Israels Wirrwarr

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Bei der Mitarbeit an einem Aufsatz, der bald in englischer Sprache erscheint, ist mir die Frage gestellt worden: Warum meint ein Israeli in Berlin (gemeint ist hier nicht der Schreiber dieser Zeilen), der da kaum etwas mit der jüdischen Gemeinde zu tun hat, nicht nur eine israelische, sondern genauso gut auch eine jüdische Stimme haben zu dürfen?

Wer in der weltweit einzigen Öffentlichkeit jenes Volkes aufwächst, um welches es in der obigen Überschrift geht, wird mit drei Begriffen konfrontiert, die seine Identität beschreiben sollen und dabei miteinander zu konkurrieren scheinen: Er ist dann amtlich betrachtet von seiner Nationalität her “Jude”, der einem Staat “Israels” (so im Hebräischen) angehört und (heutzutage natürlich modernes) “Hebräisch” spricht und schreibt.

Wie kompliziert! Zu gleicher Zeit lebt ein “Pole” ganz einfach in “Polen” und redet sinngemäß “Polnisch” (ich führe hier absichtlich nicht den deutschen Fall als Beispiel an, weil dieser, wie ich in diesem Blog zuweilen zeige, seine eigene Problematik hat). Und als wäre diese begriffliche Pluralität nicht genug, werden nun auch die einzelnen Begriffe unterschiedlich verstanden: Im jüdischen Staat stellt etwa das Judentum eine Nationalität dar, während es im heutigen Deutschland, wie auch vor der NS-Zeit, in rechtlicher Hinsicht als eine der drei staatlich anerkannten Konfessionen aufgefasst wird.

Man mag diese Problematik als das komische Ergebnis von Konstrukten abtun, die nicht der materiellen, sondern der Geisteswelt entspringen. Aber um die Geisteswelt kommt man nicht herum. Ihre Ideen bestimmen unsere Wirklichkeit, halten Gesellschaften zusammen oder lösen sie auf. Die Vorstellungswelt ist im Gegensatz zu dem Bildschirm, durch den meine Vorstellungen euch jetzt vermittelt werden, zwar ungreifbar, aber nicht weniger real und keineswegs weniger wirksam als die materielle (s. hierzu auch den früheren Beitrag zum Nationalen im 21. Jahrhundert, der am Beispiel Deutschlands erklärt worden ist).

Im Folgenden versuche ich also einen Überblick über diese Pluralität zu skizzieren:

I. das Jüdische
1. als Teil Israels (vgl. dt. “judäisch”, eine Missbildung, die man im Hebräisch zwar nachahmen kann, jedoch ohne dass es besser klingen würde)
2. als Rivale Israels (Südreich vs. Nordreich)
3. als Nachfolger und Erbe bzw. Stellvertreter von ganz Israel

II. das Israelische
1. als (nur antikes?) Volk (vgl. dt. “Israeliten” in Anlehnung ans Griechische. Im Hebräischen gibt es diese Nebenform nicht, sondern die “Urisraelis”)
2. als Kultgemeinschaft (vgl. dt. “israelitisch” im Sinne von “mosaisch”, um die im 19. Jh. von deutschen Juden verinnerlichte Ablehnung des “Jüdischen” zu umgehen)
3. als Staat bzw. Staatsnation (hier ist das Subjekt in ein Objekt verwandelt, vgl. “israelische Muslime”; im Hebräischen aber ist nur von der israelischen, keineswegs von “jüdischer” Prophetie die Rede, und es gibt etwa keinen Unterschied zwischen dem israelischen und dem “jüdischen” Glauben. Ob das noch auf uns zukommt?)

III. das Hebräische
1. als (antike) Sprache und Kultur
2. als Literaten- und Rechtssprache im Mittelalter
3. als wiederbelebte Nationalsprache und Basis der Nationalkultur, in die sich auch Fremdlinge assimilieren können

Wie sollen sich nun diese Begriffe jeweils zueinander verhalten? Es ist klar, dass ein Mensch, der etwa in Siebenbürgen mit modern-ungarischer Muttersprache aufwächst, von seinem Bekenntnis her (in den meisten Fällen) Ungar ist, obwohl er Staatsbürger Rumäniens ist. Aber ist denn jeder, der mit Neuhebräisch als Muttersprache aufwächst, gleich “Hebräer” – etwa im Sinne der “Neuen Hebräer”? Oder bedarf es auch des bewussten Willens, Hebräer zu sein, etwa indem man die Tatsache, dass es im heutigen Israel eine hebräische Kultur gibt, bei seiner eigenen Identitätsstiftung eine zentrale Rolle spielen lässt? Und hört er in dem Fall auf, Jude zu sein? Oder birgt sein neu-hebräischer Entwicklungsstand schon die frühere Schicht der jüdischen Kultur in sich? Und muss man das Land nun sinngemäß in “Hebräern” (wie “Ungarn” oder “Polen”) oder “Hebräischland” (à la “Deutschland”) umbenennen?

Was meine subjektive Sicht der Dinge angeht, so möchte ich nicht zwischen den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten entscheiden müssen. Sinnvoller erscheint mir ein (etwas hegelianisches) Aufbaumodell. Mit anderen Worten: Man braucht m. E. die unterschiedlichen Aspekte nicht als konkurrierende, sondern kann sie auch als aufeinander aufbauende Schichten in Israels Geschichte ansehen. Will sagen: Israel ist weder eine Nation allein (mit beliebigen Glaubensbekenntnissen) noch der Kult allein (mit beliebigen Volkszugehörigkeiten), sondern eine Mischung von beidem im Sinne einer Interdependenz bzw. Synergie (man denke etwa an Saadja Gaons Ansatz, obwohl ich sie im Hinblick auf unsere Zeit nicht für angemessen halte).

Allerdings wird der Schwerpunkt von Zeit zu Zeit verlegt: Von einem (bisweilen sehr zersplitterten) Volk, das sich in kultischer Hinsicht von anderen abzugrenzen sucht, ist Israel in der Spätantike eher in eine Religion verwandelt. Zwar spielte im narrativen Gefüge dieser Religion nach wie vor nicht Gott, sondern das Volk, zu dem der vorgestellte Gott eine einzigartige Beziehung führt, die zentrale Rolle, jedoch steht im Mittelpunkt des jüdischen Alltags während des Ausbleibens der eigenen Öffentlichkeit nicht mehr die res publica im wörtlichen Sinne, d.h. das Nationale bzw. Politische, sondern das in kleinen Ortsgemeinschaften verankerte Kultische bzw. Religiöse. Und schließlich erleben wir heutzutage die Wiederentstehung der nationalen Öffentlichkeit und somit die allmähliche Wiederkehr des status naturae.

Das bedeutet: Solange das Nationale im Mittelpunkt stand, wie es heute wieder der Fall ist, war die Frage nach der Kultform zwar sehr wichtig, aber im Vergleich mit dem Nationalen doch eher nebensächlich (man muss auch bedenken, dass das Nationale in der Antike weit “realer” bzw. kräftiger war als das, was wir heute nur noch als Konstrukt empfinden). Es existierten, wie heutzutage auch, verschiedene Kultformen nebeneinander, gestützt auf die nationale Basis. Als der Schwerpunkt später aber auf dem Kultischen lag, waren kultbezogene Fragen von ausschlaggebender Bedeutung. Das führte im Laufe der Zeit zuweilen zu Schismen, die sich erst heutzutage, wo das Nationale erneut seinen Platz im Leben der Nation eingenommen hat, wieder beiseite schieben und als Teil der sonstigen Kultpluralität einverleiben lassen (vgl. die Aufnahme der karäischen Juden). Das nationale Basis ermöglicht aber nicht nur das Nebeneinander jüdischer Kultformen, sondern auch der Verzicht auf den Kult. Daher ist es heute durchaus normal, dass Juden atheistisch oder agnostisch gesinnt sind. Dadurch werden sie im Vergleich mit den unterschiedlich Gläubigen nicht weniger, sondern nur anders jüdisch (und umgekehrt). Wichtig ist jedoch, dass man im Rahmen des jüdischen Diskurses bleibt und keinen fremden Kult treibt, etwa indem er Jesus vergöttlicht und anbetet. Daran lässt sich die Interdependenz erkennen: Zwar bildet heutzutage wieder das Nationale die Basis, aber das Kultische ist nicht irrelevant und wird kritisch, sobald man den innerjüdischen Diskurs verlässt und sich an eindeutig Fremdes hält.

Vor diesem Hintergrund möchte ich das nachstehende Modell der drei Stufen jüdisch-israel(it)isch-hebräischer Existenz skizzieren, das dem historischen Entwicklungsgang gerecht werden soll:

1. das Jüdische:
Genealogie, Potenzial, Voraussetzung auf der Volksebene. Nicht der Weg und schon gar nicht das Ziel. Dafür die Ermöglichung bzw. der Nährboden der darauf aufbauenden Stufen
–    vergangenheitsbezogen
–    Übertritt über die Religion bzw. als Rechtsentscheid

2. das Israelische:
Inanspruchnahme. Herstellung und Bewahrung einer jüdischen Öffentlichkeit
–    in der Gegenwart verankert
–    Übertritt durch Einbürgerung und Assimilation

3. das Hebräische:
Fortentwicklung von Israels Geistesgeschichte, Bildung einer intellektuellen Avantgarde, die ihren Niederschlag in Literatur, Geschichte, Ideologie, Philosophie und Theologie findet
–    zukunftsorientiert
–    Übertritt unmöglich bzw. wird vorausgesetzt

Das Modell wirkt, dünkt mich, strenger als ich es meine. Allerdings ziele ich hiermit schon darauf ab, in Israels begrifflichen Wirrwarr etwas (natürlich nur subjektive) Ordnung einzubringen, was ich nicht zuletzt auch als angehender Rabbiner benötige. Eine wichtige Herausforderung, die dieser Sichtweise entspringt, kann ich euch schon verraten: Als Rabbiner nicht auf der jüdischen Etappe stehen zu bleiben, sondern zu gleicher Zeit und genauso gut auch auf der israelischen und der hebräischen Etappe zu arbeiten und somit einheitlich zu wirken, um – theoretisch betrachtet – von der Volksmasse, gläubigen wie nichtgläubigen, als möglicher Ansprechpartner angesehen zu werden (man denke etwa an “übergreifende” Figuren wie Adam Baruch, der zwar kein Rabbiner war, aber nichtsdestoweniger bzw. gerade deswegen von vielen mit jüdischen Fragen – Fragen auf der jüdischen Stufe – aufgesucht wurde).

 


In eigener Sache: Jewish Heritage Tours of Berlin


 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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