Juden in Deutschland: Zwischen Hammer und Amboss

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Vor kurzem kam Noah Klieger nach Berlin: ein 84-jähriger, im Herzen sehr junger, witziger und eloquenter Mann mit einer tätowierten Häftlingsnummer am linken Arm, der über seine Erfahrungen im deutschbesetzten (eine Schreibweise, die mir plötzlich gut gefällt) Europa, insbesondere in Auschwitz, erzählt hat.

Es war ein kleiner, ja intimer Raum in der Steglitzer Stadtbibliothek, oberhalb des Einkaufszentrums »Das Schloss« (besser als unterhalb). Gut beheizt, gemütlich beleuchtet und mit einem einzigen Glas Wasser auf dem Tisch, das Klieger nicht ein einziges Mal berührte.

Klieger stand lieber vor dem Tisch, vom Publikum untrennbar, und sprach zwei Stunden lang über die bekannten Tatsachen, aber so, wie ich – und wohl auch jeder andere im Raum – es noch nie erlebt habe: keineswegs pathetisch, sondern mit einem Lächeln, das den Schrecken präzis andeutete und dabei beließ.

Wir lauschten fasziniert. Oder besser gesagt: Ich hatte das Gefühl, es wäre allen anderen auch so gegangen. Denn sobald Klieger fertig war, stand ein Mann auf, der sich zunächst wissbegierig präsentierte, dann aber schnell von Kliegers »Behauptungen« sprach und wissen wollte, ob Klieger jemals selber die Gaskammern sah – schließlich lebt Klieger ja noch…

In der intimen Atmosphäre dauerte es ein wenig, bis man kapierte, worauf der vermeintlich Wissbegierige eigentlich hinauswollte. Als dieser den Aufforderungen, den Raum zu verlassen, nicht folgte, wurde er hinausgezwungen. Es herrschte Aufregung.

Als wieder Ruhe einkehrte, ergriff ein anderer Mann das Wort, das, obwohl noch kaum jemand wieder zuhören konnte, von seinem Schock über das eben Geschehene berichtete und meinte, den Anwesenden liege es ob, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert; »nie wieder«, sagte er immer wieder, unaufhörlich und wie besessen, »nie wieder, nie wieder in Auschwitz und in den Lagern in Palästina!«

Ich war leider der einzige im Raum, der sofort reagierte und beide Herren fotografierte. Ich sage »leider«, denn mein altes Handy hat die schlechteste Kamera, die man sich heutzutage noch vorstellen kann.
 
Alle sprachen noch unter sich über den vorherigen Provokateur, aber Klieger, der auf unzählige Erfahrungen zurückblickt und schon weit Schlimmeres erlebt hat, ließ sich von den beiden Kommentaren nicht verwirren oder aufregen. Eine Provokation reichte schon, also ignorierte er geschickt die zweite und ließ mit dem eigentlichen Publikum endlich ein Gespräch entstehen. Danach signierte er Exemplare seines Buches (s. Abbildung) und ging schließlich mit seiner Enkeltochter essen, ebenfalls einer ehemaligen Studentin Moshe Zimmermanns, die jetzt in Berlin an ihrer Magisterarbeit bastelt und auf deren Hinweis hin ich zu Kliegers Auftritt kam.

Zuhause angekommen, schaute ich mir die Fotos an, auf denen die beiden Herren ganz normal gekleidet sind. Keine Neonazi- oder Antifa-Kennzeichen, sondern so bieder und spießig wie es nur irgend geht. Erwachsene Männer, die in ihrem Alltag wohl einfach ihren bürgerlichen Berufen nachgehen, ohne dass je einer merkt, mit wem man da eigentlich zu tun hat. Das kann wirklich jeder sein (das ist natürlich meine persönliche, aber vielleicht doch plausible Schlussfolgerung).

Das ist er also, der Antisemitismus in der Mitte, der wohl in allen Gesellschaftskreisen, allen Parteien und allen Stadtteilen vorhanden ist, meistens schweigsam und unheimlich allgegenwärtig.

Gemeinsames Foto: die Enkeltochter

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

4 Kommentare

  1. Aller guten Beispiele sind drei

    Sind Holocaustleugner, Holocaustrelativierer und Kritiker Israels (siehe http://www.20min.ch/…iker-drohen-Israel-30646360 ) alle gleichermassen Antisemiten?

    Holocaust-Leugner
    Wer in der Begegnung mit einem Holocaustopfer dessen Integrität in Frage stellt muss schon ein Fantiker sein, das geht weit über den Antisemitismus in der Mitte hinaus. Ein Holocaustleugner ist nämlich nicht nur ein Antisemit, er ist auch jemand, der einer Verschwörungstheorie anhängt – ähnlich wie jemand, der die Mondlandung als TV-Inszenierung “entlarvt”. Holocaustleugner sehen den Holocaust nämlich meist als Konstrukt und Erfindung der Juden. Verschwörungstheorien gehen immer von einem Komplott mächtiger Sonderinteressen, einer geheimen Agenda dieser dunklen Mächte und der Täuschungsabsicht des Publikums aus. Es gibt viele äusserst bösartige antisemitische Verschwörungstheorien, die den Holocaust eigentlich vorbereitet haben. Holocaustleugner bereiten den nächsten Holocaust vor.

    Holocaust-Relativierer
    Wer den Holocaust auf die gleiche Stufe setzt wie die Behandlung der Palästinenser durch die Israeli ist gewiss auch ein Antisemit und geht in seinem Antisemtismus über den Antisemitismus in der Mitte, der wohl in allen Gesellschaftskreisen, allen Parteien und allen Stadtteilen vorhanden ist weit hinaus.
    Holocaustrelativierer wollen dem Holocaust das Singuläre nehmen und den heutigen Israelis/Juden die Rolle der einstigen Nazis zuschieben. Auch Holocaust-Relativierer bereiten den nächsten Holocaust vor.

    Israelkritik und Antisemitismus
    Hinter Israelkritik verbirgt sich häufig Antisemitismus. Gilt das auch für den unter dem Wort allgegenwärtig verlinkten Zeitungsartikel Ex-Politiker drohen Israel (siehe http://www.20min.ch/…iker-drohen-Israel-30646360 ), in dem darüber berichtet wird, dass 26 ehemalige europäische Staatsoberhäupter die EU in einem Brief dazu aufrufen wegen dem fortdauernden israelischen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten gegen Israel auf mehreren Ebenen vorzugehen. Hier stellen sich mir gleich mehrere Fragen:
    – Ist es bereits antisemitisch wenn jemand Israel droht oder verbrigt sich hinter der Drohung vertsteckter Antisemitismus?
    – Sind die 26 Politiker, die, wie im Artikel steht Israel bestrafen wollen von anitsemitischen Gedanken geleitet?
    – Lässt der Journalist Kian Ramezani Antisemitismus durchblicken?

    Ich konnte in diesem Zeitungsartikel keinen Antisemitismus entdecken, jedoch den Versuch von Ex-Politikern Israel als Land zu isolieren und ihnen eine Zweistaatenlösung von aussen auzuzwingen.
    Warum Ex-Politiker? Stehen sie für die Volksmeinung, die nicht Politiker, sondern nur Ex-Politiker vertreten können?

  2. Selbstverständlich sind unter anderem:
    1. der Versuch, mit dem jüdischen Volk nicht auf Augenhöhe zu sprechen;
    2. der Wunsch, die Juden zu irgendeiner 22-Staaten-Endlösung zu überreden, von der auch jeder Anfänger weiß, dass sie die »Oslo«-Katastrophe wie ein Kinderspiel erscheinen ließe;
    3. die Erwartung, dass die Lösung des palästinensischen Problems ausschließlich auf Kosten der jüdischen Seite zu erfolgen hätte;
    4. die Unterstellung, am Scheitern der Verhandlungen wäre immer wieder, einzig und allein der jüdische Staat schuld, sodass die nichtjüdische Seite nie mit irgendwelchen Drohungen rechnen muss
    …und anderes mehr Anzeichen von antisemitischer Denkweise.

    Wie wäre es, wenn das nichtjüdische Europa den Muslimen mal sagen würde: Akzeptiert doch endlich mal, dass Jerusalem die jüdische Hauptstadt ist! Zeigt euch ausnahmsweise zu Kompromissen bereit – oder wir werden euren Luxus (und Bomben) nicht mehr mit unsrem Steuergeld finanzieren!

    Naja, schön geträumt, aber eigentlich auch nicht so wichtig. Denn der Punkt ist, dass die Grenzen zwischen den antisemitischen Einstellungen völlig durchlässig sind und unser Versuch, das Phänomen in verschiedene Kategorien aufzuteilen, die sich vermeintlich ganz klar von einander unterscheiden würden, ist zum Scheitern verurteilt:

    Derjenige, der nach den Gaskammern fragte, hätte, wenn er noch da gewesen wäre, mit großer Wahrscheinlichkeit auch den anderen unterstützt, der von den »Lagern in Palästina« sprach, und dieser wiederum unterstützt wohl jeden Versuch, den Juden zu diktieren, was sie denn für gut und richtig zu befinden hätten – durch Ex-Politiker, die nicht zur Wahl stehen und sich (vermeintlich) auch nicht mehr zu schämen brauchen.

    Die einzigen, die wirklich wissen, was für die Juden gut ist, sind die Juden selbst, die ihre Meinung allesamt relativ gut durch die Wahlurne zum Ausdruck bringen können. Nicht umsonst steht ja jeder Jude auf der Welt per Gesetz das Recht zu, im jüdischen Staat jederzeit und unverzüglich die vollen Bürgerrechte zu erhalten. Antisemitismus fängt dort an, wo man die jüdische Demokratie ablehnt und sagt: Aber ich weiß es besser!

    Dann ist man auch schon sehr schnell beim »…und wenn der jüdische Staat wagt, meiner Meinung zu widersprechen, dann muss er halt bestraft werden.« Holocaust-Leugnun und -Relativierung sind nur weniger gut verschleierte Ausbrüche solcher antijüdischen Ressentiments.

  3. üble Sache

    Es gibt eine Menge Verückte in der Stadt. Man könnte wirklich nur kopfschüttelnd vorbeigehen. Aber ich habe so ein unbestimmtes Gefühl, dass – wenn wir die Juden fallen lassen und Israel preisgeben – wir die nächsten sein werden, die in der Barbarei untergehen, (so wie letztes Mal).

  4. @ Falk

    Dem ist leider so, auch wenn wir es viel lieber anders hätten. Wie ein Freund, ein ehemaliger 68er, mir mal erklärt hat, warum er zu Israel steht: »Wenn Israel fällt, steht nichts mehr zwischen uns und der Barbarei.«

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