Hommage für Paul Auster (Autobiographie nach Wohn- und Lebensorten)

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Ich lese gerade Paul Austers »Winterjournal«, in dem er auf sein bisheriges Leben zurückschaut. Dabei spricht sich Auster mit “du” selbst an, und zwar aus der Perspektive seines Körpers. Eine seiner Methoden, sich in seinen Körper »hineinzuversetzen«, besteht in einer Rückschau auf seine Wohnorte von der Geburt an. Das hat mich so fasziniert, dass ich nicht umhin konnte, als nur in derselben Nacht so eine kurze “Autobiographie nach Lebensorten” zu schreiben.

 

Richter-Straße, Kiryat Motzkin bei Haifa, Israel

Hier verbringst du deine ersten beiden Lebensjahre bis 1981. Erinnerungen hast du nur vage, du kannst dich noch an Szenen erinnern, z. B. wie du an deinem kleinen Schreibtisch malst während deine Mutter an ihrem großen Schreibtisch arbeitet, oder etwa an (ersten?) Hagel, als dein Vater eine Schüssel auf die Fensterbank hingelegt hat, damit der Hagel sich anhäuft und du das Wunder betasten kannst.

Es ist eine kleine Stadt, ein Gartenstädtchen, nicht mehr als 20.000 Einwohner damals, und es ist flach, ganz flach, weil es im Tal liegt, unterhalb von Haifa und dem Carmel-Berg. Jeder kennt sich, und eines Tages kommen die Nachbarn, sie beschweren sich, weil deine beiden älteren Schwestern ihr Auto bekleckert haben, denn sie mochten die Frikadellen deiner Mutter nicht und haben diese aus dem Fenster geworfen, direkt auf das Auto der Nachbarn.

Du bist also das dritte Kind und darum ist die Wohnung zu klein, sodass deine Eltern beginnen, im selben Städtchen ein neues Haus zu bauen.

 

Kuk-Straße, Kiryat Motzkin

Das neue Haus ist fertig, in deinen Augen ist es eher ein Palast, es hat fünf Schlafzimmer, drei Wohnräume, eine riesengroße Küche und ein Dach, das sich per Knopf öffnet, damit man sich auch drinnen in der Sonne baden könnte. So viel Geld verdienen deine Eltern nicht, ermöglicht wurde das Ganze durch die Wiedergutmachungsgelder, welche vor allem deine Großmutter bezieht, die Mutter deiner Vater, die ebenfalls da wohnt, nur eben unter euch, in einer separaten Wohnung. So gesehen waren die Deutschen und das Deutsche schon immer da, auch als du noch viel zu jung warst, um das wirklich begreifen zu können.

Dies ist das Haus, in dem deine Persönlichkeit Gestalt annimmt, du deinen ersten Hobbys nachgehst, 1990 den Tod deines Vaters erlebst, gleich darauf deine allererste Gasmaske anprobierst und schließlich die Hölle der Pubertät überlebst. Am Ende bleiben nur deine Mutter und du da, nachdem deine Schwestern schon in die große, vielversprechende Stadt, nach Tel-Aviv, gezogen sind, sodass deine Mutter sich, sobald du die Schule abgeschlossen hast, entschließt, das Haus zu verkaufen und nach Haifa zu ziehen.

12 Jahre später wirst du aus dem Ausland kommen, um dieses Haus ein letztes Mal zu besuchen, und dabei feststellen, dass du noch nirgendwo sonst so geborgen gefühlt hast wie in den ersten Jahren

 

Hazaz-Straße, Haifa

Deine Mutter will in ihre Heimatstadt zurück und so findest du dich ganz oben auf dem Berg, in einem Zimmer, aus dem du auf dein altes Zuhause blicken kannst. Zu dieser Zeit bist du noch links eingestellt, wie die ganze Familie, ja, wie praktisch alle um dich herum, und in der erste Wahl, an der du aktiv teilnimmst, gibst du deine Stimme einer Partei, die sogar noch weiter links steht als das, was die meisten in der Umgebung wählen.

Ganz in der Nähe der Universität, immatrikulierst du dich 1999 für Informatik und Jura, so einen Sonderstudiengang, bei dem man beides in sieben Semestern abschließen soll, aber eigentlich war es gar nicht dein Wunsch, sondern der deiner Mutter, die wirtschaftlich denkt und dabei wohl Recht hat.

Dir gefällt es dir aber nicht, im zweiten Semester lässt du es sein, sodass du auch in dieser Wohnung gar nicht so lange bleibst, denn nach ca. einem Jahr mietest du dir eine eigene Wohnung unten im Tal, unweit der Straße, in der du aufgewachsen bist.

 

Irgendwo in Kiryat Haim, bei Haifa

Den Namen der Straße hast du längst vergessen, aber du weißt noch, wie besorgt deine Mutter war, als du ihr die Nachricht gebracht hast, dass du da hinziehst. Eine ganz gute Gegend war es freilich nicht, aber das konntest du dir mit deinem Job gerade noch leisten. Im Winter war es arschkalt, im Sommer musstest du mindestens zweimal täglich duschen, dafür wurde in deine arme Bude nie eingebrochen.

Es ist das Jahr 2000. Jetzt beginnt die Schlacht in den Bussen und den Cafés, Leichenteile verzieren die Straßen, du bist erschüttert, es dauert Monate, aber irgendwann fühlst du dich ernüchtert, du bist kein Linker mehr.

Am stärksten erinnerst du dich an das Essen, denn zum ersten Mal schaute niemand nach, ob du dich gesund ernährst. Ein halbes Jahr bist du in dieser Wohnung geblieben und dabei fast täglich nur Junkfood gegessen. Es war ein kleines Paradies.

 

Kuk-Straße, Kiryat Motzkin

Irgendwann hast du genug von der Bruchbude, und da die alte Wohnung deiner längst verstorbenen Großmutter frei wird, ziehst du in diese sehr gemütliche, vierzimmerige Bleibe mit 50er-Scharm und einem alten Rundfunkgerät, an dem noch »Breslau« u. dgl. steht.

Das ist eine Zeit, die dir im Rückblick äußerst wichtig erscheint, denn damals bist du eines Tages auf die Idee gekommen, Deutsch zu lernen. Es hat dir so viel Spaß gemacht, dass du irgendwann den Job verlassen und nur noch das gemacht hast, mit einer Leidenschaft, die du heute wohl kaum noch aufbringen könntest.

Ein ganzes Jahr wohnst du bei der verstorbenen Oma mit dem alten Empfänger, davor konntest du kaum ein Wort auf Deutsch sagen, geschweige denn schreiben, aber danach studierst du schon Germanistik. Dazwischen kommst du auf die Idee, noch mal zu studieren, doch diesmal nicht das, was deine Mutter will, sondern das, was du willst, und zwar trotz unzähliger wohlgemeinter Ratschläge, die dich davon abraten.

Also bewirbst du dich an der einzigen Universität in Israel, an der man seinerzeit Germanistik studieren kann, und du musst eine Prüfung ablegen, damit deine Deutschkenntnisse eingestuft werden, und obwohl du noch erst vor einem Jahr kaum Ahnung hattest, wirst du als Muttersprachler eingestuft, was freilich nicht stimmt, aber dich trotzdem glücklich macht und in dem Entschluss bestärkt, nach Jerusalem zu ziehen. Eine neue, bis dahin ganz unvorstellbare Zukunft bahnt sich an.

 

Skopusberg, Jerusalem

Ein Erstsemester bist du, ziemlich orientierungslos. 2002 kennst du dich in Jerusalem kaum aus und entscheidest dich, erst mal auf Nummer Sicher zu gehen und im Studentenwohnheim auf dem Universitätsgelände ein Zimmer zu beziehen. Es explodieren nach wie vor Busse und Cafés, vor allem in Jerusalem tobt die Schlacht. Viele Menschen haben Angst vor der arabischen Barbarei, das kannst du auch verstehen, aber du denkst dir, dass der Umzug nach Jerusalem für einen Juden gerade jetzt das Richtige ist.

An der Universität bekommst du deine ersten Übersetzungsaufträge, zum ersten Mal verdienst du dein Geld mit einer Leidenschaft, ja, du wirst bezahlt, um mit der deutschen Sprache Liebe zu machen. Als dein erstes Buch erscheint, also das erste, was gänzlich von dir übersetzt wurde, ist dir so heiter, dass du mitten im Jerusalemer Winter dein Zimmerfenster aufmachst und danach wochenlang erkältet bist.

Das ist die Zeit, in der du dich erstmals tiefgründig mit dem Christentum auseinandersetzt. Es ist der Anfang einer spirituellen Affäre, die bis heute noch irgendwie anhält. Seitdem bist du der Meinung, dass Judentum und Christentum, zumindest das ursprüngliche Judenchristentum, sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen.

 

Rabbiner-Berlin-Straße, Jerusalem

Nachdem du dich in Jerusalem zurechtgefunden hast, ziehst du vom abgelegenen, akademisch angehauchten Skopusberg in die eigentliche Stadt. Nach der Auseinandersetzung mit dem Christentum entdeckst du dein Judentum erneut und knüpfst Kontakte zu deiner weitverzweigten chassidischen Verwandtschaft in Jerusalem. Du versuchst, ganz religiös zu leben, gibst es aber irgendwann wieder auf, weil du das Gefühl hast, dass deine jüdische Identität nicht auf die Befolgung von Gesetzen reduziert werden kann. Trotzdem bleibst du dem orthodoxen Judentum, bis zum heutigen Tage, wohlgesonnen.

Da du dich deiner weiteren Familie genähert hast, beginnst du dich jetzt intensiver denn je mit deinen Wurzeln auseinander zu setzen.

Da du nun in der Stadt lebst, kaufst du dir ein stark reduziertes Studentenabo für die Kinemathek, wo jeden Tag alte wie auch neue Filme gezeigt werden und du sie alle gucken kannst. Also gehst du fortan fast täglich die Hügel hinauf und wieder hinunter, ca. 30 Minuten Gehzeit durch wunderschöne Jerusalemer Straßen, bis du zu dem Tal an der Altstadt kommst, dessen Name seit biblischen Zeiten auf Hebräisch das Wort für Hölle bildet. Da steht das Haus der Kinemathek, öfter bleibst du da auch für einen zweiten oder dritten Film in Reihe. Das ist der Zusammenhang, dem deine Idee entspringt, die Magisterarbeit über Juden im Spielfilm der DDR zu schreiben.

Zwischendurch besuchst du auch Deutschland, aber nur für kurze Zeit, nämlich zwei Wochen in Tübingen. Es geht um »jüdisches Leben im heutigen Deutschland« und meistens besucht ihr Friedhöfe.

 

Molkereistraße, Wien-Leopoldstadt

Dein erster richtiger Aufenthalt in Deutschland, deinem Deutschland. Du hast ein Stipendium bekommen und verbringst 2006 einige Monate an der Universität Wien. Diese ersten tiefen Erfahrungen mit dem Deutschen werden dich prägen – bis heute hast du keine Stadt gesehen, die es mit Wien halten könnte.

Dabei war der Anfang gar nicht so leicht. Die Molkereistraße im 2. Bezirk liegt direkt am Prater, sodass allabendlich die Prostituierten da auf Ihre Kunden warten, wobei »warten« wohl das falsche Verbum ist, denn tatsächlich werben sie ziemlich direkt für ihre Künste. So etwas hast du noch nie gesehen, in Israel findet das nicht so direkt statt, freilich nicht mitten in der Stadt.

Als eine dich auf deinem Weg in die WG anpackt und »mitnehmen« möchte, bist du noch erschrocken, aber mit der Zeit gewöhnst du dich daran. Von ihrer Kundenfreundlichkeit hast du nie Gebrauch gemacht, nichtsdestoweniger wurde Wien aus ganz anderen Gründen zum Schauplatz deines allerersten Beischlafs mit einer Nichtjüdin, der sich im Rückblick als ein vielversprechender Anfang bekundet.

Wien ist auch der Ort, an dem die Öffentlichkeit, damals in Gestalt von arte, sich für dich zu interessieren beginnt. Dich überrascht es, die Anfrage zu bekommen, schließlich hast du keinerlei Erfahrung mit den Medien und kannst nicht ganz verstehen, was das soll. Aber weil sie dir eine nicht unbeachtliche Summe vorschlagen, stimmt du zu und verlängerst für die Aufnahmen sogar deinen Aufenthalt in Wien. Wenn du dir heute den Film anschaust, musst du über deinen Akzent lachen, an dem sich seitdem freilich nicht so viel geändert hat wie es dir lieb wäre.

 

Neue Schönhauser Straße, Berlin-Mitte

Von Wien verschlägt es dich, ganz der Entwicklung des Deutschen entsprechend, nach Berlin, wo du an der FU weiterstudieren willst. Du beziehst ein Zimmer direkt am Hackeschen Markt, noch zentraler geht’s nicht. Das ist perfekt für die ersten Wochen in der Stadt, denn mehr wird daraus nicht: Du bist Untermieter bei einer Familie, die das Geld braucht aber keine WG-Erfahrung hat, was sie dir vorher nicht gesagt haben und nun sinngemäß auch nicht so richtig funktioniert. Da du eine Freundin hast, und zwar deine allererste Blondine, musst du dir nach ca. zwei Monaten eine andere Bleibe suchen.

 

Ganghoferstraße, Berlin-Steglitz

Als Alternative bietet sich eine andere Familie an, die aber ganz genau weiß, worauf sie sich einlässt. Es ist eine jüdische Familie, der es ganz gut geht, aber an einem Israeli im Haus interessiert ist. Auch wenn sie dein Geld gar nicht brauchen, wohnst du da als Untermieter zu einer fairen Miete. Am wichtigsten ist aber, dass deine Freundin dich frei besuchen darf.

Als du vor dem ersten Treffen nach der Adresse suchst, findest du erst mal die Ganghoferstraße in Neukölln. Du erschreckst dich a bissl und rufst bei der Familie an, um nachzuhaken, und dabei lernst du zum ersten Mal, warum es so wichtig ist, nach »Berlin« noch den Stadtteil anzugeben, und was die deutsche Fixierung auf Postleitzahlen auf sich hat.

Diese Zeit in Steglitz ist ganz schön und, ja, kuschelig. Zwar wohnst du nicht mehr so zentral wie in der Neuen Schönhauser, dafür bist du binnen 15 Minuten an der FU. Dabei verliebst du dich in dieses kuschelige Leben der Bürgerlichen, das du dir eigentlich gar nicht leisten kannst.

 

Bergstraße, Heidelberg-Neuenheim

Dein erster Besuch in Heidelberg war wohl im Rahmen eines Ausflugs, als du etliche Jahre vorher in Tübingen warst. Dein zweiter Besuch in der Kurpfalz erfolgt im Frühjahr 2007, als die »Hochschule für jüdische Studien«, von der du vorher gar nicht gehört hast, dich zu einem Vortrag über das Bild des Juden im Spielfilm der DDR einlädt und netterweise für sämtliche Kosten aufkommt. Dabei wirst du vom Rektor auf das Rabbinatsstudiengang angesprochen, welches noch in Planung ist und für das die Hochschule nach Versuchskaninchen sucht, freilich ohne es so zu benennen.

Zugegebenermaßen hast du damals noch gar keine Ahnung davon, wie politisch das Jüdische in Deutschland ist. In deiner Vorstellung hat jüdische Theologie in Deutschland nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart und womöglich sogar Zukunft zu bedeuten, und weil die Hochschulleitung sich so zuvorkommend verhält und dir ein Stipendium geben will (das sich später als »Darlehen« entpuppen sollte), lässt du dich auf dieses Zweitstudium ein, obwohl du ursprünglich in Berlin promovieren wolltest.

So ziehst du im Oktobe Ender 2007 von Berlin-Steglitz nach Heidelberg-Neuenheim, nachdem du dich im Vorfeld um eine geeignete Bleibe gekümmert hast. Mit verschiedenen Alternativen konfrontiert, entscheidest du dich bewusst für das Evangelische Studentenheim, welches in den nächsten zwei Jahren dein Zuhause wird und wie kein anderer Ort dazu beiträgt, dass du dich tief und gründlich in die deutschen Intimitäten hineinbegibst. Währenddessen musst du leider feststellen, dass deine Träume von jüdischer Theologie in Deutschland einfach Fantasie sind, dass du wirklich ein Versuchskaninchen bist und, was alles noch viel schlimmer macht, dass Heidelberg nur eine scheußliche, engstirnige und selbstgefällige Kleinstadt ist, aus der du bei jeder Gelegenheit rauszukommen versuchst, obwohl die Hochschule dich vertraglich an sich kettet und du ihr mit jedem Monat, wo du nicht aussteigst, noch mehr Geld schuldest.

Deine Heidelberger Studienjahre waren bei weitem die schlimmste Zeit, die du je in Deutschland verbringen musstest. Trotzdem scheust du dich davor, deine leichtsinnige Entscheidung im Sommer 2007 rückblickend als Fehler zu bezeichnen, denn was ist das schon vor dem Hintergrund des ganzen Lebens, und man lernt ja aus allem. Das war auch die Zeit der großen Frage, nämlich was tun mit Deutschland, ob hier bleiben oder nicht, und zwei Jahre lang wirst du dich noch damit quälen, bis du endlich den Mut aufbringst, auszusteigen.

 

Adalbertstraße, Berlin-Mitte / Irgendwo in Berlin-Schöneberg

Dein erster Versuch, zu Heidelberg Alternativen zu finden, bringt dich 2008 wieder nach Berlin, in die sehr begehrte Adalbertstraße, allerdings an deren falsches Ende, hinter die ehemalige Mauer. Du nimmst an der Leo Baeck Summer University for Jewish Studies teil, was akademisch gesehen ein ziemlicher Blödsinn ist, aber du lernst ganz nette Leute kennen. Im Laufe der zwei Monate in Berlin merkst du, wie es dir schon beim Gedanken an die Rückkehr nach Heidelberg körperlich wehtut.

Im September musst du aber trotzdem nach Heidelberg zurück und kaum bist du da angekommen, findest du dir schon eine neue Bleibe in Berlin und fährst gleich am nächsten Tag wieder hin, um dort, diesmal aber in Schöneberg, die restliche Zeit bis zum Semesterbeginn zu verbringen.

 

Melchiorstraße, Berlin-Mitte

Nachdem du im Oktober 2008 wieder nach Heidelberg zurückgezogen bist, versinkst du in eine Depression. Wenn schon Heidelberg, denkst du dir, warum dann nicht endlich mit der Promotion beginnen, zumal das Zweitstudium an der Hochschule nicht besonders herausfordernd ist. Also bewirbst du dich an der Universität, wirst mit dem Thema »Deutschlandkonstruktionen« herzlich aufgenommen, musst nach einem Semester feststellen, dass dein freilich viel zu beschäftigter Professor dein Exposé kaum gelesen und freilich nicht verstanden hat.

Mittlerweile beginnst du an deiner nächsten Flucht aus Heidelberg zu denken, denn nur das hält dich zwischen Heiligenberg und Königstuhl noch irgendwie bei Sinnen. Du bekommst ein Stipendium, um das Sommersemester als Hospitant im Deutschen Bundestag zu verbringen, und nachdem du alles Nötige höchstpersönlich mit der Hochschulleitung geklärt (diese Gespräche in deiner Naivität aber leider nicht aufgenommen) hast, nimmst du den besten Zug in Deutschland, nämlich den ICE nach Berlin.

Gegen deine (vielleicht zu) hohen Erwartungen wiederholt sich das Spiel vom letzten Sommer: Ganz nette Leute kennen lernen, eine neue Liebesaffäre etc., aber das Programm, in dessen Rahmen du die meiste Zeit verbringst, ist eine große Enttäuschung. Immerhin weißt du jetzt, dass man im Deutschen Bundestag genauso gut Wasser mahlen kann wie in (wohl) jedem anderen Parlament und dass du nichts verpasst, wenn du dich da um keinen Job als wissenschaftlicher Mitarbeiter oder so etwas bewirbst.

Nach dieser dritten Zeit in Berlin akzeptierst du endlich, dass deine jüdische Theologie ein schönes Hobby sein mag, aber in Deutschland nicht gedeihen kann. Du reißt dich zusammen und findest den Mut, um die Hochschule zu verlassen, auch wenn damit eine finanzielle Schwierigkeit einhergeht. Trotzdem musst du im Oktober 2009 ein letztes Mal in die Kurpfalz, um dort alles aufzulösen und von deinen evangelischen Freunden Abschied zu nehmen.

Rein akademisch gesehen waren die Heidelberger Jahre interessant, viele, wenn auch nicht alle Dozenten, die du hattest, waren kompetent. Nun weißt du aber, dass das Jüdische in Deutschland vor allem mit Geld zusammenhängt, dass da, wo zu viel Geld hinfließt, auch Politik und Korruption zu finden sind (um nicht Kriminalität zu sagen) und dass du dich alledem fernhalten solltest.

 

Feurigstraße, Berlin-Schöneberg

Dein vierter und bislang letzter Umzug nach Berlin erfolgt 2009. Du mietest eine kleine, aber sehr nette Zweizimmerwohnung ganz für dich allein. Zum ersten Mal seit ca. 10 Jahren wohnst du nicht mehr in einer WG. Es ist eine Zeit der beruflichen Selbstfindung. Du machst weiterhin Übersetzungen, übernimmst einige Projekte im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, beginnst auch Touristen durch Berlin zu führen, aber irgendwie fehlt was. Sehr gelegen kommt es dir also, wenn du 2010 das Angebot bekommst, für eine (damals) große und wichtige israelische Tageszeitung als Deutschlandkorrespondent zu arbeiten. Immerhin hast du jetzt mehr Erfahrung mit Medien als früher.

Vier Jahre lang bleibst du in dieser Wohnung, die längste Zeit an einem Ort seit Beginn deines Erwachsenenlebens. Während dieser Zeit lernst du, dass es für dich keine einzige Spur gibt, sondern eher eine Mischung aus ganz verschiedenen Spuren, verschiedenen Wegen, die du am besten gleichzeitig beschreitest. Du gibst also die Suche nach dem einen Etwas auf, was du mit deinem Leben machen solltest, und findest dich damit zurecht, dass du mehrere Titel anführen musst.

In dieser Zeit bist du auch der Einen begegnet, der Frau, der du wie noch keiner anderen verfällst, mit der du seitdem dein Leben verbringst und nun auch verlobst bist.

 

Irgendwo in Berlin-Friedrichshain

Dein bislang letzter Umzug überhaupt. Ein gemeinsamer Umzug in eine Wohnung, die für euch beide groß genug ist und in die womöglich auch ein Kind noch reinpassen würde. Für diese Wohnung hast du all deine Ersparnisse aufgebraucht, denn es ist deine erste Eigentumswohnung, die du aber vor allem einem großzügigen Geschenk deiner Mutter zu verdanken hast.

Nun besitzt du also ein Stück Berlin, ein Stück Deutschland, und es ist, wie viele es von dir erwartet haben, tatsächlich ein anderes Gefühl. Nun scheint, zumindest einstweilen, die große Frage beantwortet, die Entscheidung getroffen zu sein – es ist eine Entscheidung für Deutschland, jedoch nicht für das Deutschland anderer, sondern für dein Deutschland.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

3 Kommentare

  1. Schöner Text, der sich in meinem Kopf gerade mit einem andern Text vermischt, den ich gerade lese. Wo geschrieben steht:

    O Gilgamesch, wohin (noch) willst du laufen?
    Das Leben, das du suchst, wirst nicht du finden!..
    Ergötze dich bei Tage und bei Nacht,
    Bereite täglich dir ein Freudenfest
    Mit Tanz und Spiel bei Tag und bei Nacht!

  2. Die Auster-Hörspiel-Vertonungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gerieten für meinen Geschmack – und ich weiß, ich spreche da auch für andere – leider reichlich uninspiriert und wurden dem Autor kaum gerecht. Vielleicht versuchen sich bald einmal jüngere Regisseure an den Büchern – es wäre dem Werk des Autors zu wünschen.

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