Ethnischer Wandel in Israel: Eine Wintertagserinnerung

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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30 Grad, Tendenz steigend: derartige Verhältnisse sind in der Levante normal. Monatelang. Was im jüdischen Land um diese Jahreszeit am meisten produziert wird, ist weder Hi- noch Lowtech, weder Früchte noch Literatur, sondern kalte Luft. Überall nur kalte Luft: Ob in Taxis, Bussen, Nahverkehrszügen (für Fernverkehr ist das Land eh zu klein), sämtlichen Büroräumlichkeiten, Cafés, Museen: Alle wollen dem levantinischen Klima entkommen, sich von der Umgebung abschotten.

An einem solchen Augusttag fuhren meine Familie und ich noch ein letztes Mal dorthin, wo meine aus Nordbessarabien gebürtige Großmutter (s. in: "Meine Wurzeln") gewohnt hatte: Ein Vorort von Haifa, der in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Gartenstädtchen im internationalen Baustil konzipiert worden war.

Eine hölzerne Tür, daran ist ein Schild gefestigt, das in hebräischer und lateinischer Schrift besagt: Dr. med. A. Solomon. Seit mehr als dreißig Jahren kommt zwar kein Patient mehr ins Kabinett, aber manches ändert sich eben nicht. Das A steht für seinen hebräischen Namen Akiva (zu Dt. oft: Akiba), den ich als zweiten Namen ererbt habe, doch außer im behördlichen Gebrauch nannten ihn alle Meyer, wie er dort hieß, in der alten Heimat.
 
Diese Wohnung war das erste Obergeschoss eines Hauses, das in jenem Gartenstadtkonzept zunächst nur einstöckig gedacht war. Meine Eltern wohnten im zweiten Obergeschoss, in einer Wohnung, die sie sich nach meiner Geburt, als die alte Mietwohnung zu klein wurde, durch Ersparnisse bauen lassen konnten, die wiederum auf die Wiedergutmachungszahlungen zurückgingen.
 
Im Werdegang eines Hauses enthüllt sich ein kleines Stück Geschichte.

1938 wurde das Grundstück vom Jüdischen Nationalfonds an ein jüdisches Paar verpachtet, das fünf Minuten vor zwölf aus Wien geflohen war. Der Mann, Herr Reiner, war Zionist und konnte für sich und seine Gemahlin vorzeitig eines der berühmt-berüchtigten Zertifikate besorgen, jener spärlich erteilten Einwanderungserlaubnisse, die die britische Besatzungsmacht trotz des Völkerbundmandates zur Errichtung einer jüdischen Heimstätte einführte (notabene nur für Juden; Araber wanderten massenweise uneingeschränkt ein). Auf diesem Grundstück bauten sie ein kleines Haus. Richtige Straßen hatte die Siedlung noch kaum, war sie doch erst vier Jahre zuvor dem Sand entsprungen.
 
Ein Jahrzehnt später konnten auch meine aus Bessarabien über Zentralasien und dann wieder zurück und übers Meer – illegal, weil zertifikatslos – nach Palästina geflüchteten Großeltern väterlicherseits endlich ins Land, nachdem sie das britische Internierungslager auf Zypern hatten verlassen dürfen (wie gesagt, sind die Details in "Meine Wurzeln" nachzulesen). Begleitet wurden sie von ihrer Mutter – von der seinigen war keine Spur -, die das Kriegsende in Dachau erreicht und sie im bessarabischen Jedinitz wiedergefunden hatten, sowie von ihrem auf der Flucht geborenen Sohn, der inzwischen schon sechs Jahre alt war, aber noch nie so etwas wie ein Zuhause erlebte. Sonst verwandtschaftslos und all ihres einstigen Besitzes beraubt, blieben sie zu viert erst mal dort, wo ihr Schiff anlegte: im Downtown der Hafenstadt Haifa.
 
Als Meyer, fortan Akiva, seinen in der Zwischenkriegszeit erworbenen Doktortitel anerkannt bekam, verschlug es auch sie in den Vorort, wo er sich als Arzt niederließ. Einige Jahre später konnten sie ein Kredit aufnehmen und sich eine eigene Wohnung bauen. Das Wiener Paar, das inzwischen selber eine Familie zu ernähren hatte, teilte mit ihnen das Grundstück (oder eigentlich sein Pachtrecht darauf), und so bekam das einstöckige Haus ein Obergeschoss. Sand gab es immer noch hie und da, aber es reihten sich langsam schon Straßen an. Auch der Garten wurde aufgeteilt, und in ihrem Hinterhof pflanzten meine Großeltern einige Bäume. Hier fanden sie endlich Ruhe, hier sollten sie auch bleiben.

Zusammen mit ihnen, in derselben Wohnung, lebte auch meine Urgroßmutter, die im Laufe des Krieges ziemlich überall rumverschleppt wurde und, abgesehen von ihrer gen Osten geflohenen Tochter und deren Mann, als Einzige überlebte. Die Zeit verging, im Hof wuchsen die Bäume hoch und spendeten Schatten in den heißen Sommern, und man konnte inzwischen Reparationen beantragen, nicht für "alles", aber zumindest für die Jahre, in denen man sich in Arbeitslagern knapp zu Tode schuftete. Das war die "Rente", welche die Urgroßmutter von den Deutschen bis zu ihrem Tod Anfang der 1970er Jahre erhielt. Von diesen Beträgen konnte sie nicht wenig sparen, weil ihr Schwiegersohn bei der Gewerkschaftskrankenkasse arbeitete und die Existenzgrundlage somit einigermaßen gesichert war.
 
In den 1970ern starb indes der Schwiegersohn. An Magenkrebs. Auch seine Frau hatte vorher Krebs gehabt; sie überlebte ihn, konnte allerdings keine Kinder mehr gebären. Und so blieb mein Vater Einzelkind. Nachdem dieser in Jerusalem seine galizische Frau kennen gelernt und daselbst eine Familie gegründet hatte, zog er mit ihr in den Norden zurück, in die Nähe der Großmutter. Als ich mich der Familie anschloss und man sowieso auf eine größere Wohnung angewiesen war, fanden die einstigen Reparationen einen nachträglichen Zweck: Damit die Großmutter nicht alleine leben musste, bekam das Haus sein zweites und letztes Obergeschoss.
 
Einige Jahre verlief es ruhig im Haus. Doch bald darauf änderte sich wieder sein Schicksal: Etwas über ein Jahrzehnt nach dem Tod des Großvaters starb auch dessen Sohn. Blutkrebs. Die Großmutter, welche Hitler und Stalin, Eltern und Geschwister, Mann und Kind überlebte, wurde nun von einem gebrochenen Herzen überwältigt.

Inzwischen verschied auch Frau Reiner, die Wienerin, von der mir leider nicht mehr so viel in Erinnerung bleibt: Sie bewahrte sicherheitshalber einen Schlüssel zu unserer Wohnung auf, den sie in lateinischer Schrift mit "Joaw" markierte, was ich damals ziemlich komisch fand. Kurz vor ihrem Tode war da ihre jüngere Schwester zu Besuch. Sie reiste aus London an, wohin sie, als Frau Reiner nach Israel floh, mit einem der Kindertransporte noch gelangen konnte. Über die Eltern der beiden habe ich nie etwas gehört, dafür war ich wohl zu jung. Herr Reiner war zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem tot. So verwaisten binnen kurzer Zeit zwei Wohnungen im Haus.
 
Weil die Kinder der Reiners sich über das Erbe zerstritten, stand die Wohnung des verstorbenen Ehepaars nun ziemlich lange leer. Als es dann soweit war, wurde die Wohnung im Erdgeschoss an Juden aus dem islamischen Raum verkauft.
 
Die Wohnung des Meyer Solomon und seiner Frau Sofia, geb. Speyer (daher die hebräisierte Form "Sapir", aber das ist eine andere Geschichte), vermieteten wir an russische Juden, die seinerzeit das Land überschwemmten.
 
Ende der 1990er Jahre verließ auch unsere Kernfamilie das Haus und zog vom Vorort nach Haifa selbst. Dazu musste meine Mutter die Wohnung im dritten Obergeschoss verkaufen. Sie ging an eine Familie über, die wie die neuen Besitzer vom Erdgeschoss ebenfalls orientalischer Herkunft war.
 
Da wir uns nach wie vor um die Wohnung der erloschenen Familie Solomon zu kümmern hatten, waren wir immer wieder in der ehemaligen Gartenstadt, die sich weiterhin rasch änderte. Die alten Russen zogen in bessere Wohnungen und neue Russen kamen in der Großmutter alte Wohnung. Alle paar Jahre wechselten die Mieter, aber es waren immer Russen. So ging es weiter, bis meine Mutter sich zum Verkauf dieser letzten Affinität zum Haus entschloss.
 
Diese Wohnung hat im Frühjahr eine junge Familie erworben. Auch sie stammt aus dem islamischen Raum. Das Haus, das in seinem Höhepunkt von drei europäischen Generationen bewohnt war, hat nun von Grund auf seinen Charakter geändert.

Wie das Schicksal dieses Hauses, so auch jenes seiner Umgebung: Das europäische Gartenstädtchen ist zu einer Hochburg emporsteigender Islamjuden der zweiten und dritten Generation geworden. Und eine Gewerkschaftskrankenkasse gibt es inzwischen auch nicht mehr. Ein umfassender Wandel hat sich vollzogen, aber das bedeutet auch eine Entwicklung: Neben den kleinen Vergnügen, die mir als Kind zuteil wurden, gibt es jetzt dort einen richtigen Zoo, einen prächtigen Theatersaal usw. usf. Aus dem Städtchen wurde eine Stadt, während die ursprüngliche Bevölkerung entweder in horizontaler oder in vertikaler Richtung allmählich verschwand: teils an andere Orte, teils einfach ins Grab.

Ja, das Gartenstädtchen ist levantinisch geworden, doch immerhin kann jetzt keiner behaupten, wir Israelis würden uns nicht in die Nahost-Umgebung integrieren. Die orientalischen Juden haben sich zudem als Garant für den Fortbestand des jüdischen Volkes erwiesen, dessen Träume nach dem Holocaust mehr oder weniger dahin waren. Ohne die orientalischen Juden hätte Israel nicht verwirklicht, geschweige denn aufrechterhalten werden können. Und sie haben sich ihrerseits ebenfalls integriert, ja einigermaßen unsere Maßstäbe aufgenommen: Aus den Wänden unseres ehemaligen Hauses schossen als Erstes die Motoren von Klimaanlagen hervor.
 
An jenem heißen Augusttag fuhren wir also dorthin und schauten uns zum letzten Mal die Wohnung an, bevor sie komplett umgebaut wurde. Auch die hölzerne Tür wartete auf ihr Ende. Nun schlossen wir sie hinter uns. Gleichsam Zahnärzte – denn es bedurfte einer Zange – entfernten wir das Türschild, das bis zu jenem Tag durch sechs Jahrzehnte hindurch alle Wenden trotzig überlebte, und nahmen es mit. Eine Erinnerung an Herrn Dr. med. A. Solomon, ein letztes Relikt aus einer vergangenen Zeit.

 

 

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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