Israel und seine Unabhängigkeit: Um wen geht’s hier eigentlich?

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Demnächst, heuer nämlich am 19. April, findet eine Feier statt, die man im Deutschen oft als den "Unabhängigkeitstag des Staates Israel" bezeichnet. Das will ich mir erst mal vorstellen, doch leicht fällt es mir freilich nicht. Warum?

Die Unabhängigkeit eines Staates: Das setzt einen Staat voraus, der unabhängig ist. Wenn der jüdische Staat 1948 unabhängig worden sei, muss er bis dahin logischerweise noch abhängig gewesen sein. Das würde allerdings bedeuten, dass dieser Staat bereits vor 1948 existiert hätte. Aber wie kann das nur möglich sein, wenn der Staat erst am 5. Ijar 5708, dem 14. Mai 1948, proklamiert wurde?

Die deutsche Wikipedia geht sogar einen Schritt weiter und spricht von einer "israelischen Unabhängigkeitserklärung". Mit anderen Worten: Den Staat gab es zwar nicht, also konnte er zwar entstehen, aber nicht "unabhängig werden"; die Israelis habe es jedoch schon gegeben – und die sollen es anscheinend gewesen sein, die sich durch die Errichtung des Staates für unabhängig erklärt hätten. Allerdings gibt eine "israelische" Staatsbürgerschaft frühestens erst, seitdem es den Staat selbst gibt. Am 14. Mai 1948 wurden folglich noch keine "Israelis" unabhängig, auch die Unabhängigkeitserklärung kann unmöglich von "Israelis" bewirkt worden bzw. eine "israelische" sein.

In der Tat, ein schwieriges Problem… Die Lösung verrät uns etwa ein Blick in die ursprüngliche Präambel des bundesrepublikanischen Grundgesetzes:

Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […] hat das Deutsche Volk […] kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. […]

Wohl gemerkt: Nicht die bundesrepublikanische Staatsbürgerschaft, die es vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (mangels einer Bundesrepublik) noch gar nicht gegeben hatte, sondern das Deutsche Volk war es, das hier – ob zu Recht oder nicht – als Agens figurierte (mehr dazu im Beitrag "Dream Wars").

Zurück zum Fall Israel: Welches Volk war es also, das sich 1948 einen Staat gegeben hat? Das jüdische, natürlich. Den jüdischen Staat gab es 1947 noch nicht, also war der Staat auch nicht "abhängig"; das jüdische Volk gab es hingegen wohl, und dieses Volk war bis dahin über lange, sehr lange Zeit hinweg abhängig, weil nicht souverän. Es ist genau dieses Volk – dies eigentliches Israel, nach dem der jüdische Staat benannt ist -, das am 5. Ijar 5708 im eigenen Lande endlich wieder unabhängig wurde, und zwar durch die Errichtung eines eigenen, jüdischen Staates.

Und weil es damals noch keine "Israelis" gab, fand auch keine "israelische" Unabhängigkeitserklärung statt. So etwas gibt es, kritisch betrachtet, einfach nicht; es ist ein klarer Anachronismus. Der Erklärungstext selbst kennt auch keine "Israelis", das Wort war noch nicht einmal vorhanden. Stattdessen ist im Text durchgehend vom jüdischen Volk die Rede. Wie man’s auch dreht und wendet: Es war und ist die jüdische Unabhängigkeitserklärung, die von keinen Nichtjuden getragen wurde und bis zum heutigen Tage kaum von nichtjüdischen Israelis, dafür aber von Juden sowohl in- als auch außerhalb des jüdischen Landes gefeiert wird (der 5. Ijar ist übrigens auch vom Oberrabbinat zu einem jüdisch-halachischen Feiertag erklärt worden).

Schön wär’s also, wenn man auch hierzulande eines Tages über peinliche Formulierungen à la "Unabhängigkeitstag des Staates Israel" hinauswachsen und ganz redlich von der Unabhängigkeit Israels selbst, des jüdisches Volkes, sprechen würde.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

6 Kommentare

  1. Stimme Dir voll zu! Man müsste aber vielleicht direkt an die Quelle gehen und einen freundlichen Hinweis an das Israelische Außenministerium schicken, bezüglich: “Israel’s Declaration of Independence: An Assessment after 60 Years of Statehood”, S. 30, (http://www.mfa.gov.il/…211B2B1/0/ch1.pdf#page=16). Ich nehme aber mal an, dass diese ungenaue Variante einfach gewählt wird, weil es kürzer ist und weniger “of”-s hat als “The Declaration of the Establishment of the State of Israel” (oder “Die Erklärung der Gründung des Staates Israel”). Beste Grüße, Alexandru Zegrea

  2. @ Alexandru

    Vermutlich wurde der ganze Text aus dem Hebräischen übersetzt. Da ist allerdings der Name “Israel” nicht auf den Staat beschränkt, im Gegenteil. An der Hebräischen Uni. gibt es eine ganze Abteilung für – wörtlich übersetzt – “das Gedankengut Israels”, also für jüdische Philosophie. Mit anderen Worten: “The state of Israel” = “der Staat Israels“.

    Ohnehin finde ich die Formulierung “Israel’s Declaration of Independence: An Assessment after 60 Years of Statehood” ziemlich unproblematisch: Durch “Statehood” bzw. Eigenstaatlichkeit kann ja kein Staat charakterisiert werden (das wäre vollkommen überflüssig). Nicht der Staat Israels ist also seit 60 Jahren souverän (ein Staat ist höchstens Ausdruck von Souveränität), sondern Israel selbst, das Volk.

  3. “Unabhängigkeit mal anders” (Versuch einer “Deutung)

    Die oben angeführte Argumentation ist verständlich und nachvollziehbar.

    Aber …

    Vielleicht könnte dieser Begriff ja auch andeuten, dass “die Juden” seit der Gründung des Staates Israel nicht mehr darauf “angewiesen” sind, in anderen Ländern zu leben und sich dessen Gesetzen “unterwerfen” zu müssen. (Von antisemitischen Anfeindungen und Verfolgungen ganz zu schweigen).

    Falls dem so wäre, so würde es sich hier natürlich sehr wahrscheinlich um eine eher unbewusste “Wortwahl” handeln.

  4. @ Yoav

    Wenn aber das Volk und seine Unabhängigkeit in dem Artikel auf der MFA Seite gemeint sein könnten, wieso dann nicht auf der deutschen Wikipedia? Und wurde ÙÕÝ ÔâæÞÐÕê fälschlicherweise als Unabhängigkeitstag übersetzt oder ist das nicht die gängige Bezeichnung des Feiertages auf Ivrit?

  5. @ Alexandru

    Wenn auf der dt. Wikipedia “israelisch” so viel bedeutet wie “israelitisch” – auf Hebräisch besteht diese gekünstelte Differenzierung nicht -, dann ja.

    “Unabhängigkeitstag” ist die richtige Übersetzung, nur der Bezug auf den Staat ist falsch. Der Staat ist der Ausdruck, die Realisierung des Willens zur Unabhängigkeit. Man feiert deswegen, weil man als Jude einen eigenen Staat hat und somit von fremder Macht unabhängig ist. Palästinenser mit israelischem Pass, obwohl ebenfalls Staatsbürger, gedenken alljährlich just am jüdischen Unabhängigkeitstag ihres (ob vermeintlichen oder tatsächlichen) Niederganges.

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