damit es hier als Ausdruck der Identität der Abgegrenzten zählen könnte. Anders geht es bei Stereotypischem, in dem die Abgrenzenden etwas Verpöntes erblicken, welches selbstverständlich für dieselbigen sehr wichtig ist und hier folglich als Ausdruck der Identität der Abgegrenzten gelten kann.
Diese kleine Erörterung lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Erstens gilt als Stereotyp nur Wahrnehmbares (jedoch nicht alles Wahrnehmbare!), an welchem eine Gruppenzugehörigkeit zu erkennen ist. Zweitens: Wenn ein Stereotyp wörtlich geäußert wird, gilt es als eine Bemerkung, die einen ausdrücklichen Hinweis begleitet; dann hängt seine Bejahung oder Verneinung davon ab, wer es geäußert hat, ob eine gute oder böse Figur. Und Drittens: Wenn ein Stereotyp schauspielerisch dargestellt wird, gilt es entweder als neutrales oder als positives Zeichen; neutral, wenn das Stereotypische vom Publikum für lächerlich gehalten wird, und positiv, wenn es als verpönt angesehen wird.
In unseren ostdeutschen Spielfilmen kommen, wie schon oben gesagt, recht wenige Stereotype vor.[320] Es gibt keine stereotypischen Äußerungen, die von guten Figuren gemacht werden, d.h. alle wörtlich geäußerten Stereotype werden in den Filmen durch den negativen Stellenrang des sich Äußernden verneint. Zudem sind alle schauspielerisch dargestellten Stereotype ausschließlich lächerlicher, also mehr oder weniger harmloser Natur, und gelten daher als neutrale Zeichen. Des Weiteren werden all diese neutralen Stereotype auf eine bestimmte Figur gelenkt, sodass alles Stereotypische in einem goldenen Käfig sitzt. Damit wird die unbewusste Spannung zwischen dem Vorurteilhaften in den Köpfen der Zuschauer und dem Gewöhnlichen auf der Leinwand anscheinend abgebaut, sodass die restlichen Figuren von den stereotypischen Erwartungen befreit und als ganz gewöhnliche Menschen gezeigt werden können. Ähnliche Darstellungsweise wird im Übrigen auch für Behandlung der Religion gebraucht, die ebenfalls in einem goldenen Käfig sitzen muss.[321]
Wo rangiert also das oben erwähnte Knoblauch-Stereotyp? Selbst wenn das Stereotyp an sich den Juden aufgezwungen wird, wird der Knoblauchverzehr – was die stereotypischen Vorstellungen betrifft – doch freiwillig begangen, und zwar aus Appetit darauf. Diese Neigung gilt folglich als ein lächerliches Merkmal der Juden und fungiert daher nicht als Ausdruck jüdischer Identität. Laut der obigen Bedingungen fällt also dieses Stereotyp unter die Kategorie neutraler Zeichen. Zu diesem Entschluss können wir übrigens auch vom ursprünglichen Gesichtspunkt unserer Analyse aus gelangen, also ohne Rücksicht darauf, dass es sich hier um ein Stereotyp handelt. Dann erfolgt diese Einordnung nicht darauf, dass dem Knoblauch als solchem, d.h. als Zutat (im Gegensatz zu ordentlichen Speisen wie Gefilte-Fisch oder Tscholnt), keine halachische Bedeutung beigemessen wird – da Ähnliches bspw. ebenso für den[322] Kugel oder eigentlich auch für das gesamte chassidische Tisch-Ritual gilt, die aber doch nicht als neutrale, sondern als positive Zeichen zählen – sondern darauf, dass der Knoblauch als solcher keine rituelle Bedeutung hat, während der Kugel hingegen nicht nur aus freiem Willen, sondern auch als Ausdruck jüdischer Identität gekocht und gegessen wird.
V.d.2. Zur Unterscheidung zwischen Ausdrücklichem und Unausdrücklichem
Nun soll der Unterschied zwischen Synonymen von »Jude« und Stereotypen vermerkt werden: Mit dem sinnverwandten Wort »Itzig« sagt man unmittelbar und zu gleicher Zeit »Jude«. Demgegenüber wird mit »Knoblauchfresser« eine unausdrückliche, unwörtliche Vorstellung herangezogen, nämlich das vermeintliche Verlangen der Juden nach Knoblauch. Zwar wird beides gesagt, also durch Wörter zum Ausdruck gebracht, aber beim Letzteren wird nicht der Begriff selbst, d.h. das Wort »Jude« oder sinnverwandte Bezeichnungen, sondern eine indirekte Vorstellung gebraucht, die erst nachträglich auf Menschen als Juden hinweist (und wie oben erklärt, nicht selbstständig, sondern im passenden Zusammenhang). Daher gehört der Ausdruck »Knoblauchfresser«, trotz der wörtlichen Form, der gleichen Zeichenart wie der gelbe Judenstern, der ebenfalls von einer indirekten Vorstellung Gebrauch macht. »Ausdrücklich« ist also nicht gleichbedeutend mit »wörtlich«; zwar ist alles Ausdrückliche wörtlicher Natur, dennoch nicht umgekehrt. Im ersten Teil der Bilder des Zeugen Schattmann (1971-72) erinnert sich der Protagonist an das »Tragen des gelben Sterns«, was der wörtlicher Form ungeachtet als negatives Zeichen gilt, wie alle anderen Vorkommnisse des Judensterns, egal in welcher Form. Kurz gefasst: Ausdrückliche Hinweise bestehen aus einem einzigen Assoziationsschritt, wobei der Signifikant »Jude« (oder ein sinnverwandtes Wort) ist und das unmittelbare Signifikat der Jude selbst – oder besser gesagt: die Vorstellung des Juden – ist (»Juden«/»Itzigs« " Juden bzw. die Vorstellung des Juden); demgegenüber bestehen unausdrückliche Hinweise aus zwei Assoziationsschritten, wobei der Jude selbst frühestens erst als zweites Signifikat eintritt (»Knoblauchfresser«/Judenstern/Schtreiml/der Pflichtname »Israel« " der Begriff »Juden« " Juden bzw. die Vorstellung des Juden). Diese Unterscheidung ist uns wichtig, weil ausdrückliche, unmittelbare Hinweise ganz anders zu beurteilen sind als die verschiedenen unausdrücklichen, wie wir oben gesehen haben. Das rührt davon her, dass ausdrückliche Hinweise an sich sozusagen die »leersten« sind, während unausdrückliche Hinweise doch irgendwelchen Inhalt in sich bergen, sei es auch nur »Knoblauch« bzw. Gestank.
V.d.3. Abwesenheit von Erwartetem und Anwesenheit von Unerwartetem
Wie sollen wir die Abwesenheit eines bestimmten Zeichens behandeln und ggf. beurteilen, welches ich, der ich das Judentum (in unserem Fall; gilt aber selbstverständlich genauso für andere Menschengruppen) in bestimmter Weise begreife, erwarte? Ein Beispiel dafür könnte im jetzigen Zusammenhang die Nichterfüllung eines der 248 (Tu-)Gebote:[323] Ich mag erwarten, dass irgendwelche Figur irgendetwas tut, z. B. nach dem Essen »bentscht« (segnet), was sie aber offensichtlicht nicht tut: In Jakob dem Lügner steht der fromme Herschel Schtamm vom Tisch auf, ohne gebentscht zu haben. Tatsächlich trägt er die Jarmulke überhaupt nicht! Also ein sehr verwunderliches Verhalten von jemandem, der das Wagnis, ermordet zu werden, auf sich zu nehmen bereit ist, um seine Schläfenlocken nur nicht wegschneiden zu lassen. Kann die Abwesenheit des von mir Erwarteten irgendetwas über die jeweilige Figur sagen? Diese Frage lässt sich auch umgekehrt stellen: Welche Bedeutung – wenn überhaupt – soll dem unerwarteten Vorkommen von irgendetwas (z. B. die Nichterfüllung eines der 365 Verbote, also die Durchführung des Verbotenen) beigemessen werden?
Die Antwort lautet, dass den Filmen gar kein Vorurteil aufgezwungen werden darf, das die Abwesenheit von Erwartetem oder die Anwesenheit von Unerwartetem nur in Anbetracht der Nichtübereinstimmung zwischen dem Film und den Erwartungen des jeweiligen Zuschauers zu beurteilen sucht. Eine solche Annahme – dass eine bestimmte Figur etwas tun soll, welches der Zuschauer für passend oder erforderlich hält (sei es von seinem Standpunkt aus »jüdisch«, »katholisch«, »russisch« usw.), oder sich von etwas anderem enthalten soll, welches der Zuschauer für unpassend oder verboten hält – schließt von vorneherein aus, dass die als »Juden« gekennzeichnete Figuren bzw. Menschen tatsächlich ganz gewöhnliche Menschen sind, wie alle anderen, ohne jeglichen Besonderheit, durch welche sie sich von den restlichen unterscheiden. Infolgedessen muss die Suche nach Anzeichen jüdischer Gegenwart positivistischer Natur sein, d.h. sie muss ausnahmslos auf wahrnehmbaren Zeichen beruhen, welche positiv auf die Figuren als Juden hinweisen können, und gar keine Rücksicht auf die Nichterfüllung irgendwelcher Erwartungen nehmen, welche aus Vorurteilen bezüglich dessen, wer Jude ist und wie er sich verhalten soll, entspringen.
V.d.3.i. Stellung der Halachah
Solche Erwartungen bestehen meistens aus halachischen Inhalten, sodass somit auch die Frage nach der Stellung des jüdischen Rechts bei der Zeichensuche beantwortet wird. Die einzige Ausnahme von dieser sonst verbindlichen Regel ist der Anspruch, eine bestimmte jüdische (oder polnische, japanische etc.) Besonderheit zu zeigen. Nur dann kann die Nichterfüllung einer Erwartung bezüglich eines bestimmten Zeichens (ob Anwesenheit von etwas »Jüdischem« oder Abwesenheit von etwas »Unjüdischem«), welche aufgrund des Anspruchs nahe liegt, irgendwelche Bedeutung haben. Wenn eine Figur, zum Beispiel, einen orthodoxen Juden darzustellen vorgibt, dürfen wir das Vorkommen bestimmter jüdischer Zeichen sowie das Nichterscheinen von anderem, das für gesetzwidrig gehalten wird, erwarten; und wenn diese angeblich orthodoxe Figur gegen eines der Verbote (איסורים, z. B. den Rand des Haupthaares rund schert usw.) oder eines der Gebote (חיובים, z. B. nach – oder aber auch vor – dem Essen nicht segnet) verstößt, dürfen wir der Nichterfüllung unserer Erwartung Bedeutung beimessen.
Freilich ist Vorsicht auch in diesem Fall nötig, denn wir können nicht wissen, welches Gewicht (wenn überhaupt) einerseits dem uns bekannten jüdischen Recht bei der Gestaltung der Figuren beigelegt wird und inwiefern sich andererseits die Endform einer bestimmten Figur auf das »Allgemeinwissen« von irgendjemandem unter den an der Filmherstellung Beteiligten stützt. Wie oben gesagt, ist der kulturelle Raum auf nichtjüdische Mitteleuropäer begrenzt. Demzufolge lautet die entscheidende Frage, ob die Figur gegen ein wohl bekanntes, ja berühmtes Ge- oder Verbot verstößt, von dem wir annehmen können, dass es auch Nichtjuden bekannt ist, woraufhin der Verstoß allem Anschein nach absichtlich gezeigt wird, oder aber gegen ein verhältnismäßig »unbedeutendes« Gesetz (oder Verordnung) verstößt, wo wir annehmen sollen, dass der Verstoß Unkenntnissen entstammt, infolge wessen ihm keine Bedeutung beizumessen ist. Ohnehin kann selbst der Verstoß gegen ein berühmtes Gesetz übergangen werden, wenn dieser bestimmte Verstoß in scharfem Widerspruch zu einem anderen Zeichen steht. Wenn also die angeblich orthodoxe Figur vor, aber nicht nach dem Essen bentscht, handelt es sich ganz offenkundig um Unwissenheit und nicht um absichtliche Abwesenheit des von uns Erwarteten.
Ähnliches gilt auch für Lächerlichkeiten, also bei Anwesenheit von Unerwartetem, das aber nicht verboten, sondern nur übertrieben ist. So wird keine überspitzte Frömmigkeit bezeugt, wenn der Besitzer des Hotels »Bohemia« im ersten Teil des Fernsehvierteilers Hotel Polan und seine Gäste (1980-82), also der Großvater des vorerwähnten Protagonisten Peter Samuel, einem Abgesandten des Radomsker Rebben, eines möglichen Kunden, Folgendes von der Hotelsynagoge erzählt: »und hier dawenet man am Schabbes und an Feiertagen, und jeden Tag Schachris, Musaf, Mincha und Meirew.« Desgleichen, wenn der Abgesandte nicht nur vor, sondern auch nach dem Essen »al Netilas Jodojim« segnet, wobei aber beides – sowohl vor als auch nach dem Essen – unmittelbar durch den Wasserhahn, also falsch durchgeführt wird, was als Abwesenheit von Nichtjuden anscheinend unbekanntem Erwartetem ebenfalls keine Bedeutung hat. Ein anderes Beispiel ist das Kerzenanzünden im ersten Teil der Bilder des Zeugen Schattmann, selbstverständlich durch einen orthodoxen, also den ent- und verfremdeten »jüdischen« Juden,[324] dagegen aber nach der so genannten ersten Mahlzeit, also tief im Schabbes, wobei nur der Ritual an sich von Bedeutung ist und nicht die Unkenntnis, die so etwas ermöglichte. Als ein weiteres Beispiel darf hier der Sarg dienen, der zuweilen (etwa zweimal im zweiten Teil von Hotel Polan und seine Gäste oder ganz am Anfang von Bronsteins Kindern), wenn auch nicht sehr oft, bei (scheinbar) orthodoxen Beerdigungen vorkommt, was sich nur auf Unkenntnis zurückführen lässt und worauf wir keine Rücksicht nehmen sollen. Kurz gefasst, gilt nicht die Halachah an sich, sondern, was im besagten kulturellen Raum[325] als halachisch begriffen bzw. gemeint wurde, bei unserer Analyse als halachisch und daher auch als Ausdruck jüdischer Identität, d.h. als positives Zeichen.
V.d.3.ii. Die empirische Regel
Die Regel, welche die Beantwortung der Frage nach der Behandlung der Abwesenheit von Erwartetem und der Anwesenheit von Unerwartetem zusammenfasst, besteht aus den zwei folgenden Schritten:
Zum Ersten kann nur Wahrnehmbares als Zeichen zählen, also nicht etwas, was im Film trotz unserer vorurteilshaften Erwartungen fehlt. Mit diesem Schritt wird ausgeschlossen, dass die Nichterfüllung eines Gebotes (Abwesenheit von Erwartetem) als Zeichen zählt.
Zum Zweiten gilt als »jüdisches« (oder mexikanisches usw. usf.) Zeichen nur etwas Wahrnehmbares, das den Juden zudem eigentümlich ist, das also im jeweiligen kulturellen Raume gerade Juden zugeschrieben wird. So bei Geboten: Das Tragen eines Schtreimls bzw. Spodiks zählt als jüdisches Zeichen, nicht aber das eines Kasketts, obwohl beides als Kopfdeckung gilt; und ebenso bei Verboten: Die Weigerung, Schweinefleisch zu sich zu nehmen, zählt als jüdisches Zeichen, nicht aber die, Menschenfleisch zu essen, obwohl das jüdische Recht Juden beides verbietet. Mit diesem Schritt wird ausgeschlossen, dass der Verstoß gegen ein Verbot (Anwesenheit von Unerwartetem) als jüdisches Zeichen zählt, da ein solches Ereignis (Durchführung des Verbotenen) den Juden von seiner Beschaffenheit her nicht eigentümlich ist (z. B.: Feueranzündung am Schabbes ist überall auf der Welt üblich, weshalb sie kein jüdisches Zeichen bildet und keine Bedeutung für uns hat; selbst wenn sie ganz deutlich im Film gezeigt wird, ist sie nichts mehr als etwas, was ganz gewöhnliche, normale Menschen tun).
Wenn eine Figur aber den Anspruch erhebt, in bestimmter Weise jüdisch zu sein, sollen wir, wie oben erläutert, unsere dem jeweiligen Anspruch entsprechenden Erwartungen berücksichtigen. Dann gilt die empirische Regel nicht mehr. In den Fällen des Verstoßes, in denen es nach der empirischen Regel entweder kein Zeichen oder zwar ein Zeichen, aber dennoch kein jüdisches Zeichen gibt, weicht die empirische Regel der Frage, ob das jeweilige Gesetz (oder Verordnung), gegen welches gestoßen wird, auch Nichtjuden gut bekannt ist.
Die Ergebnisse der empirischen Regel sowie ihr Einfluss auf die Stellung des jüdischen Rechts bei der Zeichensuche lassen sich mithilfe der folgenden Tabelle zusammenfassen:
Was geschieht?
Beispiel
(aus dem Rahmen des Judentums)
Wahrnehmbar?
Figur ohne Anspruch
Figur mit Anspruch
Erfüllung eines Gebotes (rechtmäßig)
Die Figur bentscht vor oder nach dem Essen
Ja
Bedeutungstragend, wenn das Gezeigte Juden eigentümlich ist
Bedeutungstragend
Nichterfüllung eines Gebotes
(gesetzwidrig)
Die Figur bentscht nicht
Nein
Keine Bedeutung
(weil unwahrnehmbar)
Insofern bedeutungstragend,
als das unerfüllte Gebot Nichtjuden bekannt ist
Nichtgeschehen von Verbotenem
Kein Schweinefleisch kommt im Text vor
Nein
Keine Bedeutung
(weil unwahrnehmbar)
Keine Bedeutung
(weil unwahrnehmbar)
Vermeidung von Verbotenem
(rechtsmäßig)
Die Figur weigert sich, angebotenes Schweinefleisch zu essen
Ja
Bedeutungstragend, wenn die Weigerung Juden eigentümlich ist
Bedeutungstragend
Nichtvermeidung von Verbotenem (gesetzwidrig)
Rasiert sich
(freiwillig!)
in verbotener Weise
Ja
Keine Bedeutung
(weil kein jüdisches Zeichen)
Insofern bedeutungstragend,
als das Verbot Nichtjuden bekannt ist
Es soll hierbei bemerkt werden, dass mit dem Begriff »Gebot« auch tief verwurzelte Bräuche (wie die Kopfdeckung) gemeint sind, wenn sie auch keine aus der Schrift stammenden Gesetze oder von den Rabbinern ausgehenden Verordnungen sind; dasselbe gilt für den Begriff »Verbot« (etwa mit Bezug auf anständige Kleidung bei Frauen).
Wie immer, fungiert auch hier das Judentum nur als Extremfall, sodass die vorstehende Tabelle auch zur Behandlung der Abwesenheit von Erwartetem und der Anwesenheit von Unerwartetem bei anderen (selbstverständlich einfacheren) Identitätsgefügen passt. Verallgemeinert sieht die Tabelle folgendermaßen aus:
Was geschieht?
Wahrnehmbar?
Die Figur gibt keine bestimmte Gruppenidentität vor
Die Figur gibt eine bestimmte Gruppenidentität vor
Anwesenheit von Erwartetem
Ja
Bedeutungstragend, wenn das Gezeigte der jeweiligen Gruppe eigentümlich ist
Bedeutungstragend
Abwesenheit von Erwartetem
Nein
Keine Bedeutung
(weil unwahrnehmbar)
Insofern bedeutungstragend,
als das Publikum das Ungeschehene auch erwartet
Abwesenheit
von Unerwartetem
Nein
Keine Bedeutung
(weil unwahrnehmbar)
Keine Bedeutung
(weil unwahrnehmbar)
Ablehnung
von Unerwartetem
Ja
Bedeutungstragend, wenn die Ablehnung der jeweiligen
Gruppe eigentümlich ist
Bedeutungstragend
Anwesenheit
von Unerwartetem
Ja
Keine Bedeutung
(weil kein Zeichen der jeweiligen Gruppe)
Insofern bedeutungstragend,
als das Publikum vom Geschehenen auch überrascht ist
Wenn sich also in Jakob dem Lügner manche Ghettobewohner den Herrenfriseur Kowalski rasieren lassen, sagt es nichts über ihre jüdische Identität, weil dies kein jüdisches Zeichen ist, das zur Bildung einer jüdischen Identität beitragen könnte, sondern etwas durchaus Gewöhnliches, das allerlei Menschen überall im besagten kulturellen Raume tun. Da wir ja keine unterschiedliche – ob jüdische oder andere – Identität voraussetzen, kann das Rasieren wirklich nichts an unserem Verständnis ändern: Wir haben mit gewöhnlichen Menschen angefangen und bleiben immer noch mit nichts anderem als gewöhnlichen Menschen, die sich (Gott behüte?) rasieren lassen.
V.e. Schlussbemerkung zur obigen Forschungsmethode
Die hier ausführlich erläuterte Forschungsmethode scheint viel mehr zu bedecken, als zur Beantwortung unserer Leitfrage an sich benötigt wird. In der Tat sind aber alle Kleinigkeiten aus dem Umgang mit den Filmen entstanden, ob als Mittel zur sinnvollen Analyse oder als Antworten auf von anderen erhobene Einwände. Die Methodologie behandelt also genauso viele Fragen, wie bei der Arbeit aufgetaucht sind. Zu ihrer Komplexität (nicht Kompliziertheit!) tragen nicht zuletzt die Breite und Tiefe der möglichen jüdischen Identitäten bei, womit der ursprüngliche Zweck, eine durchgängige Methode zur Analyse von Gruppenzugehörigkeitsdarstellungen verschiedenster Art zu entwickeln, erzielt worden zu sein scheint. Dem Leser liegt also eine Art Deutungsmaschine mit aller erforderlichen Gebrauchsanleitung vor, sodass mir keiner zu glauben braucht und jeder die Maschine selbst zu erproben bzw. zu gebrauchen vermag. Daher wird hier auf die einzelnen Funde verzichtet, deren Anführung nichts mehr als einen ziemlich trockenen und gewissermaßen langweiligen »Katalog« bilden würde; das sind nämlich die Zeichenlisten, die ich mit Stift und Papier erstellt habe (rund um die 40 Seiten) und von welchen die in dieser Arbeit vorgebrachten Ergebnisse stammen. Um aber dem Leser den Inhalt der Filme näher zu bringen, damit er die Resultate dieser Forschung besser verstehen kann, habe ich dieser Arbeit auch die unmittelbar nachfolgenden inhaltlichen Beobachtungen hinzugefügt, die viel Licht auf das Bild des Juden im ostdeutschen Spielfilm werfen und uns zudem auch zur Beantwortung der zwei weiteren Fragen verhelfen können.
[260] Siehe dazu in Kap. I.b.2, ›Was heißt hier »Identität«?‹, auf S. 7 ff.
[261] Die Grundsätze, auf denen die nachfolgenden Regeln fußen und welche allerdings im akademischen Bereich allgemein verbreitet sein sollten, wohnen dem oben geschilderten »inhaltsanalytischen« Fach inne, wie es Ole R. Holsti 1969 zusammengefasst hat (Hervorhebungen im Original): »Despite their diversity, definitions of content analysis reveal broad agreement on the requirements of objectivity, system and generality.« Und wie bereits oben gesagt (meine Hervorhebung): »The requirements of objectivity, system and generality are not unique to content analysis, being necessary conditions for all scientific inquiry.« Bedauerlicherweise gelten diese Voraussetzungen aber auch im 21. Jahrhundert, zumindest im geisteswissenschaftlichen Bereich, noch immer als erstrebenswert. Siehe Ole R. Holsti, Content Analysis for the Social Sciences and Humanities (Reading, Massachusetts: Addison-Wesley, 1969), p. 3 resp. 5
[262] Eine Erläuterung der Notwendigkeit, sich als Wissenschaftler zum Empirismus zu verpflichten, ist in Kap. IV.b, »Einschlägige Literatur zur Forschungsmethode«, auf S. 53 ff. zu finden.
[263] Holsti, ibid., p. 3-4 (emphasis in the original): »Objectivity stipulates that each step in the research process must be carried out on the basis of explicitly formulated rules and procedures. […] What categories are to be used? How is category A to be distinguished from category B? What criteria are to be used to decide that a content unit […] should be placed in one category rather than another? […] Objectivity implies that these and other decisions are guided by an explicit set of rules that minimize – although probably never quite eliminate – the possibility that the findings reflect the analyst’s subjective predispositions rather than the content of the documents under analysis.«
[264] Holsti, ibid., p. 4 (emphasis in the original): »Systematic means that the inclusion and exclusion of content or categories is done according to consistently applied rules. This requirement clearly eliminates analyses in which only materials supporting the investigator’s hypotheses are admitted as evidence. It also implies that categories are defined in a manner which permits them to be used according to consistently applied rules.«
[265] Holsti, ibid., p. 5 (emphasis in the original): »Generality […] requires that the findings must have theoretical relevance. Purely descriptive information about content […] is of little value.«
[266] Das heißt, dass die im Nachstehenden dargelegte Forschungsmethode so anpassungsfähig und dennoch änderungsbeständig sein muss, dass sie auch dann sinnvolle Resultate ergibt, nachdem das oben erklärte thematische Dreieck anders konstruiert und der jeweilige Gehalt der drei Eckpunkte durch etwas anderes ersetzt worden ist, zum Beispiel mit »muslimischen Palästinensern« statt »Juden«, »Schulbüchern« statt »Filmkunst« und dem »Staate Israels« statt der »DDR«, was eine Frage nach dem »Bild des muslimischen Palästinensers in den Schulbüchern des Staates Israels« erbrächte. Die Komplexität und Mannigfaltigkeit der verschiedenen kulturellen Inhalte, aus denen sich eine »jüdische« Identität bilden lässt, machen die Frage nach der ethnischen Repräsentation dieser bestimmten Menschengruppe zu einer Art Extremfall, der zur Rolle des Testfalls am besten passt. Das möchte sagen, dass eine Methodologie, die eine Analyse der m. M. n. komplexesten, vielleicht ja auch kompliziertesten Identität auf der Welt ermöglicht, ohne weiteres in der Lage ist, erfolgreich auch zur genauen Analyse einfacherer Identitätsgefüge zu dienen. Bezüglich der Frage nach der (ggf. vermeintlichen) Gruppenidentität der Juden, also ob sie eine Nation, ein Volk (namens Israel), eine Religion oder etwas anderes bilden bzw. zu sein glauben, so haben wir sie schon insofern beantwortet, als dies in den Rahmen unserer Fragestellung gehört, und zwar in Kap. I.b.4, »Zur angemessenen Definition des Judenbegriffs«, auf S. 13 ff.
[267] Siehe etwa Frank Sterns Aufsatz, auf welchen oben, in Kap. IV.a, »Einschlägige Literatur zum Thema«, auf S. 51 ff., bezogen worden ist.
[268] Wie aber späterhin aus unserer Analyse hervorgeht, wird in den Filmen nicht behauptet, dass das Opfersein die Juden innerlich, d.h. als solche kennzeichnet; siehe dazu in den Resultaten, in Kap. VII.a, »Die implizit in den Filmen gezeigte jüdische Identität«, auf S. 102 ff.
[269] Siehe auch in Kap. III.d, »Die Notwendigkeit jüdischer Gegenwart«, auf S. 46
[270] Siehe oben in Kap. III.e, »Hinter und vor den Kulissen«, auf S. 47 ff.
[271] In der Tat: Stefan Jerzy Zweig.
[272] Der hier einschlägige Inhalt des Zettels, der also sowohl angezeigt (wenn auch nur für einen Augenblick) als auch vorgelesen wird, lautet folgendermaßen: »[…] Sie haben ein Judenkind versteckt im Kleiderraum hinten links in der Ecke.«
[273] Am Anfang (an der Eingangstür des Polizeireviers): »Für Juden Eintritt streng verboten«; am Ende (am geschlossenen Bahnhofstor; das Schild wird keinmal vollständig angezeigt): »Bekanntmachung. Heute Mittag um 15 Uhr [sind] alle Juden auf dem Platz [vor] dem Revier anzufinden. 5 KG Gepäck.«
[274] Zur Unterscheidung zwischen einem Selbstbekenntnis und einer Äußerung über eine andere jüdische Figur siehe im Nachstehenden, in Kap. V.b.1.ii, »Bekenntnisse jüdischer Figuren zum Judentum«, auf S. 61 f.
[275] Was die Zuschauerschaft angeht, d.h. ob das auch außerhalb der filmischen Traumwelt angenommen wird, so braucht es eine andere Fragestellung, die durch eine ebenfalls andere, dafür geeignete Forschungsmethode begleitet werden sollte. Siehe dazu in Kap. VIII, »Vorschläge für künftige Forschungen«, auf S. 114 ff.
[276] Anscheinend sollte hier von den etwas zurückhaltenderen Begriffen »positiv« bzw. »negativ« Gebrauch gemacht werden, auf welche aber verzichtet wird, denn m. E. sollen die positiven und negativen Figuren in den Filmen tatsächlich als gut bzw. böse erscheinen. Außerdem werden die Zurückhaltung sowie die Begriffe »positiv« und »negativ« selbst für Einsatz bei der späterhin dargelegten Zeichenkategorisierung aufbewahrt (siehe in Kap. V.b.2.i, »Die drei Grundkategorien unausdrücklicher Hinweise«, auf S. 63 ff.).
[277] Mehr dazu in Kap. VI.a, ›Der »jüdische« Jude‹, auf S. 83 ff.
[278] Da dieser Begriff hier erstmals in dieser Arbeit gebraucht wird, möchte ich ihn in Kürze erklären: Durch den »jüdischen«, d.h. orthodox-religiösen Juden wird der säkulare Jude, der sein Jüdischsein durch (fast) nichts bekundet, als »unjüdisch« dargestellt. Das heißt jedoch nicht, dass er zu einem Nichtjuden gemacht wird, da er in der Regel auch keine ausgerechnet »nichtjüdischen« Zeichen zeigt, d.h. keine ausgesprochen nichtjüdische Identität zum Ausdruck bringt. Siehe Weiteres dazu in Kap. VI.a, ›Der »jüdische« Jude‹, auf S. 83 ff.
[279] Wie schon vorher in Kap. III.d, »Die Notwendigkeit jüdischer Gegenwart« (auf S. 46 ff.), gesagt, würde es gar keinen Sinn ergeben, einen Nichtjuden als einen nicht jüdischen, d.h. gewöhnlichen Menschen zu zeigen. Es ist vor allem das Jüdischsein des gewöhnlichen, weil sonst unjüdischen Protagonisten, welches die Zuschauerschaft bemerken muss, damit das eigentliche Unjüdischsein desselbigen überhaupt als solches verstanden wird.
[280] Denn sein Jüdischsein muss doch irgendwie – in der Regel allerdings mithilfe negativer Zeichen – zum Ausdruck kommen (siehe vorige Fußnote).
[281] Dazu siehe unten in Kap. V.b.2.iv, »Sinnbildliche gegenüber tätigen Anzeichen«, auf S. 67 ff.
[282] Weiteres dazu in Kap. VI.c, »Das Jiddische als sprachliches Sinnbild«, auf S. 88 ff.
[283] Deren gibt es allerdings recht wenige.
[284] Mehr zur Frage des Stereotyps in Kap. V.d.1, »Stereotype als Zeichen«, auf S. 73 ff.
[285] In nackt unter Wölfen (1962) sagt ein SS-Mann: »Judensau, Verfluchter! Hast du deine gold’nen Diamanten drin?«
[286] In lebender Ware (1966) sagt die Figur des Kurt Andreas Becher, der 1944 Obersturmbannführer der SS und Chef des SS-Ausräumkommandos in Budapest war, dem Juden Dr. Chorin: »[…] aber wenn wir von euch was wollen, dann werden die Itzigs moralisch…«
[287] Ob vom jüdischen oder nichtjüdischen Gesichtspunkt aus, und hier besprechen wir ja eine nichtjüdische jüdische Identität: Nichtjüdisch, weil sie in ostdeutschen Augen, also bei nichtjüdischen Subjekten besteht, und jüdisch, weil sie sich auf jüdische Objekte bezieht. Die jüdische Identität eines Chosids wäre also in dieser Betrachtungsweise eine Art jüdische jüdische Identität, und die eines Assimilationisten wäre eine Art jüdische nichtjüdische bzw. antijüdische Identität.
[288] Weiteres zu diesem sowohl theoretischen als auch praktischen Problem in Kap. V.d.3, »Abwesenheit von Erwartetem und Anwesenheit von Unerwartetem«, auf S. 78 ff.
[289] Anders erläutert: Weil es keine ausdrücklichen Hinweise durch gute Figuren auf andere als Juden in den Filmen gibt, werden keine kulturelle, identitätsstiftende Inhalte wörtlich vorgestellt, deren Zuordnung zum Judentum durch den »guten« Stellenrang des Hinweisenden bestätigt werden könnte.
[290] Siehe in Kap. VI.d, »Die Menorah und die Chanukijah als jüdische Symbole«, auf S. 90 ff.
[291] Zwar bietet sich »getan« gleich an, aber den Begriff des Tuns müssen wir in einer viel wörtlicheren Bedeutung gebrauchen (siehe im Nachstehenden, in Kap. V.b.2.iv, »Sinnbildliche gegenüber tätigen Anzeichen jüdischer Gegenwart«, auf S. 67 f.).
[292] Weiteres dazu in Kap. VI.b, »Behandlung der weltanschaulichen Alternativen zur Religion«, auf S. 85.
[293] Assimilation als solche, die in den Filmen ja propagiert wird, ist selbstverständlich keine alternative jüdische Lebensweise und kommt gerade im Fehlen jüdischer Zeichen zum Ausdruck. Weiteres zum Thema siehe in Kap. VI.b, »Behandlung der weltanschaulichen Alternativen zur Religion«, auf S. 85 ff.
[294] Wenigstens im oben erläuterten Sinne (siehe in Kap. I.b.4, »Zur angemessenen Definition des Judenbegriffs«, auf S. 13 ff.)
[295] Siehe dazu in Kap. V.b.4, »Die Auswertung der Anzeichen«, auf S. 71 f.
[296] In einer Arbeit, die ich Herrn Prof. Dr. Moshe Zimmermann eingereicht habe, habe ich das Problem der mehrschichtigen deutschen Identitätsdarstellung anhand des amerikanischen Komödienfilms Top Secret! (Jim Abrahams, David Zucker, Jerry Zucker, 1984) ansatzweise zu untersuchen angefangen.
[297] Viele dieser Zeichen werden von einem Film auf den anderen übertragen, beziehen sich aufeinander und setzen sich vermeintlich von selbst durch, sodass sie im jeweiligen Ausland immer wieder zur Darstellung von Deutschen eingesetzt werden, bis die Vorstellungen schon sehr wirklichkeitsfremd werden. Aber das ist eine andere Frage, auf welche wir hier nicht eingehen können.
[298] Ausnahmsweise wird in Jakob dem Lügner die Benennung eines Neugeborenen im Łódźer bzw. »Litzmannstädter« Ghetto besprochen: Die den Zuschauern unbekannte Mutter soll dem Kinde, wie Rosa erzählt, den Namen »Abraham« geben wollen, woraufhin Frau Frankfurter, Rosas Mutter, die Bemerkung macht, dass sie den Namen »Dovid« schöner findet, wonach sie sich an einen gewissen »Dovidl« erinnert.
[299] Zur identischen, sinnbildlichen Rolle der beiden Kultgegenstände siehe in Kap. VI.d, »Die Menorah und die Chanukijah als jüdische Symbole«, auf S. 90 ff.
[300] Wichtig wäre hier zu bemerken, dass das Judentum, welches als eine zerstreute Gruppe nur dank seiner religiösen Kultur durch die Zeitenwenden hindurch noch als eine Gruppe fortbesteht, keine säkulare Tradition hat; so gut wie alle Ausdrücke des jüdischen Volkstums – ins besondere beim (ehemaligen) europäischen Judentum – sind nämlich eng mit ihrer jeweiligen religiösen Bedeutung bzw. Begründung verknüpft. Des Weiteren sollen wir bedenken, dass nicht nur die Religion, sondern auch der Jude als solcher im Sozialismus überflüssig sein sollte und dass Lenin bspw. selbst den Verzicht auf den »Jargon« verlangte (siehe dazu in Kap. II.a.4, »Die ideologische Stellung des Juden als Musterbeispiel«, auf S. 21 ff.).
[301] Ehe man schnell einwendet, dass es doch »לראותם בלבד« vorgeschrieben ist, erinnere ich daran, dass dies für die Kerzen gilt; und Kerzen als solche können gar nicht für »jüdische« Zeichen gehalten werden, denn nicht an ihnen, sondern an der Chanukijah an sich, selbst ohne die Kerzen, wird erkannt, dass es nun um Juden geht.
[302] Sie werden nur zweimal im Film angezeigt, nämlich wenn er sich mit seinem Bruder Roman Schtamm zuhause befindet (also außer der Sichtweite der Nazis) und wenn Roman den Hut von Herschels Kopf entfernt, nachdem der Letztere von den Nazis erschossen worden ist.
[303] Die Menorah wird nicht nur in verschiedenen Stellen während des Films, sondern auch doppelt, mithilfe ihres Schattens an der Wand gezeigt.
[304] Siehe neben Fußnotenzeichen Nr. 292 (auf S. 64) sowie in Kap. VI.b, »Behandlung der weltanschaulichen Alternativen zur Religion«, auf S. 85 ff.
[305] Im Fall einer nichtjüdischen Großmutter mütterlicherseits.
[306] Siehe dazu in Kap. I.b.2, ›Was heißt hier »Identität«?‹, auf S. 7 ff.
[307] Siehe in Kap. I.b.4, »Zur angemessenen Definition des Judenbegriffs«, auf S. 13 ff.
[308] Diesmal, d.h. in unserem derzeitigen Beispielsfall, beim nichtjüdischen ostdeutschen Publikum; aber wie gesagt, zielt unsere Forschungsmethode auf allgemeine Gültigkeit ab.
[309] Siehe dazu in Kap. I.b.2, ›Was heißt hier »Identität«?‹, auf S. 7 ff.
[310] Vom üblichen Begriff »Kulturraum« sollen wir hier vorzugsweise keinen Gebrauch machen, weil er vornehmlich nur im geographischen Sinne Anwendung findet.
[311] Was die »ostdeutsche« Identität angeht, ist sie eine Art regionaler Identität innerhalb des gesamtdeutschen Zusammenhanges (aber dieses Thema lässt sich nicht im Rahmen unserer derzeitigen Fragestellung erörtern).
[312] Ein gutes Beispiel dafür bietet uns das vermeintlich sehnliche Verlangen nach Knoblauch, der unter osteuropäischen Juden ja sehr beliebt war, wenn er auch nicht so eifrig verzehrt wurde, wie das Stereotyp (auf welches wir im Nachstehenden eingehen) suggerieren möchte.
[313] Eifrige Liebhaber, Geizige, Wucherer usw. usf. gibt es in der Regel in allen Menschengruppen, wenn sie nur groß und mannigfaltig genug sind.
[314] Die Kaschres- oder Schabbes-Regeln im Judentum oder die Augenform der Chinesen bzw. Ostasiaten können daher unmöglich als Stereotype gelten. Die krumme Nase hingegen doch.
[315] Siehe am Anfang von Kap. V.b, »Die Zeichensuche«, auf S. 58
[316] S. Anm. 286.
[317] Siehe in Kap. V.b.1.iii, »Das Gewicht des Zusammenhanges ausdrücklicher Hinweise«, auf S. 61 ff.
[318] »Kowalski« ist übrigens nicht unbedingt ein jüdischer Name, wie aus dem amerikanischen Spielfilm The Big Lift (George Seaton, 1950) zu ersehen ist, wo Paul Douglas die Figur des Hank Kowalski, eines amerikanischen Soldaten polnischer Herkunft ohne jedwede Zugehörigkeit zu Israel, darstellt.
[319] Siehe in Kap. I.a.5, »Die Hypothese«, auf S. 5 f.
[320] Das zeugt aber noch nicht davon, dass deutsche bzw. mitteleuropäische Stereotype zum Juden unter der Bevölkerung der DDR nicht fortbestanden; dass solche Stereotype gerade den bösen Figuren des ostdeutschen Spielfilms zugeschrieben sind, kann womöglich genau das Gegenteil bezeugen, nämlich dass das SED-Regime beabsichtigte, solche Meinungen auf diese Weise zu bekämpfen.
[321] Siehe in Kap. VI.a, ›Der »jüdische« Jude‹, S. 83 ff.
[322] Im Jiddischen hat »Kugel« maskulines Genus. Die deutsche Kugel heißt auf Jiddisch »(der) Ballem« oder »(die) Keul« (kommt auf die jeweilige Bedeutung an).
[323] Nachdem wir den kulturellen Raum gesellschaftlich als »nichtjüdische Europäer« bestimmt haben, taucht hier die Frage auf, wie überhaupt von ihnen erwarten werden könnte, dass sie sich mit den Einzelheiten des jüdischen Rechtes auskennen. Die Antwort lautet natürlich, dass so etwas gar nicht zu erwarten ist, worauf ich mich im Nachstehenden beziehe.
[324] Weiteres zu dieser Entspannungstechnik in Kap. VI.a, ›Der »jüdische« Jude‹, auf S. 83 ff.
[325] Siehe in Kap. V.c, »Der kulturelle Raum«, auf S. 72 f.