Gibt es ein »palästinensisches« Volk?

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Neulich ist in deutscher Übersetzung Shlomo Sands pseudowissenschaftliche »Erfindung des jüdisches Volkes« erschienen: Steckt hinter dem Titel mehr als Provokation?

Hie und da, vor allem unter Laien, schlägt Sands Letztes hohe Wellen, findet aber ansonsten kaum Beachtung, zumal Sand in seinem Buch hauptsächlich zusammenfasst, was lange vor ihm schon andere behauptet hatten. Dieser Zusammenfassung fügt er als Neues und Eigenes nur seine politischen Ansichten gegen die Vorstellung von einem jüdischen Nationalstaat hinzu. Und eben das, also das Politische am Text, ist letzten Endes das Eigentliche: Sands eigener Beitrag ist nur im Kontext des jüdisch-arabischen Konflikts von Bedeutung, was der Autor auch in seinen auf sein Buch bezogenen Kolumnen in der jüdischen Presse durchblicken lässt.

Über Sands Buch, das ich vor knapp zwei Jahren im Original gelesen habe, lassen sich im Internet inzwischen nicht wenige Rezensionen finden, z. B. hier (in englischer Sprache), darum möchte ich jetzt keine weitere, eigentlich überflüssige schreiben. Vielmehr will ich etwas unter die Lupe nehmen, was Sand trotz aller »kritischen« Ansätze erstaunlicherweise doch als gegeben und selbsterklärend hinnimmt, nämlich die Existenz eines »palästinensischen« Volkes. Ob die Substanz eines solchen Volkes mehr zu bieten hat als die des nach Sand doch inexistenten jüdischen Volkes?

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Geht man davon aus, dass Völker historisch entstehen, so tut es Not, über eine palästinensische Geschichte zu reflektieren. Allerdings gab es in der Menschengeschichte noch keine palästinensischen Herrscher, ob Könige oder andere; noch kein palästinensisches Herr; keine palästinensische Hauptstadt usw. usf. Tatsächlich gab es nie so etwas wie palästinensische Souveränität. Auch von palästinensischen Volksführern kann kaum die Rede sein: Zurückblickend und posthum lassen sich Hitlers Partner al-Husseini sowie den Erzterroristen Arafat als Volksführer betrachten, doch beide sind Personen des 20. Jahrhunderts, also noch sehr frisch.

Dafür gab es seit der Frühantike zahlreiche israelisch-jüdische Könige, biblische und nachbiblische, die auch außerbiblisch bzw. in nichtjüdischen Quellen belegt sind und deren Städte auch heute noch zu finden sind, allen voran natürlich Jerusalem (darüber brauche ich hier, einige Grundkenntnisse voraussetzend, hoffentlich nicht viel zu reden). Wie es in der Weltgeschichte nun mal so ist, konnten nicht alle Kriege gewonnen werden, doch immer wieder wurde die jüdische Souveränität neu erkämpft und wiederhergestellt – bis zur Unterwerfung durch das römische Weltreich, das letztendlich mit großer Mühe zwei jüdische Volksaufstände niederschlug und dafür im damaligen Israel den weltweit viertgrößten, außerhalb der Apenninenhalbinsel allergrößten Siegesbogen errichten ließ.

Womöglich lässt sich die Hypothese von einem »palästinensischen« Volk also in anderen Bereichen aufstellen. "It’s the economy, stupid!", haben wir bei Bill Clintons erster Wahlkampagne dazugelernt, also ist die Wirtschaft sehr wichtig. Das klingt auch sehr plausibel, schließlich muss ein Volk irgendwie Handel treiben. Doch während man bei archäologischen Ausgrabungen in Israel unvermeidlich auf jüdische Münzen mit althebräischen Beschriftungen stoßt, will die Erde keinerlei Zeugnisse von palästinensischen Münzen liefern. So etwas wie eine palästinensische Währung gab es einfach nie. Das muss man sich erst mal vorstellen!

Werden wir vielleicht in Sachen Recht fündig? Schließlich gehört es zur Existenz eines Volkes, dass man über ein eigenes Rechtskorpus verfügt, das in Fällen von Sachschäden, Körperverletzungen oder etwa Handelsstreitigkeiten, kurzum: in allen zivil- und strafrechtlichen Fragen zu einer Entscheidung verhilft. Man denke etwa an deutsche Begriffe wie den Sachsenspiegel oder das Reichsgesetzblatt, man denke auch an die jüdische Gesetzgebung, die vom heutigen Staat unaufhörlich bis in die Frühantike zurückreicht. Doch auch in diesem Punkt suchen wir vergebens: Ein spezifisch palästinensisches Rechtskorpus kann die Weltgeschichte leider nicht aufweisen.

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Spätestens an diesem Punkt wird man a bissl misstrauisch: Wie konnte ein Volk bestehen, ohne von sich jegliche Spuren hinterlassen zu haben? Diese Frage wird umso schwieriger, wenn man bedenkt, dass wir bei der Hypothese von einem »palästinensischen« Volk nicht mit einem längst verschwundenen Volk zu tun haben, sondern mit einem, das angeblich bis in die Gegenwart fortbesteht!

Was dürfen also die Eliten dieses Volkes gemacht haben? Womit werden sie sich in den langen Jahrhunderten vor unserer heutigen Zeit wohl befasst haben? Bei den Juden manifestieren sich seit der Antike, durch die Geschlechter hindurch, alle Aspekte einer eigenen Kultur: Von Recht und Philosophie über Dichtung und Belletristik (altertümlich, mitterlalterlich und neuzeitlich) bis hin zu Kunst oder etwa Erziehung und Pädagogik. Das jüdische Schaffen auf diesen Gebieten war – um mal von den bekannten qualitativen Aspekten abzusehen – auch quantitativ so reich, dass man bisweilen, je nach Zeit und Ort, auch von jüdischen Unterkulturen verschiedener Ausprägung sprechen kann.

All diese notwendigen Phänomene, die sich bei jedem Volk – ob dem französischen, dem deutschen, dem russischen usw. – manifestieren, lassen sich in der »palästinensischen« Geschichte nahezu völlig vermissen. Erst im 20. Jahrhundert entstanden einige Dichter und Denker, die man (wenn auch meistens mit einigem Zweifel) als Palästinenser bezeichnen könnte.

Angesichts dieses Befunds drängt sich eine weitere Frage auf:

Gab es bis zum 20. Jahrhundert überhaupt eine »palästinensische« Geschichte?

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Freilich dürfen wir – weder bei den Palästinensern noch bei anderen – mittelalterliche Zeugnisse für den modernen Geschichtsbegriff erwarten. Aber könnten wir heute eine palästinensische Geschichte des Mittelalters schreiben – gleichsam deutsche oder französische Geschichten des Mittelalters?

Wenn es auch schon vor dem 20. Jahrhundert so etwas wie palästinensische Geschichte gegeben hat, dann muss diese Geschichte nicht nur auf bestimmten Gebieten manifestiert, sondern auch irgendwie artikuliert worden sein. Doch der offensichtliche Mangel an Anzeichen von einer solchen Geschichte deutet auf etwas hin, was den meisten Menschen vielleicht erstaunlich erscheinen mag: Es gab und gibt keine palästinensische Hochsprache. Den sog. Palästinensern im jüdischen Cis- und dem haschemitischen Transjordanien ist lediglich ihr mündlicher Dialekt eigentümlich; die arabische Schriftsprache ist hingegen dieselbe wie in den Nachbarländern.

Das Fehlen einer eigenen Hochsprache erklärt auch, warum es in der gesamten Geschichte der Region noch nie zur Entstehung spezifisch palästinensischen Traditionen kam: Es gibt keine spezifisch palästinensischen Volksmärchen, keine spezifisch palästinensische Mythologie, auch keine spezifisch palästinensischen Sitten. Alles Ethnographische an den – etwa sunitisch-islamischen – Palästinensern gilt auch für andere (bspw. sunitisch-islamische) Araber der Levante, vornehmlich natürlich für die transjordanischen Palästinenser, die nunmehr im haschemitischen Königreich »Jordanien« leben und dort zudem die überwältigende Mehrheit bilden. Wenn die islamischen Palästinenser im Westjordanland ein »Volk« seien, dann eben nur, weil sie dem Volk angehören, das auch im haschemitisch beherrschten Teil Palästinas lebt.

Und apropos Traditionen: Interessanterweise gibt es auch keine spezifisch palästinensischen Festlieder, gleichsam die deutschen Weihnachtslieder oder die jüdischen Passahlieder. Auch das ist erstaunlich, denn normalerweise liegt das Religiöse den Menschen am Herzen, geschweige denn in nichtabendländischen Gesellschaften wie unter den Arabern.

Um den Vergleich sogar noch deutlicher zu zeichnen: Die Juden haben eine eigene Schrift und eine eigene Hochsprache, die sie seit der Antike in aller Herren Ländern neben den wechselnden Ortssprachen stets begleitet und sich mit ihnen von Generation zu Generation verwandelt und fortentwickelt – und seien angeblich kein Volk; die Palästinenser haben weder eine eigene Schrift noch eine eigene Hochsprache – und seien angeblich doch ein Volk. Die Juden verfügen seit der Antike über einen eigenen Kult bzw. eine eigene Religion, die auch im Zeitalter von erneuter Pluralität und neuem Atheismus zu ihrem weltweiten Zusammenhalt beiträgt – und seien angeblich kein Volk; die Palästinenser haben nichts dergleichen aufzuweisen – und seien angeblich doch ein Volk.

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Gibt es also ein »palästinensisches« Volk?

Das mag überraschen, aber meines Erachtens doch. Dass der jüdische Staat in Cisjordanien eine »palestinensische« Autonomiebehörde hat errichten lassen, ist ein deutliches Anzeichen hiervon. Allerdings ist ein palästinensisches Nationalbewusstsein ein noch recht junges Phänomen. Noch am 29.11.1947, als die UNO die Errichtung eines »jüdischen« Staates beschloss, kannte die Welt noch keine nichtjüdischen »Palästinenser«: Dieses Wort stand damals für die in Palästina lebenden Juden. Darum sollte neben dem »jüdischen« Staat keinen palästinensischen, sondern einen schlichtweg »arabischen« Staat errichtet werden – und wenn die Araber diese Chance ergriffen hätten, statt sich mit einer weiteren Judenvernichtung zu befassen, wäre auf beiden Seiten viel Blut nicht vergossen worden.

Am 28. Mai 1964 ließen die Ägypter eine »Palestinian Liberation Organization« errichten, die berühmte PLO. Damals lag Ramallah noch in haschemitischer Hand – die Haschemiten hatten keine Vorstellung von einem »palästinensischen« Staat, herrschten und herrschen sie doch selber in Palästina – und in Ostjerusalem gab es seit der Vertreibung 1949 zwar keinen einzigen Juden mehr, aber Tel-Aviv galt es natürlich noch auszulöschen. Auch wenn die arabische Bevölkerung im damaligen Kleinisrael noch nichts mit diesem neuen Palästinenserbegriff anfangen konnte, kann man wohl sagen, dass der Begriff, aus dem später ein Volk entstehen sollte, 1964 in seiner heutigen Bedeutung vorhanden war.

Die vorpolitische Brutphase des neuen Begriffs liegt also anscheinend zwischen 1947 und 1964. Das Kernereignis in dieser Zeit war der Krieg gegen die Juden und das arabische Scheitern. Wären die arabischen Angriffe erfolgreich gewesen und die Juden vernichtet worden, so wäre später wohl kein »palästinensisches« Nationalbewusstsein entstanden: Die Landbevölkerung und das Land selbst wären dann nicht teilweise, sondern zur Gänze zwischen Syrien, Ägypten und dem haschemitischen Königreich aufgeteilt worden. Die andauernde Auseinandersetzung gegen die Juden wird darum der Grund für die allmähliche Entstehung eines nichtjüdisch-palästinensischen Nationalbewusstseins gewesen sein,

Wir Heutigen erleben ein seltenes Phänomen: Die Entstehung eines neuen Volkes. Es wird noch dauern, ist aber unumkehrbar. Auf allen oben erwähnten Gebieten sind schon Anfänge einer eigenen Kultur festzustellen. Mit der Zeit werden die Palästinenser diese Anfänge sowohl qualitativ als auch quantitativ ausbauen. Ein ganz eigenständiges Volk werden sie wohl nie sein, denn so etwas ist in der arabischen Welt eine sehr seltene Ausnahme: Bis heute gibt es kein libanesisches, syrisches, jordanisches oder irakisches Volk. Aber der Kampf gegen die Juden im 20. und 21. Jahrhundert stattet die nichtjüdischen Palästinenser mit der notwendigen Gründungserfahrung aus, die ihnen zu einer eigenen Ausprägung verhelfen kann.

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Ein Schlusswort zum Thema Shlomo Sand: Freilich werden Völker nur vorgestellt, auf Englisch »imagined«. Alles, was das Menschliche ausmacht, von Liebe über Höflichkeit bis hin zu Menschenrechten, besteht lediglich aus Vorstellungen. Aber gerade deswegen sind Vorstellungen das Wichtigste, was wir als Menschen haben und woraus unsere Menschenwelt besteht, sofern man sich weigert, sie auf Atome und Moleküle reduzieren zu lassen (wobei selbst diese Begriffe eigentlich nur menschliche Vorstellungen sind). Um es mal auf Englisch zu formulieren: Communities are imagined, but not imaginary.

Dass solche Gemeinschaften wirklich bestehen und erst recht durch Vorstellungen entstehen, beweist der gegenwärtige Entstehungsprozess eines palästinensischen Volkes aus den ethnisch mannigfaltigen Nachkommen der unterschiedlichsten Volksgruppen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts als Arbeitsmigranten nach Israel/Palästina zuwanderten. Es ist ein Volk, dessen Existenz trotz aller Heterogenität – Schwarzen aus dem Sudan, Araber aus Nordsyrien – sogar Sand einleuchtet (ob einem palästinensischen Volk das transjordanische Palästina nicht ausreicht, ist eine ganz andere Frage).

Wer aber die Existenz des jüdischen Volkes, eines der ältesten und leistungsreichsten der Welt, zu leugnen sucht, während er im gleichen Atemzug die Existenz eines noch weitestgehend geschichtslosen »palästinensischen« Volkes beschwört, der macht sich einfach lächerlich – und scheut offenbar auch nicht davor, politische Texte als geschichtswissenschaftliche Werke zu veröffentlichen.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

2 Kommentare

  1. Mir fehlt in der Darstellung noch die Rolle der Lager.

    Ist nicht so etwas wie eine palästinensische Identität erst in den Lagern und in Abgrenzung zu den Staaten entstanden, auf deren Boden die Lager liegen, von denen die Lagerbewohner bis heute aber weitgehend ausgeschlossen sind?

  2. Ethnie

    Viele glauben ein Volk ist gleichzeitig eine Ethnie, eine häufige Begriffsverwirrung. Dahinter steckt der Wunsch etwas abstraktes messbar machen zu wollen.

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