Die Herbstjuden

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Mittlerweile ging der Sommer zu Ende. Die Felder bräunten sich, tief hängende Wolken sanken vom Himmel herab und dehnten sich über den Feldern. Da sah ich plötzlich die Herbstjuden.

Die Herbstjuden waren einzigartige Juden. Einsam, in der Hand einen langen Koffer tragend, beschritten sie die Wege zu Fuß. Meistens waren die Herbstjuden groß. Man konnte sie am Baum gelehnt finden, am Brunnen stehend, manchmal auch am Dorfrand, wo sie saßen und vor sich hinschauten. Aus irgendwelchen Gründen hatten die Kinder Angst vor ihnen. Die Erwachsenen pflegten sie wegzutreiben, wie man es mit einem fremden Pferd tut.

Diese Erinnerung gehört Katharina, die nach dem großen Judenverschwinden in ihr ruthenisches Geburtsdorf zurückkehrt. Dort blickt sie auf ihr langes Leben im Vielvölkerländchen der Bukowina zurück, das im ausgehenden 19. Jahrhundert begonnen und sich bald neben, bei und mit den Juden, schließlich jedoch ohne sie abgespielt hat.

Und Katharina wiederum gehört dem hebräischen Schriftsteller Aharon Appelfeld, über dessen gleichnamige Novelle ich in unserer Familienbibliothek gestolpert bin: Ein schmales, unscheinbares Exemplar der ersten Ausgabe aus dem Jahre 1989. Appelfeld selbst stammt tatsächlich aus der ehemaligen Bukowina (und somit übrigens unweit vom ebenfalls untergangenen Nordbessarabien, dem mein Vater entstammte). In seinen Erzählungen lässt er des Öfteren nichtjüdische Frauen eine wichtige Rolle spielen, was ich ziemlich gut nachvollziehen kann, wenn auch nicht unbedingt aus zutreffenden Gründen.

Die Herbstjuden-Passage habe ich hier übersetzt, weil sie mich nach wie vor unheimlich, ja krankhaft anmutet – und gerade deswegen fasziniert zugleich diese dem Gehirn eines jüdischen Autors entsprungene Vorstellung: Die Juden als Naturphänomen, gleichsam eine gesetzmäßige Erscheinung, die mit den Jahreszeiten, den historischen Gezeiten, kommt – und wieder geht.

 

 

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

4 Kommentare

  1. Verständnisfrage

    Ein sehr schön geschriebener Text.
    Aber was heisst: “In seinen Erzählungen lässt er des Öfteren nichtjüdische Frauen eine wichtige Rolle spielen, was ich ziemlich gut nachvollziehen kann, wenn auch nicht unbedingt aus zutreffenden Gründen.”
    Welche Gründe sind zutreffend/unzutreffend?

  2. @ Christine

    Naja, “zutreffend” sind die Gründe, die Appelfeld tatsächlich zu diesem Motiv oder Technik (je nachdem, wie man das nichtjüdisch-weibliche Element in manchen Werken interpretieren möchte) bewogen haben; “unzutreffend” hingegen alle anderen Gründe, die man sich einfallen lassen kann, ohne dass sie mit Appelfeld wirklich etwas zu tun hätten.

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